Geschiehts- Lehrmittel für Sekundärschulen Stadtschule Zürich. •»*<• ‘ Schulhaus. Kontroll-No». No. Schüler j Lehrer Datum 1 d. Empfangsjd. Rückgabej | 1. 2. 3. 4. Auszug aus der Verordnung über die Verabreichung der Lehrmittel etc. vorn 24. Oktober 1912. Art. 2. Die Lehrmittel, sowie die Hülfsmittel zum Zeichnen (Reißzeug, Reißbrett, Reißschiene, Winkel, Winkelmesser, Zirkel, Maßstab, Pinsel, Bleistifthalter, Tuschschalen, Zeichnungsmappen) sind Eigentum der Schule. Art. 3. Jeder austretende Schüler hat die erhaltenen Lehrmittel dem Klassenlehrer zuhanden des Materialverwalters zurückzugeben. Art. 4. Die Schüler sind verpflichtet, die ihnen zum Gebrauche überlassenen Bücher und Materialien mit Sorgfalt zu behandeln. a) Jedes Buch ist mit einer Schutzdecke, das Reißzeug mit einem weichen Tuchumschlag zu versehen. b) Es darf vorn Schüler nichts in oder auf das Lehrmittel geschrieben, gezeichnet oder gemalt werden; ebenso ist das Aufkleben von Bildern, das Einlegen von Pflanzenblättern etc. untersagt. c) Beim Gebrauche der Bücher ist darauf zu achten, daß keine Schmutz- und Tintenflecken in denselben entstehen und daß sich die Ecken der Blätter nicht umlegen, d. h. sich nicht sogenannte „Ohren“ bilden. d) Auf dem Schulwege sind die Lehrmittel in der Schultasche (Tornister) oder sonst unter geeigneter Decke zu tragen. Art- 5. Hat ein Schüler ein Lehrmittel aus Absicht oder Fahr- läßigkeit so beschädigt, daß es außer Gebrauch gesetzt oder repariert werden muß, so haben die Eltern, beziehungsweise Besorger, den Inventarwert oder die Reparaturkosten zu vergüten. Die Zentralschulpflege. Geschichtslehrmittcl für Sekundärschulen Erster Teil Leitfaden Im Auftrage der Sekundarlehrerkonferenz des Kantons Zürich bearbeitet von Robert Wirz, :: in Verbindung mit :: Dr. H. Gubler, J. Stelzer und H. Sulzer Vorn h. Erziehungsrat empfohlen Zweite Auflage Buchdruckerei Töß: J. Gremminger & Co. :: 1913 Verlag und Herausgeber: Zürcher. Kant. Sekundarlehrer-Konferenz Winterthur Vorwort. Das vorliegende Lehrmittel fußt auf dem Lehrplane der zür- cherischen Volksschule vorn Jahre 1905. Derselbe vertritt die moderne Auffassung des Geschichtsunterrichtes: „Das Hauptgewicht ist auf die kulturellen Verhältnisse zu legen, während die kriegerischen Ereignisse nur soweit in Betracht kommen, als sie für das Verständnis der politischen und kulturellen Entwicklung von Bedeutung sind. a Das Lehrmittel zerfällt in einen streng historischen Leitfaden und einen mehr freien, illustrierenden Leseteil. Für den Leitfaden waren folgende Grundsätze maßgebend: 1. Auf unserer Schulstufe kann nur ein beschränktes Maß Stoff in Frage kommen. In erster Linie sollen unser eigenes Land und die Nachbarländer Deutschland und Frankreich, die mit ihm in reicher Wechselbeziehung stehen, berücksichtigt werden. 2. Ein Übermaß von Tatsachen, Namen und Zahlen, die das kindliche Gedächtnis überlasten und verwirren, soll vermieden werden. Diese Beschränkungen in 1 und 2 ermöglichen eine breite, epische und darum interessantere Darstellung. 3. Da unser Land sich nicht als abgeschlossenes Einzelwesen, sondern als Glied der westeuropäischen Völkergemeinschaft entwickelt hat, sind Allgemeine und Schweizergeschichte in Verbindung zu bringen. 4. Ein geschichtlicher Entwicklungsgang soll hn Zusammenhang und abschließend behandelt werden. Dadurch wird die störende Unterbrechung der Handlung vermieden. 5. An die Stelle der Geschichtsbilder in der untern Volksschule soll auf unserer Stufe pragmatische Geschichte treten, die auf Ursache und Wirkung basiert. In der Erfassung der Zusammenhänge liegt ein Hauptwert des Geschichtsunterrichtes. 6. Die neuere politische Geschichte unseres Landes ist arm an äußerer Handlung; auf wirtschaftlichem Gebiete dagegen erfolgten die einschneidendsten Änderungen und Neuerungen, die der Gegenwart geradezu den Stempel aufgedrückt haben. An diesen Erscheinungen darf ein modernes Geschichtsbuch nicht achtlos vorbeigehen. Es ist also darnach zu trachten, die wirtschaftliche Entwicklung objektiv darzustellen. — „Das Zeitalter der Maschine“ ist unseres Wissens der erste Versuch, diese Aufgabe zu lösen. — Das Buch verzichtet bewußt auf die Beifügung von Karten; die Kartenbilder sind gewöhnlich zu klein und darum von geringem Werte. Wir möchten den Lehrer geradezu zwingen, die ausgezeich- IV neten, neuen Geschichtswandkarten zu verwenden. Wir können uns einen ersprießlichen Unterricht ohne solche gar nicht vorstellen. Der Lehrer mache sich zur Pflicht, sukzessive folgende Karten anzuschaffen: Öchsli & Baldamus „Schweizergeschichte“; Schwabe: „Die griechische Welt“, „Das römische Reich“, „Zeitalter der Entdeckungen“; Baldamus: „Völkerwanderung“, „Zur Geschichte des Frankenreiches a , „Deutschland und Oberitalien zur Zeit Napoleons!.“, „Deutschland und Österreich seit 1815“; Schlag: „Deutschland anno 1648“. Der Stoff der ersten Klasse fügt sich nach Lehrplan an denjenigen der Primärschule. Für Repetitions- und Vertiefungszwecke ist dieser nochmals behandelt, doch nur soweit, als es gilt, die Lücken auszufüllen und die einzelnen Partien nach Ursache und Wirkung in Zusammenhang zu bringen. Der schon bekannte Stoff ist den einzelnen Kapiteln in Form von Merkwörtern vorgedruckt und soll durch das Mittel der Frage reproduziert werden. Für Einklassenschulen empfehlen wir, die im Lehrplan geforderte Repetition in der Hauptsache auf F VI zu beschränken, das übrige aber der 3. Klasse zu überlassen. Um das Interesse des Schülers zu befriedigen, wird am besten möglichst bald mit dem neuen Kapitel G eingesetzt; natürlich soll zur Verknüpfung immer wieder auf das Bekannte zurückgegriffen werden. Der Gliederung des Stoffes wurde die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Die Zusammenstellung der Titel am Anfang des Buches soll zur Stoffwiederholung dienen. Nach Behandlung eines Hauptkapitels und der sofort angeschlossenen Repetition soll dieses Gerippe in der Schule fest eingeprägt werden. Wir haben oft unsere Meister der Geschichtschreibung, Dr. Öchsli und Dr. Dändliker benützt. Es handelte sich für uns weniger um neue Gesichtspunkte und Formen, als um zweckdienliche Auswahl und methodische Verarbeitung. Zum Schlüsse danken wir den Kollegen, die uns mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben; ein spezielles Dankeswort sei Herrn Pros. Dr. Häne vorn Gymnasium in Zürich gewidmet, der iin Auftrage des Erziehungsrates die Begutachtung des Leitfaden- Entwurfs besorgte und uns wertvolle Winke und Anregungen gab. Wintertliur, im Februar 1912. Robert Wirz. Ubersichts- und RepetitionstafeL Seite Seite A. Die Griechen. B. Die Römer. i. Land und Volk. 1. Das Land 2. Das Volk 3. Die Kolonisation II. Die Religion. 1. Die Götter 2. Die Heroen 3. Ilias und Odyssee 4. Das Orakel zu Delphi 5. Die Nationalfeste III. Bildung führender Staaten 1. Sparta Die Stände Die Leitung des Staates Die Erziehung des Volkes 2. Athen Königtum. Adelsherrschaft Die Solonische Verfassung Die Erziehung des Volkes Die Tyrannis IV. Die Freiheitskriege . . . 1. Der tonische Aufstand 2. Die Schlacht bei Marathon (490 v. Chr.) Themistokles 3. Der Zug des Xerxes (480 79) Der persische Aufmarsch Thermopvlä Salamis und Platää 4. Der Athenische Seebund V. Das Perikleische Zeitalter. 10 Perildes (bis zirka 430) Ökonomische Blüte Blüte der Baukunst Blüte der Dichtkunst Blüte der Wissenschaft VI. Der Untergang Griechenlands. Alexander d. Große. 12 1. Bürgerkrieg und Niedergang 2. Philipp von Makedonien 3. .Alexander der Große Die Eroberung des Perserreiches DerFeldzug n. Indien. 327 /26 Alexanders Ende. 323 4. Der Hellenismus 1 I. Rom in eins. Verhältnissen 15 1. Die Stände 2. Das Königtum 3. Die Eingliederung d. Plebejer I 4. Die Adelsherrschaft 2 ü. Die Plebejer erkämpfen die Gleichberechtigung. I >ie Notlage der Plebejer Die plebej. Schutzbeamten Die Verschmelz. der Stände zirka 300 g i II. Rom erobert Italien bis 2ßö 18 Die Bundesgenossen III. Rom wird Weltmacht . . 19 1. D ie Panischen Kriege 264-140 Karthago Zusammenstoß auf Sizilien Hannibals Angriff auf Rom Karthagos Fall. 146 2. Die Eroberung des Ostens 3. Die römischen Provinzen 7 IV. Der Verfall der Republik . 21 1. Die Vernichtung des römischen Bauers Die vvirtschaftl. Änderung Der römische Bettelbürger 2. Der neue Adel (die Nobilität) 3 Der sittliche Verfall V. Die Zeiten d. Bürgerkriege. Übergang zur Alleinherrsch. 23 1. Die Reform versuche d. Gracchen. 133—121 Tiberius Gracchus Gajus Gracchus 2. Die Zerrüttung des Reiches 3. Gajus Julius Cäsar wird Alleinherrscher. 45 v Chr. Der Dreimännerbund Cäsar in Gallien Cäsar und Pompejus VI. Rom unter den Kaisern 26 1. Cäsars Monarchie Cäsars Regierung Cäsars Tod 2. Die endgült. Einrichtung des Kaiserreiches. Cäsar Octa- vianus Augustus (31 v. Chr.) Die Nachfolger. VI VII. Kulturzustände unter dem Kaiserreiche .28 1. Das Kriegswesen 2. Die Baukunst Das vornehme röm. Haus 3. Die Religion Das Heidentum Das Christentum 4. Die Spiele Zirkus Theater Gladiatoren Thermen 5. Die Sklaven 6. Rom und die Provinzen VI». Verfall und Untergang des Reiches 35 1. Die Militärdespotie (nach 180 n. Chr.) 2. Der Verfall der Kultur 3. Der Untergang d. Reiches 476 C. Die Germanen. I. Die Völkerwanderung ... 37 1. Das germanische Volk Land und Leute Staat und Stände Lebensweise Religion 2. Die Wanderung Germanen und Römer Gewinnd.röm.Grenzgebiete Der Hunnensturm za. 400 bis 450 3. Die Gründung germ. Reiche Die Burgunder Die Alemannen Die Langobarden II. Das Fränkische Reich . . 42 1 Die Merovinger 2. Die Karolinger Karl der Große, zirka 800 Verwaltung des Reiches Gerichtswesen Erneuerung d. Kaiserreichs 3. Die Umgestaltung d. sozialen Verhältnisse Die Stärkung der königlichen Gewalt Die Bildung des Großgrundbesitzes Der Untergang des freien Bauers Das Lehens wesen 4. Teilung u. Verfall d. Reiches 5. Entstehg. selbständ. Fürsten Seite III. Das Deutsche Kaiserreich . 4& 1. Deutschland wird ein Wahlreich 2. Die Erneuerung des Kaiserreiches 3. Blüte des Reiches um 1050 D. Das Papsttum. I. Die Entwicklung der christlichen Kirche.47 1. Ausbreitung d. Christentums 2. Die Kirche Die Urchristengemeinde Die Entstehung d. Priesterstandes 3. Der röm. Bischof als Papst 4. Das Mönchtum Ursprung Benedikt Nursia, um 500 5. Folgen des Christentums II. Der Kampf zwischen Papst und Kaiser.49 1. Papst und Kaiser 2 Die Entartung der Kirche 3. Die Reformen Gregors VII. Die Ziele Gregors Die päpstliche Macht 4. Heinrich IV. zu Kanossa 5. Der Papst und die Staufer Friedrich I. (Barbarossa) Friedrich II Das Ende der Staufer 6. Das Interregnum (zirka 1250 bis 1270) III. Die Kreuzzüge (105)6-1270) 53 1. Der Islam Mohammed Seine Lehre Ausbreitung 2. Der Kampf um Jerusalem Ursachen Die Völkerwanderg. n. Osten 3. Folgen der Kreuzzüge IV. Der Verfall der Kirche . . 55 1. Der Sturz der päpstlichen Weltherrschaft 2. Die Verderbnis der Kirche 3. Der äußerliche Gottesdienst E. Ritter, Bürger und Bauer. I. Das Rittertum.57 II. Die Städte.58 1. Die Entstehung unser. Städte 2. Das Aussehen der Städte VII Seite 3. Der Handel Aufkommen der Geldwirt- scliaft Die Handelswege Die Messen 4. Das Handwerk Entstehung der Zünfte Kampf m. d. Geschlechtern Die Meister Die Gesellen 5. Die Reichsstädte 6. Die Städtebünde 7. Städtische Bildung Die ersten Stadtschulen Die Hochschulen Die Meistersinger 111. Die Bauern.66 1. Abhängigkeitsverhältnisse Die Landeshoheit Die Grundherrschaft Die Leibeigenschaft Leistungen an die Kirche 2. Zersplitterung der Herrschaftsrechte 3. Die Allmende 4. Die Dorfgemeinde 5. Lebensweise Die Häuser Gerätschaften Speise und Trank Kleidung Gewerbe und Industrie Geselliges Leben F. Entstehung und Ausbildung der Schweiz. Eidgenossenschaft. Vorgeschichte.69 1. Urzeit 2. Helvetisch-römische Zeit 3. Burgunder und Alemannen 4. Fränkische Zeit 5. Beim deutschen Reich 6. Zerfall des Reiches 1250—73 I. Die Geburtsstätte d. Schweizerfreiheit .71 1. Land und Leute Uri Schwyz Unterwaiden 2. Die habsburgische Gefahr 3. Wirtschaftliche Verhältnisse II. Der Bund d. drei Waldstätte 73 1. Uri wird reichsfrei 1231 2. Der Freiheitsbrief der Schwyzer 1240 Seite 3. Die ältesten Bünde zirka 1245 und zirka 1260 4. Der ewige Bund von 1291 König Rudolf v. Habsburg Der Bund Ausbau der Freiheiten 5. Die Schlacht am Morgarten 1315 III. Die Erweiterung zur 8ör- tlgen Eidgenossenschaft Erstes Aufstreben .... 76 1. Beitritt von Luzern 1332, Zürich 1351, Glarus u. Zug 1352 und Bern 1353 2. Der Sempacherkrieg 1386 bis 1388 3. Der Appenzellersturm 1403, 1405 4 Die Eroberung des Aargaus 1415 IV. Die Krisis des Alten Zürich- krieges (1436— 50) .... 79 V. Das Aufsteigen z. Machthöhe 79 1. Die Gewinnung d. Rheinlinie 2. Die Burgunderkriege 1474-77 Folgen u. innere Gärung 3. Die Trennung v. Reiche 1499 Die Eidgenossen und das Deutsche Reich Der Schwabenkrieg 1499 4. Die Großmachtpolitik Erstes Vordringen über die Alpen Einmischung in die italienische Politik VI. Innere Zustände der Eidgenossenschaft .83 1. Zusammensetzung Vollberechtigte Orte Zugewandte Orte Gemeine Herrschaften 2. Regierungsweise Landsgemeindekantone Städtekantone Verwaltung d. Untertanengebiete Ungleiche Rechte 3. Die Tagsatzung Pfaffenbrief Sempacherbrief Stanserverkommnis 4. Das Kriegswesen Allgemeine Wehrpflicht Bewaffnung Zusammensetze, d. Heeres 5. Reislaufen und Pensionen Seite Q. Die Vorboten der neuen Zeit. I. Die Entdeckungen .... 87 1. Die Entdeckung d. Seeweges nach Indien Der Zwischenhandel Die Erforschung der Westküste Afrikas Vasco da Gama in Kalikut 1498 2. Die Entdeckung Amerikas 1492 Christof Kolumbus Die erste Reise 1492 Die weiteren Fahrten Kortes erobert Mexiko 1519—21 Pizzaro in Peru 1531 Die erste Weltumseglung 1519—22 3. Folgen der Entdeckungen Der Welthandel Der Austausch d. Produkte Die Bereicherung der Wissenschaft Die Kolonien Der Negerhandel II. Die Erfindung der Buchdruckerkunst (um 1450) . . 92 Johannes Gutenberg Folgen III. Die Wiedergeburt des Altertums .93 Blüte Italiens Der Humanismus Streit mit der Kirche Blüted. Kunst(Renaissance) H. Die Reformation. I. Die Reformation in Zürich 95 1. Religiöse und sittliche Zustände in Zürich Kirchliche Verhältnisse Die Geistlichkeit. Verhältnis zum Papste Der Rat als Beaufsichtiger der Kirche Sittenverderbnis 2. Ulrich Zwingli wird nach Zürich berufen, 1518 Zwinglis Jugend In Glarus 1506—16 In Einsiedeln 1516—18 3. Zwingli als Reformator Gegen das Reislaufen Gegen die alte Kirche Seite Die Disputationen 1523 Die Änderungen Zwinglis Person 4. Die Wiedertäufer- u. Bauernunruhen Die Wiedertäufer Die Bauern Die Plünderung des Klosters Rüti DieBauernversamml. zuTöß Das Ende d. Täuferbewegung 5. Die Ausbreit. d. Reformation Bedrohung Zürichs durch die V Orte Der Ittingersturm. 1524 Der Durchbruch der Reformation 6. Der 1. Kappelerkrieg 1529 7. Der 2. Kappelerkrieg 1531 Zwinglis Pläne Widerstände in Zürich Die Niederlage bei Kappel 8. Stillstand der Zürcher. Reformation Der Kappelerfriede u seine Folgen. 9. Zürich nach dem Kappelerkr. II. Die Reformation in Deutschland.106 Martin Luther Die Bibelübersetzung Luther und Zwingli III. Die Reformation in der Westschweiz.107 Wilhelm Farel Johannes Kalvin Die kalvinische Kirche J. Gegenreformation und Religionskriege. Ausbildung der unumschränkten Herrschaft. I. Die Wiedererstarkung der katholischen Kirche.... 109 1. Die Gründung neuer Orden Die Kapuziner Die Jesuiten 2. Das Inquisitionsgericht 3. Das Konzil von Trient 1563 II. Die Hugenottenkriege und die Einführung der unumschränkten Königsgewalt in Frankreich.112 1. Die Reform, in Frankreich 2. Die Hugenottenkriege 1562-98 3. Heinrich von Bourbon IX Das Edikt von Nantes 1598 Seine Regierung Seine Pläne 4. Das Königtum wird unumschränkt 5. Die Vernichtung der Relor- mierten Resultat: Das Gottesgna- dentum III. Der Zerfall des Deutschen Reiches im zojähr. Krieg . 115 1. Das Deutsche Reich 2. Folgen d. deutschen Reform. Ausbreitung der Reform. Der Augsburger Religionsfriede 1555 Die Zusammenschlüsse 3. Der 30js.hr. Krieg 1618—48 Der böhmische Aufstand Die Verwüstung der Pfalz Der dänische Krieg Wallenstein Gustav Adolf Ursachen d. Eingreifens Sein Empfang Seine Siege Gust. Ad.u Wallenst. 1632 Die Ermordung Wallensteins Die Franzosen u. Schweden als Eroberer Der westfälische Friede 1648 Folgen 4. Die Ausbildung der unumschränkten Herrschaft Beseitigung d. Landstände Neue Steuern IV. Die Spaltung der Schweiz in eine katholische u. eine reform. Eidgenossenschaft 121 1. DieAustreib.d. Locarnerl555 2. Erzbischof Karl Borromäus 3. Der Borromäische Bund 1586 4. Die TrennungAppenzells 1597 5. Der 1. Villmergerkrieg 1656 6 Der 2. Villmergerkrieg 1712 Der Toggenburgerstreit Kriegserfolge der Reformierten Hütten und Villmergen Übergewicht der Reform. 7. Der Trücklibund 1715 V. Die Aristokratien (Familien- herrschaften) 1. d. Schweiz 125 1. DieEntstehungd.Aristokratie Herren und Untertanen Die Abschließung d. Bürger Seite Das Aufkommen der Geschlechter Die Patriziate Die unumschränkte Regierungsweise 2. Der Bauernkrieg von 1653 Ursachen Der Aufstand im Entlebuch Der Bauernbund Die Entscheidung Die Rache 3. Die Entartung d. Herrentums Kleiderpracht u. Titelsucht Hochfahrendes Wesen Mandatunwesen V erfolgungssucht Zurücksetzg. d. Landschaft Mißstände in den Gemeinen Herrschaften Lichtseiten 4. Die Schweiz unter dem Einflüsse Frankreichs K. Der Sturz der alten Staatsform. I. Die alte Ordnung .... 132 j 1. Der König | 2. Die bevorrechteten Stände Der „1. Stand“, die Geistlichkeit Der „2 Stand“, der Adel 3. Der 3. Stand: Das Volk Die Städte Die städt. Aristokratie Der Zunftzwang Armut Die Bauern Die Steuerlast Indirekte Steuern Der Frondienst Landbau. Jagd Not und Elend Bettler u. Landstreicher * II. Die Aufklärung und ihre Folgen.140 1. Rousseau und Voltaire. 1750 2. Der aufgeklärte Despotismus Friedrich II Joseph II 3. Der nordamek.Freiheitskrieg Die Erklärung d. Menschenrechte Die Neu-Englandstaaten Die wirtschaftl Abhängigkeit Der Steuerstreit Die Losreißung. 1783 X tll. DieFranzösischeRevolution 144 1. Die französischen Herrscher Ludwig XV Ludwig XVI 2. Die beginnende Gesetzlosigkeit 3. Die Berufung d. Reichsstände 1789 4. Der 3. Stand als Nationalversammlung 5. Der Bastillesturm 14. VI 1789 6. Der Bauernaufstand 7. Das neue Frankreich Abschaffung der Vorrechte Die Neuerungen Die Einziehung d. Kirchen- güter Das Verbrüderungsfest 14. VI. 1790 8. Der Sturz des Königtums Die Parteien Die Überführung d. Königs nach Paris Die Flucht des Königs Der Tuileriensturm 10.VIII.92 Die Septembermorde 9 Die ersten Zeiten d Republik Der Tod des Königs Die Gesetzgebung Die Schreckensherrschaft Die Notlage Das Ende des Schreckens 10. Die Bedeutung d. Revolution IV. Die junge Republik i. Kampfe mit dem alten Europa . . 152 1 Das neue französische Heer 2. Der Feldzug in Italien. 1796/97 3. Der Feldzug n. Ägypten. 1799 4. Die 1. Schlacht bei Zürich 4. VI. 1799 5. Die 2. Schlacht bei Zürich 25. IX 1799 6. Suworoffs Alpenzug V. Kaiser Napoleon 1.156 1. Der Übergang z. Monarchie 2. Napoleon als Eroberer Die III. Koalition. 1805 Der Rheinbund. 1806 Die Niederwarf. Preußens 1806/07 Portugal und Spanien 3. Die Vasallenstaaten 4. Die Kontinentalsperre Der Niedergang 5. Der spanische Aufstand 6. Neuer Krieg gegen Österreich «1809 Seite 7. Der russische Feldzug 1812 Der Fall Napoleons 8. Die Schlacht b Leipzig. 1813 9 Herrschaft der 100 Tage. 1815 Zusammenfassung VI. Die Schweiz als Vasallenstaat Frankreichs 1798-1813 161 1. Einflüsse der Franz. Revolution Die Schweizersöldner Die Emigranten Der Schweizerklub Die Verluste d Grenzgebiete Genf Bistum Basel Grenzbesetzung Der StäfnerhandeT 1795 Cäsar Laharpe u.Peter Ochs 2. Der Untergang d. Alten Eidgenossenschaft 1798 Die Eroberung der Waadt Der allg. Zusammenbrach Der Fall Berns 1798 General Brune Verwirrung in Bern Neuenegg u. Grauholz Die Plünderung 3. Der Einheitsstaat. 1798—1803 Die eine und unteilbare helvetische Republik Umfang Einteilung Behörden Volksrechte Hauptort Nationalfarben Der Widerst, d. Urkantone Ursachen Der Kampf Die Schreckenstage in Nid- walden Not und Elend Rengger und 8tapfer 4. DieVermittlung zwischen dem Alten und dem Neuen Der Sturz der Helvetik Die V ermittlungsaktel803-13 Bundesverhältnisse Kantonale Verhältnisse Friedenswerke Abhängigkeit v. Frankreich Rückblick L. Die Restauration (Wiederherstellung) 171 1. Die Wiederherstellung des alten Europa XI 2. Die Rückkehr zum Alten (Reaktion) 3. Die Schweiz unter dem Bun- desvertrage von 1815 M. Neue Kämpfe um die Volksherrschaft I. Die Julirevolution 1830 . . 175 II. Die liberale Bewegung in der Schweiz.175 1. Der Ustertag 1830 2. Die Umgestaltung des Kantons Zürich 3 Trennung Basels 1833 Wirren in Schwyz 4. Der „Züriputsch“ 1839 5. Weitere Rückschläge III. Das „tolle Jahr“ (1848). . 179 1. Die Februarrevolution 1848 Frankreich unter d. „Bürgerkönig" Allgemeine Unzufriedenheit Der Aufstand d. Hauptstadt 2. Die Märzrevolution 3. Der Rückschlag Die Junischlacht Der Sieg d. deutsch. Fürsten N. Bildung nationaler Reiche. I. Die Einigung der Schweiz . 181 a) Werden d. Bundesstaates. 1. Der erste Versuch 1833 2. Die Kloster- u. Jesuitenfrage 3. Die Freischarenzüge 1844 und 1845 4. Der Sonderbund 6. Der Sonderbundskrieg 1847 b) Unter dem neuen Bunde. 1. Die Bundesverfassung v. 1848 Bundesbehörden Aufgaben des Bundes Rechte des Bundes Rechte der Bürger 2. Der Neuenburgerhandel 1856 3. Die demokratische Bewegung 4. Die Bundesverfassung v. 1874 Militär wesen Rechtswesen Kirchenwesen Schulwesen Volkswirtschaft Volksrechte 6. Vermehrte staatliche Einheit Ausbau der Volksrechte 6. Stellung der Schweiz zum Auslande II. Die Einigung Italiens . . . 189 1. Staatliche Zerrissenheit und Fremdherrschaft 2. Verschwörungen und Befreiungsversuche 3. Sardinien im Kampfe gegen Österreich 1848/49 4. Camillo Cavour 5. Die Befreiung d. Lombardei 1859 Der Savoyerhandel 1859/60 6. Der Anschluß Mittelitaliens 1860 7. Garibaldi erobert das Königreich Beider Sizilien 1860 8. Die Erwerbg. Venetiens 1866 9. Italien erhält seine Hauptstadt 1870 10. 1 talien als Großmacht seit!870 III. Die Einigung Deutschlands 194 1. Der Deutsche Bund 2 Das Frankfurter Parlament 1848 3. Die Erstarkung Preußens 4. Bismarck ö. Der Schleswig-Holsteinische Krieg 1864 6. Der 1. Schritt zur Einigung: der deutsche Krieg 1866 7. Der Deutsch-Französ. Krieg 1870/71 a) Die Veranlassung Das 2. franz. Kaiserreich Die span. Thronfolge b) Die beiden Gegner. c) Kampf g. d. Kaiser. d) Kampf der Republik. Die Belagerung von Paris Die Entsatzversuche Der Fall von Paris Die Schweiz während des Krieges e) Der Friedensschluss. O. Im Zeitalter der Maschine. I. Die Warenerzeug. vor 1789 .201 1. Das Handwerk Die Meister Die Lehriungen Die Gesellen XII 2. Manufaktur u. Hausindustrie 3. Die Industrie als Einnahmequelle des Staates 4. Die Mangel der Vorrechte im Erwerbsleben II. Die Gewerbefreiheit . . . 206 1. Die Übergangszeit 2. Die freie Warenerzeugung III. Die industrielle Revolution 207 IV. Die Folgen der mechan. Warenerzeugung .... 209 1. Der Untergangd Handbetriebe 2. Bildung eines Fabrikarbeiter- standes 3. Bildung von Fabrikzentren 4. Der Menschenaustausch V. Mangel der neuen Produktionsweise .213 1. Die lange Arbeitszeit 2. Die Kinderarbeit 3. Die mangelh. Arbeitsräume und Schutzvorrichtungen ■ 4. Der Zerfall der Familie 5. Die Krisen VI. Die Schutzgesetzgebung 216 1. Das eidg. Fabrikgesetz v. 1877 2. Die weitere Entwicklung VII. Freiheit in Handel und Verkehr.218 Straßen Dampfschiffe Kanäle Eisenbahnen, Telegraph VIII. Die freie Landwirtschaft. 220 1. Die Naturalwirtschaft Sfite 2. Der Übergang zur Geldwirtschaft 3. Die gefährdete Landwirtschaft 4. Die neue Landwirtschaft IX. Die neue Volksschule . . 223 1. Die Schule der guten, alten Zeit Die Lehrerschaft Zusammensetzung Ausbildung Besoldung Der Schulbetrieb Schulhäuser Schulbesuch Lehrweise 2. Die Reform der 30er Jahre Die Schulbehörden Die Errichtung des Lehrerseminars Die neue Volksschule Primärschule Sekundärschule Thomas Scherr Der höhere Unterricht 3. Die neueste Entwicklung X. Die Welt- und Industriereiche .228 1. England 2. Die Vereinigten Staaten 3. Deutschland 4. Frankreich 5. Rußland 6. Japan Das alte Japan Die Europäisierung Japans Japan wird Großmacht A. Die Griechen. I. Land und Volk. 1. Das Land. Griechenland umfaßt den Süden der Balkanhalbinsel und die umliegende Inselwelt. Die liefen Buchten des Jonischen und Ägäischen Meeres gliedern das Land in drei Teile: Nord-, Mittel- und Südgriechenland. Das letztere, der Peloponnes, ist durch den Saronischen und Korinthischen Meerbusen beinahe abgeschnürt und hängt nur durch den schmalen Isthmus von Korinth mit Mittelgriechenland oder Hellas zusammen. — Das Land ist kreuz und quer von Gebirgen durchzogen; nirgends sind ausgedehnte Ebenen, so daß die Natur es in viele unzusammenhängende Teile scheidet. Obgleich ein milder Himmel das Land bedeckt und die Südfrüchte reift, müssen die Erzeugnisse doch meist durch harte Arbeit dem felsigen Boden abgerungen werden. Frühzeitig lockten die zahlreichen Inseln, die vielen Buchten und natürlichen Häfen, besonders an der Ostküste, die Griechen aufs Meer hinaus. 2. Das Volk. Die Bewohner nannten sich selbst Hellenen; von ihren Nachbarn, z. B. den Römern, wurden sie Griechen geheißen. Man unterschied zwei große Stämme, die Dorier, hauptsächlich den Peloponnes bewohnend, und die Jonier, das Hauptvolk Mittelgriechenlands. Alle übrigen Griechen erhielten den Namen Äolier, d. h. die Bunten. Jeder der Stämme zerfiel wieder — schon der Gebirgszüge wegen — in eine Reihe kleiner Staaten. Meist waren es Stadtstaaten, d. h., sie bestanden aus einer Stadt und den umliegenden Dorf- und Landschaften als Nährgebiet. Jeder Staat war eifersüchtig bestrebt, seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit aufrecht zu erhalten. Es fehlte eine alles umfassende Bundesgenossenschaft, die eine machtvolle Einheit dargestellt hätte; ja, die einzelnen Gemeinwesen lagen oft in blutigen und endlosen Fehden. 3. Die Kolonisation. In langen Wanderungen und Kriegszeiten hatten die griechischen Völkerschaften sich ihre Wohnsitze erstritten und ihre Staatswesen aufgerichtet. Dabei wurde ein großer Teil der alten Bevölkerung aus dem Lande gestoßen. Sie besiedelte die reiche Inselwelt des Ägäischen Meeres, sowie die Küstensäume Kleinasiens. Allen andern taten es hierin die Jonier zuvor. Durch Handel und Schiffahrt wurden ihre Städte bald groß und mächtig. Geschichtslehrmittel. 1 — 2 — Das reiche Milet, eine ionische Kolonie in Kleinasien, wurde die erste unter allen Griechenstädten. Die Milesier erforschten die Küsten des Schwarzen Meeres und legten über achtzig Pflanzstädte an, die dieses Meer in reichem Kranze umschlossen und den Handel mit dem Hinterlande vermittelten. Die Städte des Mutterlandes fanden in der Kolonisation ein bequemes Mittel, den Überschuß der Bevölkerung abzuschieben und Handelsbeziehungen anzuknüpfen, und geschickt wußten sie die wichtigen Stellen auszuwählen. So blühte an der Brücke zwischen Asien und Europa Byzanz heran, das für alle folgenden Zeiten eine außerordentliche Bedeutung erhielt. Die große Insel Kreta wurde griechisch, und im Kampfe mit den Phöniziern erwarben die Hellenen sogar einen Teil der fernen Insel Cypern. Aber auch in den westlichen Meeren sicherten sich die Griechen ihren Einfluß. Die Süd- und Ostküste Siziliens bedeckte sich mit griechischen Städten. Syrakus entwickelte sich zu einer wahren Weltstadt und in Süditalien wurden die Niederlassungen — darunter das üppige Sybaris, das kriegerische Kröten und die reiche Seestadt Tarent — so zahlreich, daß es den Namen Großgriechenland erhielt. An der Rhonemündung entstand Massilia; auch Korsika und selbst Nordafrika wiesen griechische Pflanzstädte auf. Durch ihre reichen Geistesgaben waren die Griechen dazu berufen, die Kultur des Morgenlandes aufzunehmen, fortzubilden und weiter zu verbreiten, so daß sie ihre Vorbilder: Ägypter, Baby- lonier und Phönizier bald überragten. II. Die Religion. 1. Die Qötter. Heiter und schön, wie der Himmel der Griechen, war auch ihre Religion. Die Götter waren persönlich gedachte Naturkräfte. Man stellte sich dieselben als vollkommen schöne, mit überirdischen Kräften versehene, unsterbliche Menschen vor. Unter dem Heere der Götter wurden zwölf als die höchsten verehrt. An ihrer Spitze stand Zeus, der Vater der Götter und Menschen, der mit seinen furchtbaren Waffen, dem Blitz und dem Donner, die früheren Weltbeherrscher, die riesenhaften Titanen und Giganten, besiegt hatte. Ihm am nächsten käm Apollo, der Gott des Lichtes, der Sonne, ein ewig strahlender Jüngling, der Beschützer der Dichter und Sänger, ferner Poseidon, der Beherrscher der Meere, der mit seinem Dreizack die Felsen durchsticht, um Quellen 3 hervorzulocken. Zeus zur Seite stand Hera, die Gottesmutter. Seine Lieblingstochter, Pallas Athene, die gewappnet seinem Gehirn entsprungen, war die Göttin der Weisheit und die Beschützerin der Städte. In unsterblicher Jugend, in ewiger Freude lebten die Götter über den Wolken, gewöhnlich auf dem Berge Olympos, um Zeus versammelt. Da genossen sie Ambrosia, die Speise der Unsterblichkeit und Nektar, den Trank des Lebens; da berieten sie die Geschicke der Menschen und erfreuten sich am Saitenspiel Apollos und am Gesänge und an den Tänzen seiner Dienerinnen, der Musen. Wenn auch menschliche Leidenschaften den Göttern nicht fremd waren, galten sie doch als Freunde des Guten und als Feinde alles Bösen. Furchtbar traf die Strafe der Götter den übermütigen Frevler. Die schlangenhaarigen Erinnyen hefteten sich an seine Person und trieben ihn zu Wahnsinn und Selbstmord. 2. Die Heroen. Nach der Auffassung der Griechen erloschen mit dem Tode die Freuden des Daseins. Der Fährmann Charon führte die abgeschiedenen Seelen in die Unterwelt, in das Totenreich, den Hades. Sie tranken Lethe, das ist Vergessenheit des irdischen Lebens, und führten ein schmerz- aber auch freudeloses Dasein. Wer sich besonders schwer gegen die Götter vergangen, büßte noch weiter. So mußte Sisyphos immer wieder einen Stein bergan wälzen, „aber jedesmal, hurtig, mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor“. Die Danaiden mußten ein löchriges Faß füllen. Tantalos stand im Wasser und konnte nicht trinken, er sah über sich reizende Früchte und konnte sie nicht erreichen. Nur wenigen hervorragenden Menschen, welche durch übermenschliche Taten sich um Land und Volk verdient gemacht hatten, war es vorbehalten, auf der Insel der Seligen ein beglücktes Dasein zu führen oder in die Gemeinschaft der Götter einzugehen. Es waren dies die Heroen, Helden oder Halbgötter. Zu den hervorragendsten zählten Herakles oder Herkules, der Stammheld der Dorier, und Theseus, derjenige der Jonier. 3. Ilias und Odyssee. Viele herrliche Sagen berichten uns über eine Zeit, da Götter und Menschen in engen persönlichen Beziehungen standen. Hochberühmt sind die zwei großen Heldengedichte Ilias und Odyssee, die dem Dichter Homer zugeschrieben werden. Die Ilias erzählt den sagenhaften Kriegszug der Griechen nach dem kleinasiatischen Ilion oder Troja, dessen durchforschte Ruinen 4 uns heute die Angaben Homers zum größten Teil bestätigen. Die Odyssee schildert die Heimkehr des schlauesten der griechischen Führer, des erfindungsreichen Odysseus, durch dessen Kriegslist die Stadt nach zehnjährigem Kampfe genommen worden war. Homer wurde die Lieblingslektüre des ganzen Volkes; in seinen Helden, an deren Taten sich die Jugend begeisterte, fand es die Vorbilder der Tapferkeit. 4. Das Orakel zu Delphi. Die Verehrung der Götter erfolgte durch Opfer, die in Tempeln dargebracht wurden. Zur Verehrung einer Gottheit und zum Schutze ihres Gotteshauses taten sich oft verschiedene Städte und Staaten zu Gotteshausbünden zusammen. Der berühmteste war derjenige zu Delphi. In feierlicher Gebirgs wildnis Mittelgriechenlands stand auf einem Fels vorsprang ein Heiligtum des Apollo, das mit andern Tempeln und den Wohnungen der Priester eine ganze Ortschaft bildete. Im Haupt- heiligtume quollen betäubende Dämpfe aus einer Erdspalte. Eine dadurch verwirrte Priesterin, die Pythia, stammelte Laute und Worte, die als Weissagungen Apollos galten. Priester konstruierten daraus ein oft doppelsinniges Orakel, das so großes Ansehen genoß, daß die Staatsleiter selten etwas Wichtiges unternahmen, ohne vorher die Gottheit angefragt zu haben. 5. Die Nationalfeste. Große allgemeine Feste, die an religiöse Feiern sich anschlössen, hielten das Zusammengehörigkeitsgefühl der Griechen wach. Das berühmteste Nationalfest fand alle vier Jahre zu Olympia im Peloponnes zu Ehren des Zeus statt. Dort befanden sich in einem heiligen Haine Tempel, Bildsäulen, Altäre und andere herrliche Kunstdenkmäler. In einem prächtigen Marmortempel stand das aus Gold und Elfenbein verfertigte Riesenbild des Götterkönigs, ein Kunstwerk des großen athenischen Bildhauers P.heidias. Zur Zeit des Festes herrschte in griechischen Landen Gottesfriede. Von überall her, selbst von jenseits des Meeres, strömten die Griechen herbei. Inmitten des heiligen Haines verbrannte man auf einem Altar die gespendeten Opfertiere. Dem religiösen Akt schlössen sich die Wett kämpfe oder olympischen Spiele an, die fünf Tage dauerten. Sie bestanden in Wettlauf, Speerwerfen, Ringen, Diskoswerfen, Faustkampf und Wagenrennen. Ein einfacher Kranz von Olivenzweigen war der begehrte Siegespreis, der außerordentliche Ehrungen einbrachte. Dichter und Schriftsteller fanden hier Gelegenheit, ihre Werke dem versammelten Volke bekannt zu geben. 5 Eine weitere religiöse Feier schloß die großartigen Festlichkeiten. — So eingelebt waren die Festspiele, daß die Länge des Stadions, d. h. der Laufbahn zu Olympia (192’/s m), bei den Griechen geradezu als allgemein gültiges Wegmaß gebraucht wurde; auch zählte man die Jahre nach Olympiaden. III. Führende Staaten. Gemeinsame Sprache, gemeinsame Götter, Gotteshausbünde und Nationalspiele vermochten nicht, die staatliche Einheit der Griechen herbeizuführen; das griechische Volk befand sich in einem bedauerlichen Zustand der Zersplitterung. Mit der Zeit gelang es indes einigen kräftigen Staatswesen, eine Art Führung (Hegemonie) über die andern zu gewinnen. 1. Sparta. Im Tale des Eurotas hatten die dorischen Spartaner einen kräftigen Staat aufgerichtet. In langen Kämpfen mit den umliegenden Stämmen breiteten sie ihre Herrschaft über weite Gebiete des Peloponnes aus; besonders wertvoll war die Unterweisung der dorischen Stammesbruder in Messenien. Die Stände. Die eigentlichen Vollbürger waren die Spar- tiaten (der dorische Adel), welche das Land erobert und den Staat gegründet hatten. Neben ihnen gab es Periöken, Bauern, die durch Vertrag die Oberherrschaft der Dörfer anerkannt hatten, und denen dafür die Freiheit und der Besitz der allerdings tributpflichtigen Äcker zugestanden worden war. Politische Rechte besaßen sie nicht; sie fochten jedoch im Kriege als Schwerbewaffnete mit und galten unter den andern Griechen, z. B. bei den Nationalspielen, als freie Männer. Die Heloten, alle „mit dem Speer in der Hand“ Bezwungenen, waren Staatssklaven, welche den Bürgern zugeteilt wurden. Die Vollbürger, welche aus Furcht vor Erhebung der zahlreichen Untertanen in Sparta zusammenwohnten, ließen durch junge Spartiaten, eine Art Landjäger, die abhängige Bevölkerung scharf überwachen. Um Empörungen vorzubeugen, wurden die strengsten Mittel angewandt. Die Leitung des Staates. An der Spitze des Volkes standen zwei Könige (Häuptlinge), die als Priester, Richter und Heerführer amteten. Ihre Gewalt war eingeschränkt durch den Rat der Alten, der über todeswürdige Verbrechen urteilte und dem Volke die Gesetze vorlegte. Die letzte Entscheidung stand bei der Volksversammlung, die alle Monate stattfand. Die Spartiaten, die allein daran teilnehmen durften, wählten die Beamten und 0 stimmten mit „Ja“ oder „Nein“ über die Vorlagen ab; das Wort hatten nur die Könige und die Mitglieder des Rates. Die Erziehung des Volkes. Da die Spartiaten an Zahl den Pe- riöken und Heloten nachstanden (zirka 9000 dorische Herrengüter, 30,000 Periöken), ging ihr ganzes Bestreben dahin, durch kriegerische Tüchtigkeit sich die Herrschaft zu sichern. Demgemäß war die ganze Erziehung auf die körperliche Ausbildung gerichtet. Vorn 7. Altersjahr an blieb der Spartaner stetsfort in kriegerischer Zucht. An den gymnastischen Übungen nahmen auch die Mädchen teil. Die Pflege der Geisteskräfte wurde fast ganz vernachlässigt. Die Ausbildung war einseitig; aber sie erfüllte ihren Zweck. Dank der kriegerischen Tüchtigkeit errangen die Spartaner die Vormacht im Peloponnes, dessen Stämme sie zu einem unter ihrer Führung stehenden Bunde vereinigten. Die spartanische Verfassung, wohl ein Ergebnis vieler Menschenalter, wurde schon früh dem Gesetzgeber Lykurg (zirka 800 v. Chr.) zugeschrieben, dessen Person jedoch sehr sagenhaft ist. 2. Athen. Königtum. Adelsherrschaft. Athen, das wichtigste jonische Gemeinwesen, in Mittelgriechenland, war ursprünglich ebenfalls ein Königtum; doch gelang es hiev dem Adel, die Herrschaft an sich zu reißen. Die Masse des Volkes hatte keinen Anteil an der Regierung. Der arme Zinsbauer entrichtete dem Herrn fünf Sechstel des Bodenertrags, und der Zinsfuß war 12 Prozent. Wer nicht bezahlen konnte, fiel in Schuldsklaverei. Da geschriebene Gesetze fehlten, war es den adeligen Richtern leicht, ungestraft parteiische Urteile zu fällen. Die solonische Verfassung. Da berief das Volk Solon zum Gesetzgeber (594 v. Chr.). Durch eine allgemeine Schuldenabschüttelung bestimmte er, daß alle auf den Grundstücken haftenden Lasten getilgt seien. Die Schuldsklaverei wurde abgeschafft. Die Schuldsklaven wurden freigelassen, die außer Landes befindlichen, soweit möglich, aus Staatsmitteln zurückgekauft. Um die Staatslasten gerechter zu verteilen, verfügte Solon, daß die Athener nach ihrem Einkommen aus Grand und Boden in vier Klassen zerfallen sollten. Die erste mußte die Kriegsschiffe ausrüsten und für eine würdige Ausstattung der Götterfeste sorgen. Die zweite Klasse stellte die Reiterei, die dritte die schwer gerüsteten Fußsoldaten (Hopliten). Die vierte Klasse, mit wenig Einkommen oder ohne Grundbesitz, wurde nicht eigentlich eingereiht, bildete aber eine Art Landsturm. Nach dem Besitz waren auch die Steuern, die gelegentlich erhoben wurden, berechnet. Da die drei ersten Klassen mehr an die Staatslasten beitrugen, erhielten sie auch mehr Rechte. So wurden die Beamten nur aus den drei oberen Klassen genommen, ja, die Staatslenker gehörten nur der ersten Klasse an. Die höchste Gewalt stand bei der Volksversammlung, an der die Bürger sämtlicher vier Klassen teilnahmen; nur Ausländer und Sklaven waren rechtlos. Sie wählte die Beamten, erließ Gesetze und entschied über Krieg und Frieden. Ein Rat von 400 (später 500) Mitgliedern beriet die Gesetze vor, und 9 Regierungsräte führten sie aus. — Jeder Bürger, der bei entstehendem Aufruhr oder Bürgerzwist nicht Partei ergriff, wurde mit dem Verlust des Bürgerrechtes bestraft. Die Erziehung des Volkes. Die Erziehung der jungen Bürger war weniger Sache des Staates als in Sparta; sie blieb mehr der Familie überlassen. Doch schrieb das Gesetz vor, daß jeder seine Kinder geistig und körperlich ausbilden lasse; Eltern, die dies versäumten, hatten keinen Anspruch darauf, von ihren Söhnen später unterstützt zu werden. Man strebte eine möglichst harmonische Ausbildung von Körper und Geist an und erreichte dadurch, daß Athen nicht nur tüchtige Krieger, sondern auch große Gelehrte und Künstler hervorbrachte. Die Tyrannis. Trotz ihrer Vorzüge blieb die Solonische Verfassung nicht unangefochten. Wie anderwärts in Griechenland, gelang es auch in Athen einem Adeligen, sich mit Hilfe des Volkes zum Herrscher, zum Tyrannen, auszuwerfen. Die Athener entledigten sich allerdings später der Tyrannis und führten, um eine Wiederholung zu verhindern, das Scherbengericht ein. Die Volksversammlung wurde jeweilen angefragt, ob jemand da sei, der infolge seines Ansehens der Verfassung gefährlich werden könnte. Zeigten 6000 Stimmtäfelchen (Scherben) den gleichen Namen, so wurde der Betreffende für zehn Jahre aus dem athenischen Staate verbannt, ohne daß dies aber seiner Ehre schadete. IV. Die Freiheitskriege. Während die Griechen, im Besitze der kleinasiatischen Küste, nach Osten vordrängten, stellte sich ihnen ein asiatisches Volk entgegen, das seine Macht nach Westen ausbreiten wollte. Die kriegerischen Perser hatten nach und nach alle Völker Westasiens, sogar Ägypten unterworfen und im Mittelmeer eine starke Seemacht ge- 8 schaffen, deren Hauptstütze die Phönizier waren. Auch die asiatischen Griechen verloren durch die Perser ihre Selbständigkeit. 1. Der ionische Aufstand. Die freiheitsgewohnten Jonier (asiatischen Griechen) konnten die drückende Gewaltherrschaft der Perser nicht ertragen. Unter der Führung Milets, der ersten aller Griechenstädte, versuchten sie, das verhaßte Joch abzuschütteln. Das Mutterland wurde um Hülfe angegangen; aber das engherzige Sparta wies kurzsichtig die Bittenden zurück. Athen schickte eine Anzahl Kriegsschiffe; doch mußten die Aufständischen nach jahrelangem, heldenmütigem Widerstände der Übermacht erliegen, und sie wurden grausam bestraft. Die Blüte Joniens war für immer dahin. •2. Die Schlacht bei Marathon. (490 v. Chr.) Die Perser wollten Athen für die Hülfeleistung an die Jonier bestrafen und bei dieser Gelegenheit ganz Hellas unterwerfen. Der erste Rachezug erreichte zwar nicht einmal Griechenland. Später unterwarf aber die persische Flotte die Inselstaaten und landete bei Marathon, an der attischen Küste, ein Heer. Voller Furcht hatten die meisten Gemeinwesen den vorausgeschickten Herolden Unterwerfung angeboten; nur Sparta und Athen waren entschlossen, ihre Selbständigkeit zu verteidigen. Als die spartanische Hülfe zu lange ausblieb, warfen sich die Athener unter Führung des kriegserfahrenen Miltiades bei Marathon kühn auf den viel stärkeren Feind. Dieser wurde auf die Schiffe zurückgeworfen und wagte nach der Niederlage keine Landung mehr. Themistokles. Die Athener allein erkannten den Ernst der Lage. Unter der Führung des klugen Themistokles rüsteten sie mit allen Kräften für die kommenden, schweren Tage. Im Laufe von zehn Jahren brachten sie die Flotte auf 200 Kriegsschiffe und machten so mit einem Schlage Athen zur ersten Seemacht Griechenlands. Die Bürger der vierten Klasse wurden zum Schiffsdienste herangezogen, wofür man ihnen später die Ämter öffnete. Der Peiräeus wurde zu einem gewaltigen Kriegshafen ausgebaut, mit Zeughäusern und Werften wohl versehen und durch starke Mauern geschützt. Athens Zukunft lag auf dem Meere. 3. Der Zug des Xerxes. (480/79 v. Chr.) Der persische Aufmarsch. Mit größtem Eifer und größter Umsicht rüsteten die Perser zu einem dritten Zuge, der menschlicher Voraussicht nach gelingen mußte. Der Großkönig Xerxes selber führte die Streitscharen heran, die aus allen Teilen des Riesenreiches zusammengezogen wurden, um die Griechen zu erdrücken. Auf zwei Schiff- brücken überschritt er den Hellespont. Vorsorglich waren in Thrakien und Makedonien Vorräte angehäuft worden. Parallel mit dem Landheer segelte eine gewaltige Flotte, die zahlreiche Lastfahrzeuge mit Pferden und Proviant mit sich führte. Thermopylä. Selbst die große Gefahr vermochte die Griechen nicht zu einigen. Die wenigsten dachten an Widerstand, andere, wie das mächtige Theben, traten offen zum Feinde über. Themistokles wurde die Seele der Verteidigung. Um den peloponnesischen Bund zu größter Machtentfaltung anzuspornen und allem Zwiste vorzubeugen, überließ man Sparta den Oberbefehl zu Lande und zu Wasser, obgleich es nur zehn Schiffe stellte und obgleich die athenische Seemacht die aller anderen Staaten zusammengenommen übertraf. Die Verteidigung war eine doppelte. Mit Erfolg sperrte der Spartanerkönig Leonidas mit 7000 Schwerbewaffneten, darunter 300 Spartanern, den Engpaß der Thermopylen, die Eingangspforte Griechenlands. An der Tapferkeit der Griechen zerschellten alle Angriffe der Perser. Aber ein griechischer Verräter führte einen Teil der Perser über einen Gebirgspfad in den Rücken der Hellenen. Der Paß war verloren. Leonidas und seine Spartaner kannten kein Zurückweichen. Nachdem er allen Verbündeten den Befehl zum Rückzüge gegeben hatte, deckte er ihren Abmarsch und starb mit seinen Leuten und 700 anderen Hellenen, die sich um keinen Preis von ihm trennen wollten, den Heldentod fürs Vaterland. Salamis und Platää. Auf den Rat des Themistokles verteidigte die griechische Flotte den Eingang in die Meerenge zwischen Euböa und dem Festlande. Drei Kampftage brachten keine Entscheidung. Der Verlust der Thermopylen machte die Stellung unhaltbar. Darum segelte die Flotte nach Süden und ging, 380 Schiffe stark, bei der Insel Salamis vor Anker. Das peloponnesische Landheer hatte auf dem Isthmus Stellung genommen, wo in aller Eile Verschanzungen errichtet wurden. Auf Salamis befand sich der Hauptteil der attischen Bevölkerung, die auf das Drängen des Themistokles Athen verlassen hatte. Von hier aus konnte sie die Feuersäulen sehen, welche ihre Stadt und Burg in Asche legten. Xerxes vergalt die Niederlage bei Marathon, indem er Attika in eine Wüste verwandelte. Voller Schrecken wollten die Peloponnesier mit ihren Schiffen in die Heimat zurückkehren. Da veranlaßte Themistokles den Xerxes, die Griechen in der Meerenge einzuschließen, um eine Trennung zu verunmöglichen. In dem Verzweiflungskampfe gegen 10 die persische Übermacht vernichteten die Griechen bei Salamis 300 Schiffe, so daß die feindliche Flotte entmutigt nach Asien zurückkehrte. Ihr folgte Xerxes mit dem größten Teil der Streitkräfte. — Durch ein machtvolles Aufgebot schlugen die Griechen im folgenden Jahre bei Platää das zurückgelassene Heer auserlesener, persischer Truppen, wobei die athenischen Landsoldaten sich den Spartanern als ebenbürtig erwiesen. 4. Der athenische Seebund. Die Griechen gingen darauf ihrerseits zum Angriffe über. Athen hatte dabei die Leitung. Sein großer Bürger Aristeides vereinigte die meisten Inseln und Seestädte zu einem großen Bunde. In dreißigjährigem Kampfe wurde den asiatischen Griechen die Selbständigkeit zurückgewonnen und das ägäische Meer von den persischen Schiffen gesäubert. V. Das perikleische Zeitalter. Durch die glorreichen Perserkriege war Athen der Mittelpunkt der griechischen Welt geworden. Als Führerin des Seebundes und Verwalterin des Bundesschatzes kam die Stadt an die Spitze eines Reiches, das sich über fast alle Inseln und Küsten des Ägäischen Meeres, sogar darüber hinaus erstreckte. Mit der Zeit verwandelte sich diese Eidgenossenschaft geradezu in ein athenisches Reich. Widerspenstige, durch Sparta heimlich aufgereizte Bundesglieder, wurden mit aller Schärfe zu Untertanen herabgedrückt, andere zogen es vor, sich durch höhere Geldleistungen von der Stellung der Schiffe und Mannschaften loszukaufen. Perikles. Athen besaß in Perikles einen Führer, der die unternehmungslustige Stadt auf die Höhe ihrer Leistungsfähigkeit brachte. Er entstammte einer der vornehmsten Familien und übertraf als vorzüglicher Volksredner, einsichtiger Staatsmann und trefflicher Heer- und Flottenführer alle Zeitgenossen. In uneigennützigster Weise diente er dem Staate und vertrat der aristokratischen Partei gegenüber unerschrocken die Forderungen des ärmeren Volkes, das wirkliche Gleichberechtigung aller Bürger verlangte, da reich und arm in den schweren Zeiten mit gleicher Aufopferung dem Vaterlande gedient hatte. So wurde der große Führer der Liebling des athenischen Volkes, das ihm immer wieder hohe Ämter übertrug. Er war erster Feldherr, Verwalter des Bundesschatzes, Bauherr und leitete durch die Macht seines Geistes die Geschicke der Stadt. Nie schmeichelte er dem Volke, sondern suchte es durch Vernunftgründe von dem zu überzeugen, was zu seinem Besten diente. 11 Ökonomische Blüte. Perikles setzte alle seine Kraft ein, um Athens Seeherrschaft, die Quelle seines Reichtums, zu festigen und zu stärken. So galt seine Hauptsorge der Entwicklung von Handel und Industrie. Die in den Perserkriegen zerstörte Stadt Peiräeus baute er schön und regelmäßig wieder auf, versah sie mit großartigen Hafenanlagen und Arsenalen und schuf so einen wahren Musterhafen. Dieses Herz des Reiches wurde zusammen mit dem Hafen Phaleron durch dreifache, riesige Mauern mit Athen verbunden, sodaß im Notfalle das ganze attische Volk darin Schutz finden konnte. So wurde die Hauptstadt aufs engste mit ihrem Lebenselemente, dem Meere, in Verbindung gebracht. Die Industrie blühte; berühmt waren besonders die athenischen Tongeschirre (Vasen). Blüte der Baukunst. Die reichen Geldmittel, die der Stadt zuflössen, wurden zum großen Teil zu deren Ausschmückung verwendet. Neben den Nutzbauten, wie Hafenanlagen und Befestigungen, entstanden bald im herrlichsten Ebenmaß wahre Prachtgebäude. Die Akropolis, ehemals eine Festung, wurde in eine Götterburg umgewandelt. Durch die Propyläen, ein mächtiges Säulentor, schritt man auf die Kuppe des Hügels, die sich etwa 100 m über die Stadt erhob. Hier überstrahlten besonders zwei Tempel alle anderen Gebäulichkeiten: das Erechtheion, das als das vollendetste Bauwerk der Alten galt und der Parthenon, der mit einem herrlichen Säulengang* umgebene Festtempel der Stadtschutzgöttin Pallas Athene, ein Bau, der in seiner Einfachheit noch jetzt Bewunderung erregt. Da befand sich auch ein Riesenstandbild der Göttin, deren helmgekröntes Haupt und goldene Lanzenspitze weithin über die Stadt leuchteten. Sein Schöpfer war Pheidias, der berühmteste Bildhauer des Altertums. Blüte der Dichtkunst. Auch die Dichtkunst fand ihre Pflege. Als eigentliche Frucht dieses Zeitalters erscheint das Drama, entstanden aus der Verherrlichung der Götter. Schon früher hatte an * Bei der Säule unterscheidet man gewöhnlich drei Teile: Basis, Schaft und Kapital. Der älteste Baustil verwendete hauptsächlich die schwere, gedrungene dorische Säule, die, nach unten anschwellend, der Basis entbehrt. Ihr Kapitäl wird von einem einfachen Wulst gebildet. Die ionische Säule ist schlanker, besitzt eine Basis und ein Schnecken- oder spiralförmiges Kapital. Ihre Weiterentwicklung brachte die korinthische Säule, die sich durch ein reicheres, meist aus Blattornamenten (Akanthus) bestehendes Kapital von der gewöhnlichen, ionischen unterscheidet. Die Blüte des korinthischen Stils fällt in die spätere (röm.) Zeit. 12 den Dionysosfesten (Dionys oder Bakchos — Weingott) ein Vorsänger, begleitet von einem Chor, die Taten des Gottes erzählt. Nunmehr stellte man dem Chor sogenannte Antworter (erst zwei, dann drei) gegenüber, wodurch nach und nach die Erzählung in eine Handlung verwandelt wurde. Aus dieser entwickelte sich, da auch weltliche Stoffe, vor allem Heldensagen, dargestellt wurden, das Drama. Die Theater, ursprünglich Holz-, nachher Steinbauten, bestanden aus einem Bühnengebäude, dem Tanzplatz des Chores und den sich halbkreisförmig anschließenden, ansteigenden Sitzplätzen. Das Schauspiel, ein Teil des Gottesdienstes, wurde zu einer der hauptsächlichsten Bildungsgelegenheiten, und der Staat bezahlte auf Verlangen das geringe Eintrittsgeld, damit auch der ärmste Bürger teilnehmen konnte. In den Wissenschaften leisteten die Griechen so Hervorragendes, daß noch im Mittelalter, beinahe 2000 Jahre später, ihre Werke die Hauptquellen alles Wissens waren. VI. Der Untergang Griechenlands. Alexander der Große. 1. Bürgerkrieg und Niedergang. Athen war nicht imstande, seine Hegemonie (Vorherrschaft) auf die Dauer zu behaupten. DieEifer- sucht zwischen den beiden führenden Griechenstaaten Athen und Sparta führte zum Peloponnesischen Krieg, in welchem der Kriegerstaat Sparta siegte. Aber seine tyrannischen Vögte erregten den Unwillen der Beherrschten, und schließlich erfolgte ein Aufstand der Thebaner, denen sich andere Unterdrückte anschlössen. In zwei Schlachten besiegte Epameinondas, der geniale thebanische Feldherr, durch seine schiefe Schlachtordnung die Spartaner.* Allein Epameinondas fiel, und Theben vermochte nicht, die leitende Stellung beizubehalten. Der letzte Versuch, einen nationalen Völkerbund unter Leitung des mächtigsten Staates zu begründen, hatte fehlgeschlagen. 2. Philipp von Makedonien. Die Uneinigkeit der Griechen, ihre unablässigen Bruderkriege machten es ihrem nördlichen Nachbarn, dem König Philipp von Makedonien, möglich, ihre Freiheit zu zerstören und sie zu unterwerfen. Die Makedonier galten bei den Griechen als Barbaren, i hre Könige zwar rühmten sich stolz griechischer Abstam- * Epameinondas wußte, daß auf dem spartanischen rechten Flügel der König mit den Tapfersten kämpfte. Deshalb stellte er seinen linken Flügel fünfzig Mann tief auf und ließ den rechten sich nur verteidigen. So sahen sich die Spartaner gerade da, wo sie am stärksten zu sein glaubten, mit unwiderstehlicher Gewalt angegriffen. 13 inung. Den einsichtigen Hellenen konnte die von Norden drohende Gefahr nicht verborgen bleiben. In eindringlichen, glänzenden Reden > machte der athenische Redner Demosthenes darauf aufmerksam, aber vergeblich. Selbst die größte Gefahr vermochte die Griechen nicht mehr zu vereinen. In der Schlacht von Chäroneia (338 v.Ch.) wurden sie von Philipp besiegt, der, um sie zu gewinnen, sich nicht zu ihrem König machte, sondern sich nur zu ihrem Oberfeldherrn ernennen ließ. Um Makedonier und Griechen zu vereinen, beschloß er einen Nationalkrieg gegen die Perser, wurde aber während der Vorbe- bereitungen ermordet. Nachdem sein junger Sohn Alexander aber die Griechen völlig unterworfen hatte, ging er daran, die Eroberungspläne des Vaters auszuführen. 3. Alexander der Große. Die Eroberung des Perserreiches. Mit nur 30,000 Fußsoldaten und 5000 Reitern, darunter vielen Griechen, unternahm König Alexander von Makedonien den Kriegszug gegen das gewaltige Perserreich, das seinen Ansturm nicht aushalten konnte. Er erzwäng sich den Einlaß in Kleinasien und eroberte in raschem Zuge die für die Verbindung mit der Heimat so wichtigen kleinasiatischen und syrischen Küstengebiete. Vergeblich stellte sich ihm der Perserkönig Dareios bei Issos (333) entgegen, um ihm den Eintritt in die syrische Ebene zu verwehren. Sein Heer wurde geschlagen und seine Familie gefangen genommen. Um das Perserreich vollständig zu entwurzeln, zog jetzt Alexander nach Ägypten, wo er als Befreier empfangen und von den Priestern als Gott begrüßt wurde. Im Delta des Nils legte er den Grund zu der Stadt Alexandreia, die bald zum Welthandelsplatz emporblühte. Erst jetzt wandte er sich gegen die innerasiatischen Gebiete und überschritt den Euphrat. In der Entscheidungsschlacht von Gau- gamela vermochte selbst die Gesamtheit der persischen Völker der makedonischen Phalanx* nicht zu widerstehen. Babylon und Susa öffneten die Tore. In Persepolis, der heiligen Stadt der Perser, erbeutete Alexander allein 120,000 Talente Silber. (700 Millionen Fr. Metallwert, heutige Kaufkraft 4—5 Milliarden Fr.) Als Dareios auf der Flucht durch einen ungetreuen Statthalter den Tod fand, trat der Makedonierkönig als sein Rächer und Nachfolger auf. Der Feldzug nach Indien. (327/26.) Die Eroberung des * Phalanx: Das schwerbewaffnete makedonische Fußvolk stand in einem seehszehn Glieder tiefen Gevierthaufen, dessen vorderste fünf Glieder die sechs- zehn Fuß langen Stoßlanzen vorstreckten. Perserreiches genügte Alexander nicht. Die ganze Welt sollte makedonisch werden. Er unternahm einen Zug nach Indien, überschritt den Indus und gelangte bis an den Grenzfluß des Pendschab, wo er aber durch den Widerstand seiner eigenen Soldaten zur Rückkehr genötigt wurde. Alexanders Ende. Nach Persien zurückgekehrt, widmete sich Alexander dem Ausbau seines gewaltigen Reiches. Seit der Be- siegung des Dareios bevorzugte er, sehr zum Mißvergnügen seiner Makedonier, persisches Wesen. Nach seiner Verheiratung mit einer Tochter des Dareios richtete er seinen Hofhält vollständig nach orientalischer Art ein und gefiel sich auch darin, sich als Gott verehren zu lassen. Wehe dem, der es wagte, ihm entgegenzutreten. Sein treuester Freund war dann des Todes sicher. Alexander hoffte, durch eine Verschmelzung der Griechen und Perser die griechische Kultur nach Asien zu verpflanzen, dem Westen dagegen die Schätze des Morgenlandes zu erschließen. Allein dazu reichte eine kurze Spanne Zeit nicht aus, und als Alexander schon 323 infolge der Anstrengungen und der üppigen Lebensweise erkrankte und noch nicht ganz dreiunddreißig Jahre alt starb, mußte das kaum geschaffene Reich zerfallen. Ehrgeizige Generäle vernichteten die ganze königliche Familie, und aus den Wirren und Kämpfen um die Herrschaft gingen schließlich drei Großmächte hervor: Makedonien mit Griechenland, Syrien und Ägypten. 4. Der Hellenismus. Während die griechische Nation, politisch ohne jede Bedeutung, unter der makedonischen Herrschaft seufzte, eroberte ihre Kultur die ganze Welt. Als Kriegsleute, Handwerker, Gelehrte und Künstler zogen Griechen nach dem Orient. Ihre Sprache, mit makedonischen Bestandteilen gemischt, durchdrang alle Schichten der Bevölkerung des Ostens. Die neu aufblühenden Städte erhielten durchaus griechisches Gepräge. An erster Stelle stand Alexandreia in Ägypten, das in der Folge der Hauptsitz der gelehrten Studien wurde und eine Bibliothek von 700,000 Rollen besaß. Mit ihm wetteiferte in künstlerischer Beziehung das kleinasiatische Pergamon, wo vor allem die Bildhauerkunst neuerblühte. Noch jetzt gehören die Werke dieser Epoche — Laokoon, farnesischer Stier, borghesischer P echter — zum Schönsten, das je geschaffen wurde. Längst nachdem Hellas’ Größe vorbei war, lebte und wirkte noch die feine attische Bildung fort. Überhaupt war ein geistiger Schatz der Bildung, Wissenschaft und Poesie gewonnen, der unvergänglich blieb. Die griechischen Künste sollten für die nachfolgenden Geschlechter vorbildlich werden. Wurden auch die Griechenstaaten die Beute der kriegstüchtigen Römer, so bewies die hellenische Kunst ihre Überlegenheit und Lebenskraft dadurch, daß die Sieger selber sie annahmen. B. Die Römer. Ursprung der Stadt Rom. (753 v. Chr.?). Ähnlich wie Griechenland, war Italien ursprünglich von einer Menge selbständiger Völkerschaften bewohnt. Mit der Zeit erlangten drei Völker überwiegende Bedeutung: die Etrusker, zwischen Poebene und Tiber, die Latiner, an der Küste südlich dieses Flusses, und die Sa- biner im höchsten Apennin und mehr gegen Süden. In Latium, ungefähr da, wo die drei Länder zusammenstießen und wo der Tiber imstande war, kleine Meerfahrzeuge zu tragen, bildete sich die Ansiedlung Rom. Die gute Handelslage war wohl für die Gründung der Stadt mitbestimmend. I. Rom in einfachen Verhältnissen. 1. Die Stände. Die Patrizier. Jahrhundertelang reichte Rom nur wenig über seine Stadtmauern hinaus; die umliegende, nähere Landschaft bildete das Erwerbsgebiet der Bürger, die durchaus Bauern waren. Sie gliederten sich in Geschlechter und nannten sich Patrizier, d. i. Väter*. Sie hatten allein Zutritt zu den Ämtern, Anteil am Gemeindeland, und nur sie waren zum Kriegsdienst verpflichtet, Unter sich genossen alle Bürger die gleichen Rechte. Die Plebejer. Außerhalb der Geschlechter stand ein weiterer, wichtiger Volksteil. Es waren wohl Unterworfene, eingewanderte Kaufleute und Handwerker, die der Römer verächtlich die Plebs, d. i. den Haufen, nannte. Die Plebejer hatten weder das Eherecht mit den Patriziern, noch Anteil an den Ämtern, noch Stimm- und Kriegsrecht und wurden deshalb nicht zum „römischen Volke“ gezählt. * Die Namengebung beruhte auf den alten Gesehleehtsverbänden. Nicht der Name des Einzelnen, sondern das Geschlecht ist die Hauptsache: z. B. Julier, Kornelier, Fabier, Klaudier. Vornamen waren z. B. Gajus, Markus, Publius. Ein dritter Name bezeichnete einen Zweig des Geschlechts. Gajus Julius Cäsar. 1. Vorname. 2. Geschlecht. 3. Zweig des julischen Geschlechts. 16 • 2 . Das Königtum. Die Patrizier wählten als obersten Staatsleiter den König. Wie der Hausvater über die Familie, so besaß er über das Volk unbeschränkte Gewalt. Er war der oberste Priester und Richter und der Anführer im Kriege. Der König trug den Purpurmantel, den goldenen Eichenkranz und den Elfenbeinstab, das Zepter. Zum Zeichen seiner Macht über Leib und Leben begleiteten ihn die Liktoren, Gerichtsdiener, die Rutenbündel und Beil vor ihm beitrugen. Die Sitte wollte es, daß der König' bei wichtigen Staatsgeschäften den Senat, den Rat der Alten, befragte. Dieser zählte 300 Mitglieder, die vorn König ausgelesen wurden und welche die einzelnen Geschlechter vertraten. In Volksversammlungen stimmten die Patrizier über Gesetze, Bürgeraufnahmen, Begnadigungen, Krieg und Frieden ab. Nur wenn König, Senat und Volk einig gingen, galt ein Krieg als gerecht. 3. Die Eingliederung der Plebejer in den römischen Staat. Durch Ausdehnung des römischen Staates im benachbarten Latium und infolge Einwanderung schwoll der plebejische Volksteil in Rom immer mehr an; die Patrizier dagegen schmolzen durch die Kriege zusammen. Eine neue Wehrverfassung* zog darum die Plebejer zum Waffendienst heran. Alle Grundbesitzer waren vorn 16. bis 60. Altersjahre dienstpflichtig und wurden je nach ihrem Vermögen fünf Klassen zugeteilt. Je reicher die Klasse, desto vollkommener war die geforderte Ausrüstung. Die Reichsten leisteten Reiterdienst. Auf diese Weise erhielt Rom ein Kriegsheer von nahezu 20,000 Mann. Neben den alten Volksversammlungen gab es nun für militärische Dinge eine Heeresversammlung, in der die Plebejer Stimmrecht hatten. Diese erhielt mit der Zeit weitgehende Befugnisse und wurde viel wichtiger als die Patrizierversammlung. 4. Die Adelsherrschaft. Ähnlich, wie in Griechenland, wurde die Königsherrschaft in Rom gestürzt und durch die Geschlechterherrschaft abgelöst. Alle Staatsämter wurden mit Patriziern besetzt. An Stelle des Königs regierten zwei Konsuln, eine Art Jahreskönige. In Notzeiten übernahm ein Diktator für höchstens sechs Monate wieder die volle königliche Gewalt. Der Senat gewann als Gesetzeswächter an Bedeutung; er brachte die Gesetzesvorschläge ein. Der Heeresversammlung standen die Wahl * Sie wird dem König Servius Tullrus zugeschrieben und heißt deshalb die „Servianische Heeresverfassung“. 17 der höchsten Beamten, die Annahme der Gesetze und das Begnadigungsrecht zu. 5. Die Plebejer erkämpfen die Gleichberechtigung. Die Notlage der Plebejer. Die Staatsumwälzung brachte in der Hauptsache nur den Patriziern Vorteile. Die häufigen Kriege vernichteten den bescheidenen Wohlstand des Plebejers, der unentgeltlich Kriegsdienst leistete. Die Patrizier dagegen wurden noch reicher, da sie allein die Beute teilten.' Ein Drittel des Bodens der Besiegten wurde gewöhnlich zum Gemeindeland geschlagen. Die Patrizier pachteten nun die Staatsländer gegen geringes Entgelt; ja, der Pachtzins blieb bald ganz aus, da sich die Beamten durch die Finger sahen. Der verarmte plebejische Bauer entlehnte in seiner Not beim patrizi- schen Herrn Geld, und da er hohe Zinsen zahlen mußte, geriet er bald tief in Schulden. Das harte römische Recht überlieferte den zahlungsunfähigen Schuldner dem Gläubiger, der ihm Freiheit und Leben nehmen konnte. So kam es oft vor, daß tapfere plebejische Krieger wegen Verarmung in Ketten gelegt wurden. Die plebejischen Schutzbeamten. Die Not führte die Plebejer zur Empörung. Sie machten Miene, Rom zu verlassen und ein eigenes Gemeinwesen zu gründen. Da bequemten sich die Patrizier dazu, den Unzufriedenen Schutzbeamte, sogenannte Volkstribunen, zuzugestehen. Als heilige und unverletzliche Beschützer des plebejischen Standes hatten sie das Vetorecht (veto: ich verbiete), d. h. das Einspracherecht gegen alle die Plebejer schädigenden Beschlüsse und Urteile. Mit der Zeit konnten sie sogar die Steuererhebung und das Aufgebot verhindern. In besonderen Bezirksversammlungen besprachen die Plebejer ihre Angelegenheiten, und ihre Beschlüsse erhielten später sogar Gesetzeskraft. Die Verschmelzung der Stände. Zwei große Ziele: den Mitgenuß am Staatsvermögen (Gemeindeland) und die Teilnahme an der Staatsverwaltung, suchten die Plebejer zu erreichen. Trotz des zähesten Widerstandes von Seiten des patrizischen Adels führten die Tribunen das Volk von Sieg zu Sieg, Da der patrizische Beamte nach dem Gewohnheitsrechte den Plebejer oft übervorteilte, erzwängen sie die Aufzeichnung der Gesetze, ferner das Eherecht mit den Patriziern und Anteil am Gemeindeland. Ein Amt ums andere mußte den Plebejern geöffnet werden. Nach zweihundert ährigem Kampfe war der Ausgleich vollzogen. Ums Jahr 300 v.Chr.waren die zwei Stände zu einem Volke zusammengewachsen. Geschichtslehrmittel. 2 18 II. Rom erobert Italien. Unter den latinischen Städten bestand ursprünglich eine Eidgenossenschaft, deren Leitung Rom erlangte. Die Vertreibung der Könige brachte ein Sinken der Macht gegenüber den Nachbarn. Die Führerschaft entglitt zeitweilig Roms Händen, und es brauchte die größte Anstrengung, sie wieder zu erlangen. Einst schien der römische Staat sogar unterzugehen. Gallier, die vorn Norden eindrangen, zerstörten die Stadt, und die Bevölkerung dachte ernstlich ans Auswandern. Nach Beilegung der Parteikämpfe zeigte aber die Stadt eine unverwüstliche Kraft und Unternehmungslust. Waren die Kriege bisher nicht über Nachbarfehden hinausgegangen, so folgten nun große Unternehmungen. Kaum hundert Jahre waren erforderlich, um die ganze Halbinsel zur Unterwerfung zu bringen. Zuerst wurden die Latiner, welche Gleichberechtigung verlangten, in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht und die früher begonnene Unterwerfung der Etrusker vollendet. Dann erlag nach schweren Kämpfen dassabinische Bauernvolk der Samniten, das den Römern das reiche Unteritalien streitig machte. Endlich fielen die üppigen griechischen Kolonien Süditaliens, selbst die mächtigste, die Stadt Tarent, in ihre Hände. Ums Jahr 270 war die Eroberung Italiens beendet.* Ihre Machtstellung in den eroberten Landstrichen befestigten die Römer durch die Anlage großer Heerstraßen und die Errichtung eines ganzen Netzes von Militärkolonien, die ein bequemes Mittel waren, die Besiegten zu überwachen und die verarmten Bürger abzuschieben. Diese Orte besaßen das volle römische Bürgerrecht und hatten den Besiegten gegenüber eine bevorrechtete Stellung. Die Bundesgenossen. Die Besiegten, denen das Kriegs-, Münz- und Bündnisrecht genommen wurde, hatten eine sehr verschiedene Stellung. Mit großer Berechnung erzeugte man so unter ihnen Gegensätze. „Teile und herrsche 14 war römischer Staatsgrundsatz. Nach den Wenigen, die das volle römische Bürgerrecht besaßen, standen die Latiner am besten da, weil sie sich fast völlig selbst regierten. Eine Reihe von Gemeinden hatte das römische Bürgerrecht ohne das Stimmrecht; aber auch die Bedrücktesten besaßen einen Schein von Selbständigkeit, Man nannte die Italiker nicht Untertanen, sondern Bundesgenossen. Sie zahlten keine regelmäßige Steuer, * Die Poebene, Gallia cisalpina, rechnete man nicht zu Italien. 19 waren aber zum Kriegsdienst verpflichtet. So konnte Rom über etwa 800,000 Wehrfähige verfügen. III. Rom wird Weltmacht. Etwa ein halbes Jahrhundert vor dem Abschluß der Unterwerfung Unteritaliens durch Rom hatte Alexander von Makedonien sein großes Reich gegründet (336—323). Seine Eroberungen bedeuteten die Öffnung des ganzen reichen Ostens für das Abendland. Sie brachte einen nie gesehenen Aufschwung der Schiffahrt im Mittel- meer und eine hohe Blüte der Seestädte. Auch im Westen besaßen die Griechen koloniale Stützpunkte. Massilia, Syrakus und das bereits erwähnte Tarent waren griechische Großstädte. Mit diesen Handelsmächten trat Rom in Konkurrenz. 1. Die punischen* Kriege. (264—146 v. Ohr.) Karthago. Nur wenige Jahre nach der Eroberung Italiens begann mit dem Auslande das gewaltige Ringen um die Weltherrschaft. Rom war die größte Landmacht am westlichen Mittelmeere geworden. In Nordafrika aber, Sizilien gegenüber, lag die größte Seemacht des * Westens, Karthago. Diese Großstadt, eine Kolonie der Phönizier, besaß die kaufmännische Herrschaft in den westlichen Meeren. Zwanzig unterworfene Völker und dreihundert Städte zahlten ihr Tribut. Das Reich stand aber nicht auf festen Füßen; denn eine engherzige Geschlechterherrschaft beanspruchte alle Vorteile. Karthago kannte nur sehr arme und sehr reiche Bürger, die Untertanen wurden hart bedrückt und das Heer bestand hauptsächlich aus Söldnern, denen der bürgerliche Opfersinn fehlte. DerZusammenstoß auf Sizilien. (1. panischer Krieg.) Schon lange Zeit überwachten sich die Römer und die Karthager eifersüchtig. In Sizilien prallten sie aufeinander, da Rom nicht zusehen wollte, wie diese reiche Insel in Karthagos Hände fiel. Ein wildes, über zwanzig Jahre andauerndes Ringen entbrannte. Sieg und Niederlage wechselten in bunter Reihenfolge für beide Gegner. Aber die Römer, die im Landkriege unbestritten Meister waren, erlangten schließlich durch ihre Opferwilligkeit auch die Überlegen- , heit zur See. Die Kornkammer Sizilien wurde römisch und große Entschädigungssummen flössen in die siegreiche Stadt. Hannibals Angriff auf Rom. (2. panischer Krieg.) Rom hatte mit dem besiegten Gegner Frieden geschlossen; aber die zwei * Phönizier — Pönier = Panier. 20 Mächte hatten nicht Platz nebeneinander. Während die Stadt Karthago selber den Frieden um jeden Preis aufrecht zu erhalten suchte, bereitete die Familie Barkas, aus der eine Reihe vorzüglicher Kriegsführer hervorging, eine Entscheidung vor. Sie unterwarf Spanien, dessen Silberbergwerke die Geldmittel und dessen kriegerische Völkerschaften die Truppen zu einem Angriff auf Rom liefern sollten. Der junge Hannibal, ein geborener Soldat und Feldherr, gedachte die Römer im eigenen Lande anzugreifen. Dabei zählte er auf die Unterstützung durch die Gallier der Poebene, welche'kurz vorher von den Römern unterworfen worden waren; ja, er erwartete sogar den Anschluß der römischen Bundesgenossen. Mit einem Heere, das ihn abgöttisch verehrte und das neben 50,000 Fußsoldaten und 9000 Reitern auch 37 Elefanten mit sich führte, bahnte er sich einen Weg mitten durch un bezwungene, kriegerische Völkerschaften über die Pyrenäen und die Rhone bis zum Fuße der Westalpen. Nach den schrecklichen Mühseligkeiten des Alpenüberganges, der ihn das halbe Heer kostete, vernichtete er zwei römische Heere. Darauf erfolgte ein Massenanschluß der Gallier, der die Lücken seines Heeres ergänzte. Nun trat er den Vormarsch nach Mittel- und Süditalien an und schlug in zwei weiteren Feldschlachten die Römer; bei Cannä lagen ihrer 70,000 erschlagen. Wohl fielen verschiedene süditalische Völker von Rom ab; aber Mittelitalien, das schon zu sehr mit den Römern verwachsen war, widerstand allen Lockungen, so daß Hannibal einen Angriff auf die feindliche Hauptstadt nicht wagen durfte. Er erschöpfte sich durch viele Belagerungen und konnte nicht verhindern, daß abgefallene Städte, wie Syrakus, die schönste Stadt jener Zeit, und Capua, nach Rom • die bedeutendste Stadt Italiens, grausam vernichtet wurden. Nie waren die Römer größer, als in jenen Unglückszeiten. Jeder Parteihader schwieg, alles, bis zu den Knaben, war bewaffnet. Das engherzige Karthago dagegen ließ seinen großen Feldherrn ohne genügende Unterstützung. Als die Römer den Krieg nach Spanien hinübertrugen und dieses reiche Land eroberten, war Hannibal allen Nachschubes beraubt und ganz in Verteidigungsstellung gedrängt. Endlich landete der Besieger Spaniens, Publius Cornelius Sci- pio, mit einem Heere in Afrika, und Hannibal mußte den Schauplatz seiner Siege verlassen, um die eigene Vaterstadt zu verteidigen. Trotz seiner Kriegskunst entschied die Schlacht von Zama, 202 v. Chr., zugunsten der überlegenen Römer, und Karthago sank zur 21 tributpflichtigen Stadt herab. Das westliche Mittelmeer war römisch. Karthagos Fall. (3. panischer Krieg.) Nachdem die unglückliche Stadt noch ein halbes Jahrhundert geduldet worden war, fand sie 146 v. Chr. ihren Untergang. Nach dreijähriger Belagerung nahmen die Römer Karthago im Sturm, brannten es nieder und verkauften die 50,000 überlebenden Bewohner in die Sklaverei. Die Römer pflegten mit Gegnern, vor denen sie gezittert hatten, gründlich abzurechnen. 2. Die Eroberung des Ostens. Parallel mit der Unterwerfung Karthagos ging die Besiegung des Hellenentums. Die makedonische Monarchie hatte zugunsten der Punier eingegriffen. Nach drei großen Kriegen wurde dieser Kriegsstaat in der Schlacht von Pydna (168 v. Chr.) durch Lucius Ämilius Paullus zertrümmert. Auch die Griechen in ihrem Stammlande wurden in dessen Fall verwickelt. Im gleichen Jahre wie Karthago wurde die blühende Handelsstadt Korinth, eine Rivalin Roms in den östlichen Meeren, zerstört. Die Bewohner wurden als Sklaven verkauft und ihre Kunstschätze nach Rom geführt. Auch in Kleinasien, Syrien und Ägypten gebot von jetzt an das römische Machtwort, wenngleich den dortigen Herrschern noch eine Scheinexistenz gewährt wurde. 3. Die römischen Provinzen. Die außeritalischen Länder wurden als Ausland betrachtet, und deshalb waren sie minderen Rechtes. Sie wurden zu Provinzen eingerichtet und standen unter römischen Statthaltern, die unumschränkt regierten. Im Gegensatz zu Italien waren sie Steuer-, aber nicht wehrpflichtig. Auch unter den Provinzen herrschten große Unterschiede, von den befreundeten, ebenbürtigen Bundesstädten bis hinab zu den Gemeinden, die in Gericht und Verwaltung unter römischen Beamten standen. In kluger Weise griffen indes die Römer nicht in Religion, Sitten und Gewohnheiten der Untertanen ein, so daß ihre Herrschaft leichter ertragen wurde. IV. Der Verfall der Republik. 1. Die Vernichtung des römischen Bauers. Die wirtschaftliche Änderung. Die Erwerbung der Weltherrschaft barg die Keime des inneren Verfalls für das römische Reich in sich. Nach dem zweiten panischen Kriege verdrängte der Großgrundbesitz die kleinen Betriebe. Er arbeitete mit Sklaven. Da die Kriegsgefangenen nach damaligem Rechte Sklaven wurden, verschafften die vielen Kriege billiges Arbeitermaterial. Die kornreichen Provinzen: Sizilien. Sardinien, Nordafrika, lieferten billiges Getreide, so daß der Bezug im eigenen Lande aufhörte. Die Bauern um Rom, große und kleine, mußten zur Viehzucht übergehen, so daß der blühende Bodenbau Italiens zerfiel. Die panischen Kriege hatten die Hälfte der römischen Bauern und unzählige Güter vernichtet. Die heimkehrenden Krieger hatten weder Geld noch Lust zur Arbeit. In den Großgrundbesitzern fanden sie willige Käufer ihrer Güter. Die reichen Senatorenfamilien erwarben ungeheure Ländereien; wo früher hundertfünfzig Bauernfamilien genügend Unterhalt gefunden hatten, lebten nun fünfzig unverheiratete Sklaven. Der römische Bettelbürger. Wer kein Land besaß, war ein Bettler. Da auch in Handwerk und Handel die billigen Sklaven verwendet wurden, fand der freie Mann keine Arbeit, abgesehen davon, daß er eine Beschäftigung in jenen Berufsarten als schimpflich erachtete. Ein Teil der Besitzlosen nahm dauernd Militärdienst, ein anderer zog in die Stadt. Auch als Weltmacht war Rom ein Stadtstaat. Noch immer mußten die Bürger ihr Stimmrecht auf dem römischen Forum (Marktplatz) ausüben. Die städtische Bevölkerung war ausschlaggebend, da die entfernt wohnende Landbevölkerung gewöhnlich der Abstimmung fernblieb. Infolgedessen konnte der Städter sein Stimmrecht leicht in Geld ummünzen. Wohl war der arme Bürger außerstande, sich um Ämter zu bewerben, da diese unbesoldet und gewöhnlich mit großen Ausgaben verbunden waren; aber er trat als Stimmknecht in den Dienst der Reichen, die durch Stimmenkauf alle hohen Ämter in ihre Hände brachten. 2. Der neue Adel. (Die Mobilität.) Da die Senatoren aus den Beamten ernannt wurden, kam der Senat in die Hände der Reichen. Es bildete sich ein neuer Adel, ein Beamtenadel. Gastmähler, Korn- und Geldspenden, Mieterlasse und aufregende Unterhaltungsspiele zwangen die 300,000 Bettelbürger in die Gefolgschaft der Großen. Die Mobilität erzog ihre Söhne zu Nachfolgern; sie eignete sich die feinen griechischen Umgangsformen an, so daß sich eine eigene Kaste herausbildete. Auch äußerlich wollte dieser neue Adel ausgezeichnet werden. Die Senatoren, die alle auf Lebenszeit gewählt waren, trugen auf ihrer weißen Wollkleidung den breiten Purpurstreifen; sie hatten den goldenen Armring, besondere Schuhe und bei den Festen bevorzugte Plätze. Ein weiterer bevorzugter Stand, ebenfalls mit äußeren Ehrenzeichen — schmaler Purpurstreifen und 23 goldener Armring — war die Ritterschaft, ein Geldadel, dem die Bürger angehörten, die über 100,000 Fr. Vermögen besaßen. Diese hatten den Großhandel in den Händen, sie pachteten die Steuern, Bergwerke, Zölle, Staatsländer und Armeelieferungen, die alle gegen Pauschalsummen versteigert wurden. 3. Der sittliche Verfall. Die Auslagen, die zur Erlangung eines Amtes gemacht werden mußten, suchte der Beamte durch Unterschleife und Betrügereien wieder einzubringen; ja mancher verstand es, darüber hinaus sich ein großes Vermögen zu erwerben. Die Kriegsbeute floß in die Tasche der Feldherren, die Pachtgelder wurden unterschlagen und die Provinzen schmählich ausgebeutet. — Auch die Ritterschaft erpreßte aus den wehrlosen Provinzen ungeheure Summen, so daß sie unter den Blutsaugern verarmten. Bauern waren einst die Generale, Bauern die Staatsmänner gewesen. Das hatte geändert. Der vornehme Römer verpraßte sein Einkommen in der Stadt. Er mied den beschwerlichen Kriegsdienst. Der morgenländische Luxus, die griechische Weichlichkeit verwandelten den einst ernsten, abgehärteten Römer in einen verfeinerten, lasterhaften, dem Genusse nachjagenden Orientalen, scheute doch mancher selbst vor Vaterlandsverrat nicht zurück, um die Mittel zu diesem Schlemmerleben aufzutrei- ben. Ungehört verhallten die Mahnrufe der strengen Altrömer. Man haßte und verspottete diese als unbequeme und lästige Sittenprediger. V. Die Zeiten der Bürgerkriege. — Übergang zur Alleinherrschaft. 1. Die Reformversuche der Gracchen. Die innere Fäulnis brachte Schimpf und Schande über das Reich. Die Feldherren waren unfähig und käuflich, so daß die Großmacht auch mit kleinen Gegnern nur mit größter Mühe fertig wurde. Aus den Reihen der Nobilität selber rief man zur Umkehr. Durch Landverteilung sollte der Bettelbürger wieder seßhaft gemacht und der alte solide Bauernstand wieder hergestellt werden. Tiberius Sempronius Gracchus. Zur Durchführung dieses Planes ließ sich der vornehme und edle Tiberius Gracchus zum Volkstribunen wählen, und sofort brachte er ein altes, aber längst mißachtetes Ackergesetz zur Abstimmung. Darnach sollte der Besitz an Gemeindeland gegen Entschädigung an die bisherigen Inhaber eingeschränkt und das so gewonnene Land an arme römische Bürger 24 und Bundesgenossen zwar nicht zu freiem Eigentum, aber in unveräußerliche Erbpacht gegeben werden. Der feurige Redner erlangte die Zustimmung des römischen Proletariats. Als ein durch den Senat gewonnener Mittribun Einsprache gegen das Gesetz erhob und es dadurch gefährdete, zögerte Tiberius nicht, ihn auf gesetzwidrige Weise abzusetzen. Um seine Reformen zu Ende zu führen, bewarb er sich, entgegen der herrschenden Sitte, auch für das folgende Jahr um das Tribunat. Der erschrockene Senat aber überrumpelte die Wahlversammlung, erschlug Tiberius und räumte durch einen Massenmord unter dessen Anhängern auf. Gajus Sempronius Gracchus. Nicht besser erging es seinem jüngeren Bruder Gajus, der neun Jahre später mit noch größerer Energie die Reformen betrieb. Das Volk gewann er durch staatliche Getreidespenden, die Ritterschaft dadurch, daß er ihr das Richteramt über die Beamten übertrug. So war er zwei Jahre lang als Tribun beinahe Alleinherrscher und imstande, die Ackerverteilung weiter zu führen. Selbst außerhalb Italiens versuchte er Kolonien zu gründen (Karthago). Als er aber Latiner und Bundesgenossen in seine Fürsorge einbeziehen wollte, schwenkte das eigennützige und charakterlose Volk Roms von ihm ab und verwarf den Antrag. Ein bestochener Mittribun untergrub sein Ansehen, indem er dem Volke, aber nur dem römischen, weitgehende Vorteile verschaffte. So unterlag Gajus bei der dritten Tribunenwahl. Die siegreiche Senatspartei suchte nun die Gesetze des Ge- fürchteten aufzuheben. Das führte zum Bürgerkrieg. In wildem Straßenkampfe wurden die Anhänger der Gracchen überwältigt. Gajus ließ sich durch einen Sklaven töten, während der rachsüchtige Senat Tausende seiner Partei elend hinschlachtete. 2. Die Zerrüttung des Reiches. Der römische Staat aber kam nicht zur Ruhe. Die Parteikämpfe dauerten fort und brachten das Reich ins Wanken. Rom mußte den Bundesgenossen das Bürgerrecht zugestehen, um eine geplante Losreißung zu verhindern. Die Seeräuberei schädigte den Handel, und Sklavenaufstände bedrohten Rom. Der Parteihaß führte zu entsetzlichen Greueln. Einst verhängte der Volksführer Marius, einer der berühmtesten Feldherrn, ein fünftägiges Morden über Rom, dem die hervorragendsten und edelsten Bürger zum Opfer fielen. Wenige Jahre später war die Senatspartei wieder Meister, und ihr Führer Sulla, der glückliche Nebenbuhler 25 des Marius, suchte die Volkspartei geradezu auszurotten, indem er in Italien über 100,000 Menschen umbrachte. Diese Schreckenstaten waren nur dadurch möglich, daß eine längst begonnene Umwandlung des Heeres ihren Abschluß gefunden hatte. Der Bürgersoldat hatte dem Söldner Platz gemacht. Mit Hilfe des ergebenen Heeres, dem man alles erlaubte und das man reichlich belohnte, riß der Feldherr die Staatsgewalt an sich. Die Republik hatte ausgelebt und mußte der Einzelherrschaft der Heerführer weichen. 3. Qajus Julius Cäsar wird Alleinherrscher. (45 v. Chr.) Der Dreimännerbund (Triumvirat). Zunächst schlössen sich die bedeutendsten Männer Roms zu einem Geheimbunde zusammen: Pompejus, der erste Feldherr, Crassus, der reichste Römer und Cäsar, ein beliebter Führer der Volkspartei. Das gekaufte Volk, das nur Brot und Spiele verlangte, übertrug ihnen die höchsten Staatsstellen und die Verwaltung des Reiches. Cäsar in Gallien. Julius Cäsar, der genialste der drei Männer, erhielt die Statthalterschaft beider Gallien und Illyriens. Da vorn jenseitigen Gallien nur die Mittelmeerküsten römisch waren, stellte er sich die Aufgabe, die Gallier, das Hauptvolk der Kelten, ganz zu unterwerfen. Dabei kam ihm zu statten, daß die Gallier, ein entwickeltes Kulturvolk, in viele Stämme zerfielen, die in ewigem Hader lebten. Sie vermochten ihre ungeheure Übermacht nicht auszunützen und wurden nach zehnjährigem Kampfe eine Beute der Römer. Auch die Helvetier, die in Gallien eingedrungen waren, wurden durch die Schlacht von Bibrakte von Rom abhängig. Kühne Züge nach Germanien und Britannien sicherten die neuen Reichsgrenzen. Die Schätze der eroberten Länder aber verschafften Cäsar die Mittel, sich eine treue Anhängerschaft zu erwerben. Cäsar und Pompejus. Nachdem Crassus im Osten des Reiches gefallen war, kam es zwischen den zwei andern Gewalthabern zum Bruche. Pompejus sah sich durch Cäsars Erfolge in den Schatten gestellt und verband sich mit dem Senate zu dessen Sturze. Der siegreiche Feldherr sollte sofort sein Heer entlassen und die Statthalterschaft abgeben. Cäsar war aber nicht gesonnen, sich seinen Feinden wehrlos auszuliefern, sondern marschierte gegen Rom. Sein Nebenbuhler, der sich nicht vorgesehen hatte, mußte mit seinen Freunden und seinem Heere nach Osten entfliehen. In einem vierjährigen Bürgerkriege zeigte sich Cäsar wiederum als unübertrefflicher Feldherr. Nachdem alle seine Gegner gefallen waren 26 oder sich selbst getötet hatten, war die Alleinherrschaft entschieden. 45 v. Chr. VI. Rom unter den Kaisern (Cäsaren*). 1. Cäsars Monarchie. Der Übergang zur Monarchie vollzog sich beinahe unbemerkt. Senat und Volksversammlung wurden belassen, da scheinbar alles beim alten blieb. Ihre Beschlüsse übertrugen Cäsar die höchsten Ämter, so daß er als außerordentlicher Beamter tatsächlich alle Machtmittel in seiner Person vereinigte. Als Inhaber der höchsten Amtsgewalt trug er den ständigen Ehrentitel Imperator**, und da er auch Tribun war, galt seine Person als heilig und unverletzlich. Als Zensor ernannte er die Senatoren, und als Oberpriester hatte er die Oberaufsicht über die religiösen Angelegenheiten. Alle Handlungen Cäsars galten als gesetzkräftig, und alle Beamten mußten schwören, seinen Anordnungen nachzukommen. Cäsars Regierung. Obgleich Cäsar durch die Volkspartei emporgekommen war, lieferte er die besiegte Senatspartei nicht aus, sondern gewann durch seine Milde viele ehemalige Gegner. Mit fester Hand schützte er die Provinzen vor der Willkür der Statthalter. Einen großen Teil der städtischen Bettelbürger (80,000) führte er in überseeische Kolonien ab. Durch großartige Bauten verschaffte er Verdienstgelegenheit. Seinen Veteranen gab er in Italien und in den Provinzen Landgüter ab, und viele verstanden mit Pflug und Hacke ebensogut umzugehen wie mit dem Schwerte. Karthago und Korinth empfingen Kolonisten und gingen einer neuen Blüte entgegen. Weitherzig verlieh er vielen Provinzialen das römische Bürgerrecht. Die in Verwirrung geratene Zeitrechnung ließ Cäsar durch die Einführung des Sonnenjahres und Schalttages wieder in Ordnung bringen. (Julianischer Kalender.) Cäsars Tod. Wie Cäsar selber dem Volke durch Festessen und glänzende Fechterspiele schmeichelte, so duldete er selber die widrigen Schmeicheleien seiner Anhänger. Im Senat saß er auf goldenem Throne, die Münzen trugen sein Bild, seine Statue stand neben denen der sieben Könige, sein Geburtsmonat erhielt den Namen Julius. Seine Günstlinge errichteten ihm als einem Gotte Statuen und begrüßten ihn öffentlich als König. Darum besaß Cäsar viele heimliche Gegner, besonders im Senat. Die einen fühlten sich zurück- * Per Geschlechtsname wurde zu einem Titel. Von Cäsar ist abgeleitet „Kaiser“ und „Zar“. ** Davon das französische „Empereur“. 27 gesetzt, andere konnten den Untergang der alten Senatsherrschaft nicht verwinden. Offen wagte niemand dem Gewaltigen entgegenzutreten. So schritt man zum Meuchelmorde, an dem sich viele frühere Gegner beteiligten, die der Sieger einst geschont und nachher mit Gunst und Würden ausgezeichnet hatte. In einer Senatssitzung fiel Cäsar unter den Dolchstichen der Verschworenen. 2. Die endgültige Einrichtung des Kaiserreichs. Cäsar Octa- vianus Augustus (31 v. Chr.). Die Untat stürzte das Reich in neue Bürgerkriege. Die Mörder standen allein. Volk und Heer hatten kein Verlangen nach der verkommenen Adelsregierung und forderten Rache. Weniger Würdige traten an Cäsars Stelle und übernahmen die Blutrache. Ein neues Triumvirat riß die Macht an sich und rottete in furchtbarem Morden alle Gegner Cäsars und die Freunde der Republik aus und verschafften sich durch Gütereinziehungen die nötigen Mittel. Nachher stritten sie untereinander um die Alleinherrschaft. Der Sieger war der junge Großneffe und Adoptivsohn Cäsars, Gajus Julius Cäsar Octavianus; der seit 31 v. Chr. unbestritten bis zu seinem Tode, 45 Jahre lang, die Leitung des Reiches besaß. Darum bezeichnet man ihn als den ersten römischen Kaiser. Er führte die Regierung ganz im Sinne Cäsars, als Inhaber der höchsten Ämter. Doch vermied er den äußeren Pomp und wollte nur als erster Bürger des Reiches gelten. Der Senat gab ihm den Ehrennamen Augustus*, d. i. der Erhabene. Schon zu seinen Lebzeiten errichteten ihm die Provinzen Tempel und Altäre. Cäsar Augustus suchte die blutigen Zeiten seines Aufkommens vergessen zu machen. Er gab dem Reiche den so nötigen Frieden und führte nur Kriege zum Schutze der Grenzen, an denen ein Heer von zirka 300,000 Mann unter Waffen stand. In und um Rom standen zu seiner Sicherheit die Prätorianer, seine Gardetruppen. In dieser Friedenszeit begannen die Provinzen wieder aufzublühen, besonders, da Augustus seine Statthalter und Beamten aufs strengste beaufsichtigte. Ackerbau, Handel und Gewerbe erholten sich, Literatur und Kunst erlebten die höchste Blüte. Die Donau bildete die Nordgrenze des Reiches, da Augustus die wilden, räuberischen Alpenvölker (z. B. die Rätier) hatte unterwerfen lassen. Auf eine völlige Unterwerfung Germaniens verzichtete er, nachdem sein Feldherr Varus im Teutoburger Walde eine vernichtende Niederlage erlitten hatte. * Wurde zum Titel der Alleinherrscher. 28 Die Nachfolger. Hundert Jahre regierte das Haus des Augustus. Es entartete aber durch seine Laster und rottete durch Verwandtenmord sich selber aus. Aber die Einherrschaft blieb erhalten. Etwa vorn Jahre 100 bis zum Jahre 180 n. Chr. regierten eine Reihe ausgezeichneter Kaiser (Trajan, Hadrian, Antoninus Pius, Mark Aurel), unter denen das römische Reich die größte äußere Blüte erreichte. VII. Kulturzustände unter dem Kaiserreiche. 1. Das Kriegswesen. Rom war ein ausgesprochener Militärstaat. Durch das Heer war die Einherrschaft zustande gekommen, und es blieb die Stütze des Kaisers, des obersten Kriegsherrn. Der Militärdienst wurde eine Erwerbsquelle der besitzlosen Bürger. Während man früher nur im Bedürfnisfalle ein Heer aushob, wurde das geworbene Söldnerheer stehend und diente vor allem zum Schutze der Grenzen. Die Soldaten waren in Legionen zu 6000 Mann ä 10 Kohorten gegliedert. Reiter und Leichtbewaffnete bildeten die Hilfs- truppen, die entweder in den Provinzen ausgehoben oder von ausländischen Völkern für Sold geworben wurden. Feldzeichen war der silberne Adler, der auf einer Stange getragen wurde. Nach Ablauf der zwanzigjährigen Dienstzeit wurde der Soldat gewöhnlich angesiedelt und mit Land ausgestattet; den Nichtbürgern schenkte man meist das Bürgerrecht. Wer noch länger diente, zählte zu den Veteranen, die eine Elitetruppe bildeten und viele Vorzüge genossen. Schild, Helm und Panzer schützten den Krieger; Hauptwaffen des Legionärs waren das gefürchtete, kürze, breite, zweischneidige Schwert mit stählerner Spitze (Stoßwaffe) und der Wurfspeer. Strenge Übungen erzogen abgehärtete Krieger. Die nötigen Lebensrnittel und Gerätschaften wurden bündelförmig auf ein Brett geschnürt und an einem Stäbe auf der linken Schulter getragen, vor der Schlacht aber abgelegt. Nach dem Marsche nahm ein befestigtes Lager die Soldaten auf. Die Standlager, die für längeren Aufenthalt dienten, gaben oftmals Anlaß zu Städtegründungen. Der Soldat wurde zu den verschiedensten Arbeiten verwendet; er baute Straßen, Brücken, Wasserleitungen usw. und eroberte mit dem Spaten das Land zum zweiten Male. Für den Belagerungskrieg dienten gewaltige, mehrstöckige bewegliche Türme, die man auf einem angeschütteten Damme gegen die Mauern führte. Sie waren mit Mauerbrechern, Fallbrücken und Geschützen versehen, die 29 den Armbrüsten nachgebildet waren und Pfeile, aber auch Steine und Balken warfen. Die Disziplin war streng und hart; dagegen standen den tapferen Truppen vielerlei Belohnungen und Ehrenzeichen in Aussicht. Die höchste Auszeichnung war der Triumph, d. h. der prunkvolle Einzug des siegreichen Feldherrn in die festlich geschmückte Hauptstadt. Eine bevorzugte Truppe, mit höherem Solde, waren die Präto- rianer. Diese Gardetruppen, 10,000 Mann stark, waren in einer festen Kaserne in Rom garnisoniert und hatten die Aufgabe, die Person des Kaisers zu schützen. Die stolze Garde war, ihrer Gewalttaten wegen, bei der Bevölkerung verhaßt und wurde mit der Zeit auch für den Kaiser eine Gefahr, da sie anfing, bei der Nachfolge mitzusprechen. Die starke Flotte diente hauptsächlich zum Schutze gegen die Seeräuberei, die eine Hauptplage der alten Zeit war. 2. Die Baukunst. Infolge der griechischen Einflüsse erlebte die Kunst eine schöne Blüte. Die Verbindung der griechischen Säulen mit dem römischen* Gewölbe ermöglichte stolze Gewaltbauten (z. B. Kuppeln). Das Streben nach Glanz und Pracht rief einer Menge Anlagen, die alle das Gepräge der Macht und Großartigkeit erhielten. Die Kaiser ließen sich angelegen sein. ihre Hauptstadt durch reiche Tempel- und Staatsbauten auszuschmücken. Schon Augustus rühmte sich, die Lehmstadt in eine marmorene verwandelt zu haben. Nachdem die alten, engen, winkligen und zum Teil recht ungesunden Stadtteile durch Feuersbrünste zerstört worden waren (z. B. unter Nero), erhielt die Stadt breite, von Säulenreihen begleitete Straßen, die mit Steinplatten belegt waren und Trottoirs hatten, ferner große Plätze, solidere und schönere Häuser. Die großartigsten Bauten konzentrierten sich um das Forum, den früheren Mittelpunkt des politischen Lebens. Aber auch die anderen Stadtteile hatten imposante Anlagen: stolze Tempel, Thermen voll Pracht und Luxus, Theater, Amphitheater, Zirkusse; vor allem waren es Bauten, die den Unterhaltungsbedürfnissen des Volkes dienten. Daneben schufen die Kaiser Nutzbauten von unverwüstlicher Dauer: Hafenanlagen, Heerstraßen, Brücken und stundenlange Wasserleitungen, die entweder unterirdisch oder auf mächtigen Bogen das Wasser in die vielen Brunnen und Bäder führten. Zur Entwässerung der tiefgelegenen Quartiere dienten unterirdische Ab- ♦Von den Etruskern entlehnt. 30 zugskanäle, die Kloaken. Riesige Ruhmesdenkmäler, wie Triumphbogen, Grabmonumente, Ehrensäulen erinnern noch heute an die mächtigen Herrscher. Mit den kaiserlichen Bauten wetteiferten die glänzenden Paläste und Villen der Vornehmen in der Stadt Rom. Das vornehme römische Haus. Während die Wohn Verhältnisse der ärmeren Klassen recht schlimm waren, schufen sich die Reichen geradezu paradisische Wohnungen. Durch griechische Einflüsse wurden die römischen Hausanlagen umfangreicher und luxuriöser. Von der Straße gelangte man in einen Vorflur, dann durch die Türe in den Hausflur, endlich in das Atrium, eine große, viereckige Halle, die in der Mitte durch eine Dachöffnung Luft und Licht empfing. Unter derselben war im Fußboden ein Bassin zur Aufnahme des Regenwassers. In der verfeinerten Zeit war das Atrium das Empfangszimmer; hier hatte die Nobilität ihre Ahnenbilder, aus Wachs verfertigte Porträtmasken, aufgestellt; Inschriften verkündeten Namen, Würden und Taten der Vorfahren. — Ein Prachtzimmer stellte die Verbindung her mit dem Peristylum, einem von gedeckten Säulengängen umgebenen Hof, der mit Blumenanlagen, Rasenplätzen und Springbrunnen geschmückt war. An diesen Hauptteil des Hauses schloß sich meist noch ein Garten. Um Halle und Hof gruppierten sich die Zimmer, die dem täglichen Gebrauch oder dem Luxus dienten: Speise-, Schlaf-, Wohn- und Unterhaltungszimmer, Prachtsalons, Bibliothek, Gemäldegalerie, Hauskapelle mit den Hausgöttern, Badezimmer und Küche. Die Bedientenräume waren meist im Obergeschoß. Die innere Ausstattung war reich und glänzend. Die Fußböden zeigten kunstvolle Mosaikarbeiten, die Wände Marmorplatten oder prachtvolle Freskogemälde; die Decken waren schön getäfelt, die vertieften Felder mit Stuck und Elfenbein, Malerei oder Vergoldung verziert. Da das römische Haus sein Angesicht nach innen wandte, war das Äußere nur von wenig Fenstern durchbrochen, die schon Verglasung zeigten. Kamine, Kohlenbecken und tragbare Öfen dienten zur Heizung. Die Wärme wurde in einem Heizraume unter dem Fußboden entwickelt und durch Heizröhren in die Wände der Zimmer geleitet. Zur Beleuchtung dienten Kerzen und Öllampen in kunstvollen Formen. Statuen, feine, kostbare Tische, Ruhebetten, teure Gerätschaften und Gefäße aus Holz, Ton, Bronze, Marmor und Edelmetallen schmückten die Räume. 31 3. Die Religion. Das Heidentum. Der alte Römer verehrte die Naturkräfte, unter deren Gewalt er sich fühlte; durch genaue Befolgung der staatlichen religiösen Gebote glaubte er, ihre Gunst zu erlangen. Die Kulte fremder, unterworfener Völker wurden sehr leicht angenommen; so hatten die Griechen schon sehr frühe großen Einfluß und in Nachahmung ihrer Gepflogenheiten fing man an, die früher unpersönlichen Götter in menschlicher Gestalt nachzubilden. Als höchste Staatsgötter wurden Jupiter, Juno und Minerva verehrt, die auf dem Kapitel, einem der sieben Hügel Roms, einen gemeinsamen Tempel erhielten. Sie entsprachen den griechischen Göttern Zeus, Hera und Pallas Athene. Die gottesdienstlichen Handlungen wurden für die Familie durch den Hausvater, für den Staat durch die Priesterschaft vorgenommen. Ihren Mittelpunkt bildete das Opfer. Das unblutige Opfer bestand aus Früchten, Speisen usw., das blutige aus Tieren; für Jupiter opferte man den Stier, für Juno die Kuh usw. Hoch angesehen war der Kult der Vesta, der Göttin des Herdfeuers, der Schätzerin des häuslichen Lebens. Sie wurde in ihrem Tempel unter dem Symbol des ewigen Feuers verehrt, dessen Erhaltung den Vestalinnen oblag. Es waren dies sechs Priesterinnen, welche dreißig Jahre in ihrem Amte zu verbleiben hatten. Sie wurden von einem Liktor begleitet und genossen Ehrenplätze bei den Spielen. Ihre Begleitung schützte vor jedem Angriff und ihre zufällige Begegnung rettete den Verbrecher. Vor jeder wichtigen Staatshandlung mußten die Auguren, Vogelschauer, die Zeichen deuten. Nach römischer Auffassung gab Jupiter für Kundige Äußerungen der Mißbilligung oder Zustimmung, die aus dem Fluge der Vogel, dem Blitze, dem Fressen der heiligen Hühner erkannt wurden. Wenn diese z. B. gierig nach den vorgeworfenen Mehlklößen liefen und beim Fressen Stücke davon fallen ließen, war das Zeichen günstig. Die Auguren bekamen großen Einfluß auf die Politik, den sie jedoch im Laufe der Zeit wegen Mißbrauch und Betrug einbüßten. Mit den panischen Kriegen kam der religiöse Verfall. Die Römer wandten sich mit Vorliebe den fremdartigen, oft rohen Kulten des Orientes zu. Die priesterlichen Würden dienten politischen Zwecken. So war Cäsar Oberpriester, und auch seine Nachfolger beanspruchten dieses Amt. Das Christentum. Die Geburt Christi wird ins 31. Jahr des 32 Kaisers Augustus verlegt. Die christliche Lehre fand sehr rasch Verbreitung. Besonders in den Städten des Ostens zählte sie immer mehr Anhänger, aber auch im Westen, selbst in Rom bildeten sich Christengemeinden. (Das Wirken des Apostels Paulus.) Schon zur Zeit Neros müssen sie zahlreich gewesen sein. Eine riesige Feuersbrunst hatte Rom beinahe vernichtet (64 n. Chr.), und man bezeichnete die verhaßten Judenchristen als Brandstifter. Mit grausamem Behagen verhängte der Kaiser über sie die entsetzlichsten Verfolgungen. Da die Christen sich absonderten, die Verehrung und Anbetung des Kaisers zurückwiesen, Staats- und Ehrenämter mieden, brachten ihnen selbst gute Kaiser großes Mißtrauen entgegen und ließen sie verfolgen. Die griechisch gebildeten Vornehmen hielten sich von der Religion der Armen mit Abscheu zurück. Aber die Stand- haftigkeit der Märtyrer imponierte dem Volke. Die Notzeiten, welche die alten Götter nicht abzuwenden vermochten, führten der neuen Lehre immer neue Bekennen zu, so daß die Christen in Heer und Beamtenschaft einen nicht zu unterschätzenden Bruchteil ausmachten. Die letzte, furchtbare Verfolgung geschah unter Diokletian, einem sonst vorzüglichen Kaiser. Sie war ein Schlag ins Wasser; schon wenige Jahre später erließ Kaiser Konstantin ein Duldungsedikt, um sich die Macht der Christen dienstbar zu machen. Etwa 80 Jahre später verbot Theodosius (zirka 400 n. Chr.) das Heidentum. Die heidnischen Tempel wurden geschlossen, und die Verfolgung richtete sich nun gegen die Heiden. Das verwilderte, fanatische Volk vernichtete die schönsten Götterbilder und Tempelbauten des Altertums. 4. Die Spiele. Zur Erhöhung der religiösen Feste dienten die staatlich eingeführten Spiele, die regelmäßig wiederkehrende Jahresfeste wurden. Am Ende der Republik waren fünfundsechzig Spieltage. Besondere Beamte besorgten ihre Durchführung, und sie mußten aus der eigenen Tasche Zuschüsse machen, da die Staatsbeiträge nicht reichten. Durch die Pracht der Spiele erwarben sie die Gunst des Volkes und damit die höchsten Ämter, um sich nachher an den Provinzen schadlos zu halten. Später buhlten die Kaiser um die Volksgunst, und um die Römer von der Politik abzulenken, wurden die Spieltage mehr als verdoppelt. Nach dem üblichen Festopfer eröffnete man die Spiele mit einem feierlichen Zuge, der sich vorn Kapitel über das Forum nach dem Zirkus bewegte. Staatsbeamte, Senatoren und Ritterschaft 33 wohnten den Spielen in ihrer Amtstracht bei und das Volk trug das Nationalkleid, die Toga. Es gab drei Arten von Spielen: 1. Die Zirkusspiele. Sie bestanden aus Pferde-und Wagenrennen, Wettlauf, Ring- und Faustkämpfen. Sie wurden im Zirkus maximus abgehalten, der gegen 400,000 Zuschauer faßte. 2. Die Theaterspiele. Griechische Theaterstücke wurden für die römische Bühne bearbeitet. Daran schlössen sich die volkstümlichen Aufführungen nach Art der Possen und Schwanke. 3. Die Gladiatoren- oder Fechterspiele. Sie fanden ursprünglich im Zirkus, später in besonders erbauten Amphitheatern statt. Das Kolosseum in Rom bot Raum für zirka 90,000 Menschen. Die Gladiatoren waren Kriegsgefangene, Sklaven oder Verbrecher, die in besonderen Fechterschulen für ihren Beruf ausgebildet wurden. Zu diesen Spielen gehörten Tierhetzen, Kämpfe mit wilden Tieren, oder Kämpfe dieser Tiere unter sich. Der schaulustige Römer wollte sogar die Schrecken der Seeschlacht sehen. Zu diesem Zwecke setzte man die Arena unter Wasser oder benutzte die natürlichen Seen. Zu den Unterhaltungsanstalten gehörten auch die Thermen, öffentliche Bäder, in denen der Römer viele Stunden des Tages zubrachte. Aus den Ankleideräumen trat der Badende in ein mäßig erwärmtes Zimmer, wo er gesalbt und mit dem Striegel behandelt wurde. Dann nahm er ein Warm- oder ein Schwitzbad und erfrischte sich darauf mit einem kalten Bade oder in der Schwimmhalle. Zum Schlüsse ließ er sich kräftig abreiben und wiederum salben. Mit den Thermen waren oft großartige Anlagen für körperliche Übungen, Spiele und Unterhaltungen verbunden. Die Therme des Kaisers Diokletian enthielt 3000 Badezimmer und ein Schwimmbassin für 2000 Badende. 5. Die Sklaven. Das römische Volk verachtete die gewöhnliche Arbeit und überließ sie größtenteils den Sklaven. Der vornehme Römer hatte deren Tausende im Dienste; sie waren entweder für seine persönliche Bedienung in der Stadt oder für die Landarbeit bestimmt. Besonders hart war die Lage dieser Land- • Sklaven, die oft in Ketten arbeiteten und in halb unterirdischen Kasernen untergebracht wurden. Da die vielen Kriege billige Sklaven lieferten, wurde deren Arbeitskraft schonungslos ausgebeutet. Bis zur Kaiserzeit war der Sklave völlig rechtlos. Wenn er seinen Herrn tötete, so büßten alle Mitsklaven mit dem Tode. Für geringe Creschichtslehrmittel. 3 34 Vergehen erhielt er die Geißelung, für den Fluchtversuch ein Brandmal auf die Stirne. Als Todesstrafe galt die Kreuzigung. Krieg und Raub verschafften Sklaven. Ämilius Paullus verkaufte 150,000 Epi- roten; Cäsar soll gar eine Million Gallier nach Rom gebracht haben. Die Sklaven wurden auf besonderen Märkten feilgeboten. Sie trugen am Halse einen Zettel, der Auskunft über Heimat, Alter, Vorzüge und Gebrechen gab. In Italien waren sie viel zahlreicher als die freie Bevölkerung. Man durfte sie nicht durch eine besondere Kleidung auszeichnen, aus Furcht, daß sie sich zählen und ihre Macht erkennen könnten. Die Sklaverei galt als etwas Selbstverständliches; jeder Fremde war rechtlos, weshalb niemand an ihre Abschaffung dachte. Sklavenaufstände, die zur Zeit der Bürgerkriege aus Verzweiflung über die schlechte Behandlung erfolgten, wurden grausam niedergeworfen. So ließ einst Crassus an der Landstraße von Rom nach Kapua 6000 Sklaven ans Kreuz nageln. — Eine bevorzugte Stellung nahmen die Sklavenbeamten ein: die Guts verwalten, Rechnungsführer, Hausmeister, Sekretäre, ferner Ärzte, Lehrer und Künstler. Zur Kaiserzeit wurde die Freilassung für erwiesene Dienste sehr häufig; ja, die Cäsaren umgaben sich gerne mit Freigelassenen und übertrugen ihnen die höchsten Amtsstellen, da sie sich gewöhnlich als zuverlässig und dankbar erwiesen. 6. Rom und die Provinzen. Das kaiserliche Rom zählte etwa IM 2 Millionen Einwohner, die in erdrückender Mehrheit besitzlos waren. Die Bürgerkriege hatten gewaltige Lücken in die alte Bürger- schaft gerissen, die durch Freigelassene und Eingewanderte ergänzt wurden. Da die Bürger (durch Tiberius) das Wahlrecht verloren hatten, waren sie ganz auf die Gunst der Kaiser angewiesen, von denen sie Brot und Spiele verlangten. Das Volk, das nicht mehr durch Ackerbau und Krieg gekräftigt wurde, verweichlichte und floh jede Arbeit. Das Ehrgefühl war derart geschwunden, daß eine zahllose Menge sich den täglichen Brotbedarf nach Bettlerart schenken ließ. Die ständige Jagd nach den rohen Vergnügungen der Spielanstalten brachte eine entsetzliche Verrohung der Sitten und Denkweise. Sittlichkeit und ehrbares Familienleben gehörten zur Seltenheit. Auch die vornehmen Familien lebten nur dem Genuß. Sie wetteiferten miteinander in Verschwendung und Nichtstun, und die einst so stolzen Römer ließen sich von ehemaligen Sklaven regieren. Die Kraft des Reiches lag in den Provinzen, die sich unter den ersten Kaisern in einer beinahe 200jährigen Friedenszeit außer- 35 ordentlich entwickelten. Das römische Weltreich umfaßte alle bekannten Länder rings um das Mittelmeer. Die westlichen Gebiete nahmen die Kultur der Sieger an und wurden romani- siert, während der östliche Reichsteil die griechische Bildung beibehielt, da die Römer sie begünstigten und der Vornehme sich dieselbe aneignete. So genügten für das ganze, ungeheure Reich zwei Sprachen. Ein Recht und eine Münze, ein Maß und ein Gewicht dienten allen. Vorzügliche Straßen führten durch das Reich und ermöglichten den Austausch der Produkte. Überall erstanden Brücken, Straßen, Tempel, Wasserleitungen und Bäder. Römische Sitten und Gebräuche, römische Gelehrsamkeit wurden heimisch. Die Kaiser verliehen den Provinzialen freigebig das römische Bürgerrecht und nahmen viele in den Senatorenstand und unter die Beamten auf, wodurch die Verschmelzung noch stärker wurde. Mit der Zeit gaben die Provinzen dem Reiche Schriftsteller, Redner, Dichter, Staatsmänner, Feldherren, ja, nachdem die Kraft Roms und Italiens sich erschöpft hatte, sogar Kaiser. Alexandrien, Karthago, Korinth und zahlreiche andere Städte wurden üppig reiche Gemeinwesen. Bei uns erinnern Städte, Reben, Obst- und Getreidearten an die römischen Kulturträger. VIII. Verfall und Untergang des Reiches. 1. Die Militärdespotie (nach 180 n. Chr.) Wilde Wirren lösten die glücklichen Zeiten ab. Immer mehr wurden die Herrscher die Kreaturen des Militärs, zunächst der Prätorianer, die nach Gutdünken Kaiser erhoben und erschlugen und den Thron um ungeheure Summen an den Meistbietenden versteigerten. Mehr und mehr mischten sich die Heere der Provinzen ein und riefen ihre Führer zu Kaisern aus. Sechsundzwanzig stritten sich einst um die Herrschaft. In diesen Wirren verlor der Senat jede Mitwirkung an den Reichsgeschäften. Der Herrscher regierte nach Laune und Willkür. Zwar kamen auch wieder Zeiten, da kräftige Kaiser mit eiserner Hand Ordnung schafften; aber bereits mußten sie das gewaltige Reich zerlegen und Unterkaisern übergeben. Die Herrscher, die aus den Provinzen stammten, residierten nicht mehr in Rom; ja, Konstantin verlegte die Hauptstadt dauernd an die Grenze von Morgen- und Abendland, nach Byzanz (Konstantinopel). Die Hofhaltung wurde immer orientalischer, despotischer, abschließender. Wem die Gnade zuteil wurde, den Unnahbaren zu sprechen, der mußte sich vor den Stufen des Thrones auf die Knie werfen. 36 2. Der Verfall der Kultur. Vor den Cäsaren sanken alle, hoch und niedrig, reich und arm in die gleiche Abhängigkeit hinab. Im Heere bekamen die Provinzialen, ja, später die Barbaren die Mehrheit, da jedermann vor dem harten Kriegsdienst zitterte. So ist es begreiflich, daß schließlich alle Freien des Reiches das volle römische Bürgerrecht erhielten; es brachte allerdings keine finanzielle Vorteile, im Gegenteil, alle seufzten nun unter dem furchtbarsten Steuerdruck. Die Miete der Barbaren, die Tribute an Landesfeinde verschlangen alles Bargeld. Die schlimmste Polizeiwillkür und ein Heer ausbeuterischer kaiserlicher Beamter sogen am Marke des Volkes. Um dem unerträglichen Steuerdrücke zu entgehen, flohen die Bauern in die Wälder, die Städter zu den Barbaren. Die Kriege waren Abwehrkriege und brachten keine Sklaven mehr; daher verfielen der Bergbau und die Landwirtschaft. Die Städte verödeten; Rom, zu einer Provinzialstadt herab gesunken, konnte nicht mehr auf Kosten der Provinzen leben und entleerte sich. Die Bewässerungs- und Entwässerungsanlagen verfielen, blühende Landstriche verelendeten, Handel und Gewerbe, Kunst und Wissenschaft verschwanden, überall herrschten Armut, Entmutigung und Verzweiflung. 3. Der Untergang des Reiches. Kaiser Theodosius, der zum letzten Male das ganze Reich kraftvoll geleitet hatte, trennte die Monarchie für seine zwei Söhne in zwei Teile. Der griechische Osten, mit der Hauptstadt Konstantinopel, erhielt sich als ost- römisches Reich unter den wechselvollsten Schicksalen und Größenverhaltnissen noch über ein Jahrtausend. Der lateinische Westen, das weströmische Reich, wurde dagegen eine Beute der Barbaren, die schon über 200 Jahre die Reichsgrenzen bedroht hatten. Die geplagten Bauern sahen in den Eindringlingen geradezu ihre Befreier. Provinz um Provinz ging an die Germanen verloren, und nachdem auch Italien und Rom alle Schrecken der Barbarenstürme erfahren hatte, setzte der germanische Söldnerführer Odoaker den letzten weströmischen Kaiser ab (476)* und regierte als germanischer Heerkönig über die Halbinsel. Die Barbareninvasion brachte nicht eine vorzeitige Zerstörung der römischen Kultur, sondern den Abschluß eines Verwesungsprozesses und die Grundlage für eine neue Entwicklung. * Die Geschichtsschreibung nennt die Zeit bis 476 n. Chr. „das Altertum“, die nachfolgende bis 1492 (Entdeckung Amerikas) „das Mittelalter“. 37 C. Die Germanen. I. Die Völkerwanderung. 1. Das germanische Volk. Land und Leute. Die Germanen, die dem weströmischen Reiche ein Ende bereiteten, hatten sich nach langsamer Wanderung, von den nachrückenden Slaven nach Westen getrieben, in den Gebieten zwischen Weichsel und Rhein niedergelassen ; sie besiedelten auch Dänemark und die skandinavische Halbinsel. Die südlichen Germanen bewohnten ungefähr das heutige Deutschland. Große Wälder, in denen noch Auerochsen, Bären und Wölfe hausten, und ausgedehnte Sümpfe bedeckten den Boden, so daß das Klima rauh und ungastlich war. Dennoch gediehen die Germanen zu einem kräftigen Menschenschläge. Sie waren groß von Gestalt, stark und schön und hatten eine weiße, reine Hautfarbe und blaue Augen; das weißgelbe Haar floß den freien Männern und Frauen in reicher Fülle um den Nacken. Die Kleider waren von Flachs, Schafwolle und Tierfeilen. Staat und Stände. Die Germanen waren kein einheitliches Volk; sie zerfielen vielmehr in zahlreiche Völkerschaften, die sich oft heftig befehdeten. Darum waren ihre Wohngebiete durch allerlei Grenzwehren voneinander getrennt. Der Kern der Bevölkerung war der Stand der Freien. Sie waren Besitzer von Grund und Boden; alle hatten gleiche Rechte, wenn auch einzelne an Reichtum und Ansehen die andern überragten und als Edelinge galten. Aus unterworfenen Völkern entstanden die Hörigen, die für ihre Güter Zins zahlten. Noch tiefer standen die Knechte, meist Kriegsgefangene, die als Sache galten und gekauft und verkauft werden konnten. Das Volk gliederte sich in Sippen, d.h. blutsverwandte Familien. Jede Sippe fühlte sich als ein Ganzes. Für schwere Verletzungen oder Totschlag eines Angehörigen durch ein Mitglied einer fremden Sippe wurde an dieser als Ganzes Vergeltung geübt. Diese Blutrache führte zu langen Geschlechterfehden, so daß mit der Zeit für jede blutrünstige Verletzung eine bestimmte Sühnsumme, das Wergeid (Wer = Mann) festgesetzt wurde. Mehrere Sippen, mit einer größeren Anzahl von waffenfähigen Männern, bildeten die Hundertschaft, deren kriegerische und richterliche Leitung ein Häuptling oder Fürst (furisto = der erste) besaß. Eine Anzahl Hundertschaften machten eine Völkerschaft aus. k* 38 Die höchste Gewalt besaß die Volksversammlung, d. h. die Gesamtheit aller freien, waffenfähigen Männer; sie entschied über Krieg und Frieden, schloß Bündnisse, schlichtete Streitigkeiten der Hundertschaften, nahm die wehrhaft gewordenen Jünglinge in das Heer auf und wählte die Häuptlinge und den Herzog (Oberanführer) oder König. Diese Führer des Volkes hielten sich ein Gefolge von jungen freien Männern, denen sie Unterhalt, Kleidung, Wohnung, Waffen und Beute verschafften; dafür gelobten ihnen die Gefolgsleute durch einen feierlichen Eid unverbrüchliche Treue in Kampf und Gefahr. Lebensweise. Die Hauptbeschäftigung der freien Germanen waren Krieg und Jagd. Immer waren die Jungen bereit zum Baubzuge in fremdes Land, oder sie traten in römische Söldnerdienste. Den Kampf begrüßten die halbnackten Krieger mit wildem Geschrei, das sie in der Wölbung des Schildes widerhallen ließen, um die Feinde zu schrecken. Es galt als die ärgste Schmach, den Schild auf feiger Flucht wegzuwerfen. — In ruhigen Zeiten frönten die Männer dem Trank und Würfelspiel, dem sie leidenschaftlich ergeben waren, so daß sie oft nicht nur Hab und Gut, sondern auch die Freiheit einsetzten. Große Binder-, Schaf- und Schweineherden bildeten den Beichtum der Germanen. Neben der Viehzucht trieben sie auch Ackerbau. Die Hundertschaft, später die Sippe, besaß ein Stück Land, das sie gemeinsam bearbeitete. Da man die Herden frei weiden ließ, brauchte jede Völkerschaft zu ihrer Erhaltung einen viel größeren Landstrich, als es heute nötig wäre. Die Germanen befanden sich daher in beständiger Landnot, die manche Völkerschaft aus ihrer Heimat trieb. Die Religion. In dem unwirtlichen Lande und bei ihren dürftigen Einrichtungen waren die Germanen den Einflüssen des Wetters und den Naturgewalten fast machtlos preisgegeben. Sie fühlten, wie diese Naturgewalten Gutes und Böses schufen, bald Freude spendeten, bald Schrecken einjagten; sie hielten sie daher für übermächtige Wesen, die ihr Leben und Schicksal bestimmten. Sie verehrten diese Naturkräfte als Götter, denen man in heiligen Hainen Altäre errichtete und Opfer darbrachte. Der regenspendende Himmel, unter dem die Wolken im Sturm dahinfahren, erschien ihnen als Gott Wodan, die wetterleuchtende Wolke als Donar, der, seinen mächtigen Hammer werfend, den Donner hervorruft, Ziu hieß der Kriegsgott, Freya war die Göttin des Friedens und des Hauses. 39 Diese Gottheiten oder Äsen wohnten in Walhalla, der Himmelsburg Wodans. Ihre Namen finden wir zum Teil in unsern Wochentagen wieder (Zistig — Ziustag, Donnerstag — Donarstag, Freitag = Frejatag); mancher Gebrauch und mancher Aberglaube ist noch ein Rest jener heidnischen Götterverehrung. Kriegerisch wie die Germanen selbst, waren auch ihre Götter. Die Äsen kämpften gegen die Riesen in unaufhörlichem Kampfe; diese sind die wilden, menschenverderbenden Naturgewalten. Wodan selbst heißt „der Siegvater“; denn er ordnet den Schlachtgang der Menschen und sendet Sieg oder Niederlage. Die auf der Walstatt Gefallenen läßt er durch die Schlachtjungfrauen, Walküren, nach Walhalla bringen. 2. Die Wanderung. Germanen und Römer. Nicht alle germanischen Völkerschaften wurden seßhaft. Unstät, planlos, unter beständigen Kämpfen zogen sie von einer Gegend zur andern und ließen sich hier kurze, dort längere Zeit nieder, bis die Not oder ein anderer Stamm sie wieder weiter trieb. Angesiedelte Völker gaben ihren Bevölkerungsüberschuß in Kriegszügen ab, die sich früh gegen die reichen, römischen Provinzen richteten. Julius Cäsar führte mit ihnen schwere Kämpfe, um sie von Gallien abzuhalten. Der beständigen Überschwemmungsgefahr suchten sich die Römer durch die Eroberung Germaniens zu erwehren, doch wurde ihrem Vordringen ein Ziel gesetzt, als der Cheruskerfürst Armin sie in einer furchtbaren Schlacht im Teutoburger Walde schlug. Lange Zeit blieb der Rhein, wo die Legionen in Festungen stationiert waren, die Grenze, bis ums Jahr 100 die Römer sie bis zur Donau vorschoben. Ein über hundert Stunden langer Wall, der von diesem Flusse bis zum Niederrhein führte, sicherte die römischen Grenzlande. Der Gewinn der römischen Grenzgebiete. Der westliche Grenzvvall drängte die östlichen Germanen, vor" allem die Goten, nach Südosten an die Donau und das Schwarze Meer; auf ihren Schiffen dehnten sie ihre gefürchteten Raubzüge bis nach Kleinasien und Griechenland aus. Die Römer überließen ihnen schießlich Dacien (Rumänien), die Grenzprovinz am unteren nördlichen Donauufer. Bei den Westgermanen führte die Erkenntnis, daß die einzelnen Völkerschaften für den Krieg zu schwach seien, zu Zusammenschlüssen, so daß allmählich die großen Stämme der Alemannen, Franken und Sachsen entstanden. Die Alemannen stürmten den Grenzvvall und besetzten Süddeutschland (um 250) bis zum Rhein, über den sie als wilde Räuber zahlreiche Züge nach Helvetica machten. 40 Der Hunnensturm. Da erschien von Asien her das wilde Reitervolk der Hunnen, das in unwiderstehlichem Ansturm die Ostgoten unterwarf und, die Westgoten ins Römerreich abdrängend, sich in deren Wohnsitzen niederließ. Die Westgoten schlugen sich durch die Balkanhalbinsel, drangen unter ihrem König Alarich sogar in Italien ein und eroberten Rom (410), das seit Hannibals Zeiten keinen Feind mehr vor seinen Toren gesehen hatte. Nach des Königs frühem Tode setzten sie sich in Südgallien und Spanien fest. Unterdes bildeten die Hunnen eine furchtbare barbarische Macht. Von seiner Königsburg an der Theiß aus gebot der gewaltige Attila, die Gottesgeißel genannt, über zahlreiche unterworfene germanische und slavische Völker. Mit einer halben Million Krieger brach er in Gallien ein, wurde aber von den vereinigten Römern und Westgoten, die unter dem letzten großen weströmischen Feldherrn Aetius fochten, geschlagen (451). Nach Attilas frühem Tode zerfiel das Reich der Hunnen noch rascher, als es entstanden. 3. Die Gründung germanischer Reiche. Die aufgescheuchten Germanen drangen von allen Seiten ins römische Reich. Die Van- dalen durchrasten Süddeutschland, Gallien, Spanien und setzten sogar nach Afrika über, wo sie im Gebiet des alten Karthago ein Reich gründeten, von dem aus sie Rom eroberten und furchtbar plünderten (aber nicht zerstörten). In Italien ließen sich die Ostgoten unter ihrem Könige Theuderich nieder, in Belgien und Nordgallien die Franken, in Britannien die A ngeln und Sachsen. Auf dem Boden der Schweiz erschienen drei Völker: a) Die Burgunder. Der Hunneneinbruch trieb sie aus ihrer Heimat zwischen Oder und Weichsel. Sie zogen in die Rhein- und Maingegend, wo sie (um Worms) ein Reich gründeten. Römer und Hunnen zertrümmerten es, und Aetius siedelte die Reste des Volkes in der Rhonegegend (auch in der Westschweiz) an. Jeder römische Grundbesitzer wurde gezwungen, ein Drittel bis zwei Drittel von seinem Hof, Garten und Ackerland an den Germanen abzutreten, der ihm mit Weib und Kind und Sklaven als Nachbar angewiesen wurde. Eine Vermischung von Römern und Germanen konnte so nicht ausbleiben. Da die römische Kultur der burgundischen überlegen war, nahmen mit der Zeit die Burgunder die römische Sprache an, wogegen sich die Römer für manche Dinge, namentlich militärische, die germanischen Bezeichnungen aneigneten. Ähnlich war es bei den Goten und Franken. Aus solchen Mischungen bildeten sich im Laufe 41 der Zeit die romanischen Sprachen: das Französische, Italienische, Spanische, Portugiesische und Rumänische. b) Die Alemannen. Die Alemannen breiteten sich längs des Rheins in Baden und im Elsaß aus und besetzten auch die Nord- und Ostschweiz. Sie trafen in diesen Gebieten nur eine dünngesäte römisch-helvetische Bevölkerung und konnten sich darum nach ihren alten Gewohnheiten einrichten. Sie verteilten das Land an die Sippen, die nach ihrem Stammvater benannt wurden. Diesen Namen gaben sie auch den Ansiedelungen (Andelfingen — Sippe des Andolf, Grüningen — Sippe des Gruno). Die Heimstätten lagen entweder regelmäßig in breiten Massen nebeneinander (Haufendorf), oder sie zogen sich zu beiden Seiten der Straße hin (Straßen- oder Zeilendorf). In hügeligen Gegenden aber zerstreute sich die Sippe, weil sich die Familienvater in Höfen oder Weilern ansiedelten. Von dem Land, das einer Sippe zugeteilt war, schied man zunächst die Ackerflur aus, die sich womöglich rings um das Dorf zog. Davon wurde jedem freien Familienvater ein so großer Anteil zugewiesen, daß er für seine Haushaltungsbedürfnisse genügte. Das war die Hufe. Diese befand sich aber nicht an einem Stück, sondern sie lag zerstreut in den drei Zeigen, in die jede Ackerflur geteilt war. Die eine trug Winterfrucht (Roggen, Korn), die zweite Sommerfrucht (Hafer, Gerste), die dritte war unbepflanzt, sie lag brach. Jedes folgende Jahr wechselte man mit der Bestellung des Feldes so, daß die Brachzeig mit Winterfrucht, die Winterzelg mit Sommerfrucht angepflanzt wurde, die Sommerzeig aber brach lag. Das Brachfeld wurde meist noch als Weide benutzt; darum mußten die angepflanzten Zeigen, die „Esche“ genannt, eingezäunt werden. Diese „Dreifelderwirtschaft“ (erst im 8. Jahrhundert nachweisbar) gestattete dem Einzelnen nur ein beschränktes Verfügungsrecht an seinem Land. Außerhalb des Zelglandes, ganz in der Nähe des Dorfes, baute man Hanf und Flachs in den „Bünten“. Das übrige Land blieb allen Sippen- oder Gemeindegenossen gemeinsam. Es bildete die „Allmende“ oder die „Mark“, die meist aus Wald und Weide bestand. Aus jenem bezog jeder Genosse das nötige Brenn- und Baumaterial, auf diese trieb der Dorfhirt zur Sommerszeit das Vieh aller Anteilberechtigten. c) Die Langobarden. Erst später erschienen als letzte Welle der großen Völkerwanderung die Langobarden, die sich in den südlichen Alpentälern und der Poebene niederließen. 42 II. Das fränkische Reich. 1. Die Merovinger. Von den neugegründeten Germanenstaaten konnte sich nur das Frankenreich auf die Dauer halten. Von Belgien her eroberte der fränkische Teilkönig Chlodovech, aus dem Geschlechte der Merovinger, Gallien bis zur Loire; am Oberrhein besiegte er die Alemannen (um 500). Durch eine beispiellos rohe Ausrottung seiner Verwandtschaft schuf er ein einheitliches, mächtiges Frankenreich, das bald die benachbarten Länder unterwarf. Nach fränkischem Erbrecht teilte der König jeweilen das Reich unter seine Söhne, was eine Quelle fortwährenden Haders und häufiger Bürgerkriege wurde. In den langen Wirren erschöpfte sich die Kraft des Reiches und der einzelnen Zweige der Königsfamilie, die sich gegenseitig auszurotten suchten und sich durch ihre Greueltaten verächtlich machten. 2. Die Karolinger. Die fränkischen Könige ließen ihren Privatbesitz durch besondere Beamte, die Hausmeier, verwalten. Bei der Schwäche ihrer Herren wurden diese Hofbeamten bald sehr einflußreich und nahmen die eigentliche Regierung des Reiches in die Hand. Berühmt und gefürchtet waren die Hausmeier aus dem Geschlecht der Karolinger, neben denen die Merovinger nur noch eine Scheinherrschaft ausübten. Pippin, genannt „der Kleine“, setzte sich endlich selber an die Stelle des Königs, nachdem er ihn in ein Kloster gesteckt hatte. Karl der Große. Pippins Sohn, Karl, ein gewaltiger Herrscher, dehnte das Reich nach allen Seiten aus. Mit nie erlahmender Energie und seltenem Glück suchte er zwei Aufgaben zu lösen: ein großes römisch-germanisches Universalreich zu gründen, welchem alle germanischen Völker des europäischen Festlandes angehören sollten, ferner dem Christentum im ganzen Reiche zum Siege zu verhelfen. Er besiegte die Langobarden und eroberte den Norden Spaniens; in einem jahrzehntelangen Kriege bezwäng er die frei- heitsstolzen, stets zu Krieg und Raub geneigten, heidnischen Sachsen in Niederdeutschland und vernichtete den Raubstaat der Avaren, bines den Hunnen verwandten, wilden Volkes in Ungarn. Sein Reich erstreckte sich von der Nord- und Ostsee bis zum Ebro und Tiber, vorn Atlantischen Ozean bis zur Donau in Ungarn. Die Verwaltung des Reiches. Das ganze Reich war in Grafschaften — an der Grenze in Markgrafschaften — eingeteilt. Zu 43 diesen Amtsbezirken benutzte man die alten Völkerschaftsgebiete, die Gaue, die in Hundertschaften zerfielen. In der Schweiz hatte man den Aargau, den Thurgau, den Klettgau, den Baselgau, den Waldgau (Waadt) etc. Jedem Gau stand als Stellvertreter des Königs ein Graf vor, der die Aufsicht über die öffentlichen Straßen führte, die Steuern und Bußen einzog, das Heer des Gaues aufbot und in den Hundertschaften die Gerichtsverhandlungen leitete; zu seiner Mithilfe bestellte er in jeder Hundertschaft einen Unterbeamten, Hunno geheißen. Königsboten reisten von Gau zu Gau und untersuchten die Amtsführung der Grafen. Das Gerichtswesen. An den öffentlichen Gerichtstagen, dem „Thing“, mußten die freien Männer der Hundertschaft auf der „Malstatte“ (Gerichtsplatz) erscheinen, wo unter freiem Himmel die Verhandlungen vor sich gingen. Den Vorsitz führte der Gaugraf, wenn es sich um Blutverbrechen, der Hunno, wenn es sich um geringere Strafsachen handelte. Jener hatte das hohe, dieser das niedere Gericht. Der Vorsitzende saß unter einer Linde, umgeben von den Schöffen, die der Graf aus den angesehensten Freien gewählt hatte. Diese fällten das Urteil, das der Leiter verkündigte. Die freien Männer standen im Kreise herum, sie waren der „Umstand“ und hießen das Urteil gut oder schalten es. Die Erneuerung des weströmischen Kaiserreiches. Karl dem Großen, der einen bedeutenden Teil der Länder des weströmischen Reiches unter seinem Szepter vereinigte, kam der Gedanke, daß er ein Recht darauf hätte, als Nachfolger der römischen Kaiser zu gelten. Als er im Jahre 800 nach Rom kam, setzte ihm der Papst, ohne daß Karl von dem Plane Kenntnis hatte, am Weihnachtstage eine bereitgehaltene Krone aufs Haupt. Das war allerdings eine Erhebung zum römischen Kaiser, wie sie ihm keineswegs gefiel. In Wirklichkeit war aber das Reich germanisch, so daß Karl nie daran dachte, dauernd in Rom zu residieren. 3. Die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse. Die Stärkung der königlichen Gewalt. Die urgermanischen Verhältnisse änderten sich im Frankenreiche. Der König besaß einst nicht mehr Rechte als die anderen Freien, die ihn zu seinem Amte erhoben. Die alte Volksversammlung war aber nur in kleinen Verhältnissen möglich, nach und nach verschob sich das Schwergewicht der staatlichen Gewalt vorn Volke auf den König, der mit der Zeit zum fast unumschränkten Herrscher wurde, dessen Würde sich 44 in der Familie forterbte. Die Reichsversammlung, das März- oder Maifeld wurde mehr und mehr eine militärische Heerschau, bei deren Beschlüssen tatsächlich nur die Großen des Reiches ihren Einfluß geltend machen konnten. Die Bildung des Großgrundbesitzes. Zwischen den freien Bauern entstanden überall ausgebreitete Grundherrschaften, zuerst im Anschluß an den altrömischen Großgrundbesitz in Gallien. Sie waren in der Hand eines mächtigen Adels, der teils aus der Gefolgschaft des Herrschers hervorgegangen war, teils den alten germanischen Adel, auch Emporkömmlinge oder römische Vornehme umschloß. Unermeßlich reich war vor allem dieKirche. Die weltlichen und geistlichen Großgrundherren bewirtschafteten den ausgedehnten Besitz nicht selber, sondern gaben ihn in kleinen Teilen an Zinsbauern ab, deren sie oft zu Tausenden hatten. Aus waffenfähigen Dienstleuten bildeten sie sich ein kriegerisches Gefolge, und nicht selten wandten sie ihre Macht gegen die Könige. Der Untergang des freien Bauers. Der Waffendienst, einst des freien Mannes höchste Zier, wurde mit der Zeit zur schweren Last; denn er hielt in den häufigen, oft in entfernten Gegenden geführten Kriegen den Bauer monatelang von Haus und Hof fern; zudem mußte der Wehrpflichtige die Waffen, die sehr teuer waren, und den Lebensunterhalt selber bestreiten. Jeder Gefallene bedeutete eine Schwächung der Zahl der Freien, und die Überlebenden gerieten oft in Armut und Not, da ihre Höfe während der Abwesenheit Schaden litten. Auch die Thingpflicht zog allzuhäufig den Bauern von seiner Arbeit weg. Mächtige Nachbarn, auf Ahrundung ihres Besitzes bedacht, bedrängten ihn. Daher traten viele Bauern, freiwillig oder gezwungen, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu einem Grundherrn oder der Kirche, um als Hörige sich der drückenden Kriegspflicht zu entziehen und Schutz zu genießen. Umsonst versuchte Karl der Große durch Erleichterung der Kriegs- und Thingpflicht dem Untergänge des freien Bauers zu wehren, die Verhältnisse waren stärker als er. Das Lehenswesen. Bis in die Zeit der späteren Merovinger zogen die Franken fast durchwegs zu Fuß in den Krieg. Die weiten Züge in entfernte Länder, vor allem aber der Kampf mit den berittenen Arabern in Spanien machten eine zahlreiche Reiterei nötig. Diese schuf Karl Martell, der Großvater Karls des Großen. Er warb Reiter in großem Maßstabe an. Wie man den Söldnern Sold auszahlt, überwies er ihnen in jener geldarmen Zeit Ländereien samt. 45 Zinsbauern und Knechten zur Nutznießung. Dies war aber nur geliehenes Gut, ein sogenanntes Lehen, das der König wieder an sich zog, wenn der Lehensinann starb oder treubrüchig wurde. Bei der feierlichen Übergabe des Lehens gelobte der Lehensnehmer r dem Lehensherren treu, dessen „Freunden Freund und dessen Feinden Feind“ zu sein. Er war nun der Vasall (vassus — Knecht) des Königs und hatte ihm vor allem Kriegsdienste, und zwar zu Pferd, zu leisten. Mancher reiche „Kronvasall“ nahm wieder einen weniger begüterten Herrn mit dessen Gefolgschaft in Dienst und erteilte auch ihm ein Lehen; auch dieser Untervasall konnte wieder Lehen abgeben usw. Alle Gefolgsleute waren wiederum ihren Herren gegenüber Vasallen. Bot der König die Kronvasallen zum Kriege auf,, so hatten sie mitsamt ihrem Gefolge und ihren Untervasallen zu Pferd einzurücken, so daß er ein allzeit schlagfertiges Heer besaß. — Schon unter den Nachfolgern Karls erzwängen die Vasallen die Erblichkeit der Lehen; auch Staatsämter, wie das Grafenamt, wurden erbliche Lehen, die den Familien nicht mehr entzogen werden durften. 4. Teilung und Verfall des Reiches. Unter den Nachfolgern Karls ging das einheitliche Kaiserreich rasch in die Brüche. Schuld daran waren vor allem die Bürgerkriege, die aus den Teilungen entstanden. Nach langen Wirren teilten die Enkel Karls des Großen im Vertrage zu Verdun (843) das Reich in West-, Ost- und Mittelfranken. Aus dem römischen Westen entstand mit der Zeit Frankreich, aus dem germanischen Osten Deutschland, während „das Zwischenreich“ in kleinere Staaten: Italien, Burgund und Lothringen zerfiel. Aber die Herrscher aus Karls Stamm waren fast alle Schwächlinge, welche die Großen nicht im Zaume zu halten vermochten. Die Ohnmacht der Teil reiche machten sich Feinde von außen zu nutze. Kühne normannische (nordmännische) Seeräuber, Wikinger genannt, brandschatzten die Küsten und die Ufer der großen Flüsse, die sie mit ihren geschnäbelten Schiffen befuhren. Von Osten her, die Donau herauf, ergossen sich die schrecklichen Ungarn, während Italien von den Sarazenen heimgesucht wurde. 5. Entstehung selbständiger Fürstentümer. Die weltlichen und geistlichen Großen der fränkischen Reiche erstrebten und erlangten fortwährend größere Selbständigkeit. Um sich ihrer Hilfe zu versichern, mußten ihnen die Herrscher in Notzeiten immer neue Rechte abtreten. So erlangten Großgrundherren, hohe Vasallen und 46 Beamte nicht nur die Erblichkeit der Lehen, sondern auch Steuerfreiheit, das Recht des Heerbanns und die gesamte Gerichtsbarkeit über die Zinsbauern. Der Gaugraf hatte kein Recht mehr, ihre Gebiete zu betreten. Diese Immunität (Befreiung von Verpflichtungen) machte die Herren tatsächlich zu selbständigen Fürsten, neben denen das kaiserliche Ansehen verblaßte. In der Abwehr der Reichsfeinde erstarkte das Selbstbewußtsein einzelner Stämme, und die mächtigsten Adeligen traten wieder als Herzöge an ihre Spitze, so in Sachsen, Franken, Bayern, Schwaben und Lothringen. III. Das deutsche Kaiserreich. 1. Deutschland wird ein Wahlreich. Als im Jahre 911 die ostfränkischen Karolinger ausstarben, war das Reich tatsächlich in fünf Stammesherzogtümer aufgelöst, und einer der Herzöge wurde zum König ernannt. Aber erst der zweite Wahlkönig, der kraftvolle Heinrich I., ein Sachse, kann als Gründer des deutschen Reiches bezeichnet werden. Er sicherte dessen Einheit, indem er die widerspenstigen Herzöge zur Anerkennung seiner Oberhoheit zwang, ohne sie aber aus ihrer Stellung zu verdrängen. Dies setzte ihn instand, die Grenzen des Reiches gegen den slavischen Osten und dänischen Norden vorzuschieben und die Ungarneinfälle erfolgreich zurückzuweisen. 2. Die Erneuerung des Kaiserreiches. Sein energischer Sohn Otto I. führte das angefangene Werk weiter. Die unruhigen Herzöge warf er nieder und die Ungarn, welche die inneren Kämpfe des deutschen Reiches zu einem neuen Einfalle benutzt hatten, schlug er auf dem Lechfelde so gründlich, daß sie nie wieder erschienen und sich von nun an an ein seßhaftes Leben gewöhnten. Durch Heirat gewann Otto die langobardische Krone, als Schutzherr des Papstes empfing er die Kaiserkrone und erneuerte dadurch das römische Reich (962). („Das heilige römische Reich deutscher Nation“.) 3. Blüte des Reiches (um 1050). Die größte Blüte erreichte das deutsche Reich etwa 100 Jahre später unter Heinrich III., der dem fränkischen Herzogsgeschlechte entstammte. Da schon unter seinem Vater auch Burgund gewonnen worden war, beherrschte er das gesamte frühere mittet- und ostfränkische Reich, welch’ letzteres sich fortwährend nach dem slavischen Osten ausgedehnt hatte. Heinrich besiegte auch Böhmen und Ungarn, die zu deutschen Vasallenstaaten herabsanken. Alle Völker Europas anerkannten ihn 47 als den ersten Fürsten des Abendlandes. Aber ein neuer Kampf brach die Macht der deutschen Kaiser. D. Das Papsttum. I. Die Entwicklung der christlichen Kirche. 1. Ausbreitung des Christentums. Etwa ums Jahr 400 war das Christentum im römischen Reiche herrschend geworden (Seite 32); doch war es noch lange nicht allgemein durchgeführt. Der Zusammenbrach des weströmischen Reiches gefährdete seinen Bestand; aber infolge seiner festen Organisation überdauerte es den fallenden Staat. Viele Germanen hatten im Verkehr mit den Römern die neue Lehre kennen gelernt und frühzeitig angenommen. Bischof Ulfilas übersetzte die Bibel in die gotische Sprache. Noch heute werden zu Upsala in Schweden kostbare Bruchstücke einer Handschrift aufbewahrt, die auf purpurfarbenes Pergament geschrieben ist und auf dieser Übersetzung fußt. Burgunder und Franken nahmen das Christentum ebenfalls an, und auch in Großbritannien faßte es festen Fuß. Nur die Alemannen und die rechtsrheinischen Germanen blieben den alten Göttern noch treu, bis Glaubensboten unter dem Schutze der fränkischen Könige auch in diesen Ländern das Bekehrungswerk begannen. In Alemannien predigten die Iren Columban und Gallus, in Deutschland verbreitete der Angelsachse Bonifatius die christliche Lehre. Auch Karl der Große wirkte eifrig für die Ausbreitung des Christentums bei den Sachsen und Friesen an der Nordseeküste und bei den slavischen Völkern im Osten Deutschlands. 2. Die Kirche. Die Dr Christengemeinde. In den ersten Christengemeinden gab es keine besonderen Geistlichen; in den Versammlungen konnte jeder reden, der den Drang dazu fühlte. Mit der Zeit wurden besondere Zusammenkunftslokale, Kirchen, gebaut, die zuletzt als heilig galten. Für die mannigfaltigen Geschäfte der christlichen Gemeinde wählte man Älteste, Presbyter, und Aufseher, Episkopen. Die Entstehung des Priesterstandes. Nach und nach übertrug man den Presbytern allein die kirchlichen Funktionen. Das Kirchenamt wurde ein Beruf; es bildete sich ein Priesterstand, der den Verkehr mit Gott vermittelte. Die Bischöfe (Episkopen) beauf- 48 sichtigten die Priesterschaft und die Gläubigen und galten als Hirten und Leiter der Christenheit. Später stellte man die Bischöfe einer ganzen Landesgegend unter den Bischof der größten Gemeinde, den Erz- bischof. An Ansehen und Macht ragten besonders die Bischöfe der Weltstädte Antiochien, Alexandrien, Konstantinopel, Rom und der heiligen Stadt Jerusalem hervor. Man nannte sie Patriarchen. Sie hatten die Aufsicht über die ganze Christenheit. 3. Der römische Bischof als Papst. Der Bischofssitz der Reichshauptstadt, wo der Apostel Paulus und der Sage nach auch Petrus den Märtyrertod gefunden hatte, genoß ein ganz besonderes Ansehen. Ums Jahr 450 versuchte Leo der Große die abendländischen Bischöfe unter sich zu beugen, und der Herrscher des allerdings sehr verstümmelten, weströmischen Reiches anerkannte den apostolischen Stuhl als die höchste Gewalt über die Christenheit. Was Leo vorbereitete, vollendete mit größerem Erfolge ums Jahr 600 Gregor I., der Große, der die Bischöfe in enge Verbindung mit Rom brachte. Der römische Bischof erhielt in der Folge den Ehrennamen Papst, d. i. Vater. Indes machte der Patriarch zu Konstantinopel, der Hauptstadt Ostroms, auf den gleichen Rang Anspruch. Die daraus entsprungenen Streitigkeiten führten schließlich zu einer Trennung, indem eine oströmische oder griechisch-katholische und eine weströmische oder römisch-katholische Kirche entstanden (um 1050). 4. Das Mönchtum. Ursprung. Das Christentum paßte sich dem heidnischen Glauben möglichst an und entnahm ihm viele seiner Gebräuche. Beliebte heidnische Feste wurden unter neuem Namen auch von den Christen gefeiert; so entstand aus den römischen und germanischen Sonnwendfeiern das Weihnachtsfest. Die Prozessionen der Römer, die mit geweihten Zeichen und wallenden Fahnen durch die Felder zogen, um den Segen der Götter zu erflehen, nahm die christliche Kirche ebenfalls auf. Auch das Mönchtum ist heidnischen Ursprungs und zwar stammt es aus dem uralten Kulturlande Ägypten. — Manche Christen gingen in ihrem Eifer so weit, die Welt mit ihrem Treiben als sündhaft zu erklären. Sie versagten sich alle Genüsse und gefielen sich darin, den sündhaften Leib zu peinigen. Sie gingen in die Einöde und legten sich alle möglichen Entbehrungen auf. Einer lebte 30 Jahre auf einer hohen Säule, andere ließen sich in enge Löcher einmauern. Ägypten war die Heimat der ersten Einsiedler. Hier wurde auf einer Nilinsel das erste Kloster 49 gegründet. Als sich später die Klöster über alle Länder verbreitet hatten, verlangte man, daß die Mönche geistlichen Standes seien. Benedikt von Nursia. (um 500). Frühe schon drang das Mönchtum nach dem Abendlande und fand hier einen weisen Gesetzgeber. Benedikt von Nursia stellte für sein Kloster in Unteritalien bestimmte Vorschriften, Regeln, auf. Er verlangte von den Mönchen das Gelübde der Armut, Ehelosigkeit und des Gehorsams, ferner geistige und leibliche Arbeit neben religiösen Übungen. Nach diesen Regeln wurden zahlreiche ähnliche Klöster gegründet, bei uns St. Gallen, Reichenau, Einsiedeln und die Fraumünsterabtei Zürich. 5. Folgen des Christentums. Die christliche Kirche nahm ohne Unterschied Freie und Unfreie, hoch und niedrig in ihren Schoß auf und arbeitete so an der Ausgleichung der Unterschiede unter den Menschen. Sie ruhte nicht, bis die grausamen Gladiatorenspiele verboten wurden. Nur sie konnte es wagen, Untaten der Herrscher entgegenzutreten. Als vornehmste Christenpflicht galt die Linderung des menschlichen Elendes, die Fürsorge für Arme und Kranke. Besonders in den germanischen Ländern hatten die Klöster einen segensreichen Einfluß. Sie allein hielten die Kultur in den wilden Kriegszeiten aufrecht und waren die einzigen Bildungsanstalten. Die Mönche trieben einen vorbildlichen Landbau, kopierten in unermüdlicher, sorgfältiger Arbeit wertvolle Handschriften; sie übten eine wunderbare Kleinkunst in der Malerei, pflegten Musik und Poesie, und den Klosterschulen verdanken wir die Erhaltung mancher uralten Dichtung. II. Der Kampf zwischen Papst und Kaiser. 1. Papst und Kaiser. In den kriegerischen Zeiten bedurfte der Papst der Stütze eines weltlichen Fürsten. Er trat mit dem kräftigen fränkischen Hausmeier Pippin in Verbindung, dem er bei der Erlangung der Krone seine Hülfe lieh. Dafür befreite ihn dieser von den Langobarden, die sich Roms bemächtigen wollten. Ja, Pippin verschaffte dem Papst die Herrschaft über Rom und eine Reihe anderer mittelitalienischer Gebiete (Kirchenstaat). Karl der Große setzte diese Beschützerrolle fort und unterwarf die immer unruhigen und drohenden Langobarden. Die Bande zwischen dem höchsten weltlichen und dem höchsten geistlichen Herrscher wurden immer enger. Karl hielt trotz seiner christlichen Gesinnung die niedere und hohe Geistlichkeit fest unter seiner Hand. Er berief Geschicht&iehrmittel. 4 50 sie zur allgemeinen Versammlung (Synode) und setzte die Bischöfe ein und ab; er gab sogar dem Papste Mahnungen und bekundete dadurch^ daß die Macht des Staates vorherrsche. Auch Otto I. fühlte sich als Herr der Kirche und der Päpste, die er einfach absetzte, wenn sie untauglich waren. Heinrich III. (S. 46) ließ sich sogar von den Römern, die sonst immer die Päpste gewählt hatten, das Recht der Papstwahl übertragen. Er war also der oberste, mächtige Gebieter der Kirche. 2. Die Entartung der Kirche. Schon frühe ging die Kirche darauf aus, sich Besitz zu erwerben. Sie strebte mit allen Mitteln nach Reichtum und Macht. Hauptsächlich durch Schenkungen von Fürsten und Privaten kam ein Drittel bis ein Zweitel alles Bodens in ihre Hand. Das Kloster St. Gallen besaß'wohl 7000 bis 8000 Hufen. Dieser Reichtum führte aber zu einem genußsüchtigen, oft recht sittenlosen Leben, so daß die Klosterregeln stets weniger Beachtung fanden. Wie der Staat, so war auch das Papsttum in den stürm vollen Zeiten nach Karls des Großen Tode in Verfall geraten. Da die Geistlichkeit und das Volk von Rom damals die Papstwahl in den Händen hatten, fanden bei der Besetzung des heiligen Stuhles oft blutige und grauenhafte Parteikämpfe statt. Unwürdige und un- heilige Männer kamen an die Spitze der Christenheit. Mit den kirchlichen Ämtern trieb man einen schmählichen Handel, indem man sie dem Meistbietenden verkaufte. Die Kaiser ahmten dieses schlechte Beispiel nach, indem sie die so wichtigen Bischofssitze mit ihren Parteigängern besetzten. 3. Die Reformen Gregors VII. Der allgemeinen Kirchen Verderbnis suchte der Abt des französischen Klosters Cluny Einhalt zu tun. Er verpflichtete seine Mönche zu einem ernsten, frommen Leben nach den Regeln des Benedikt von Nursia. Sein Beispiel fand bald Nachahmung. Eine Reihe neuer Klöster erstanden, die sich dasselbe Ziel setzten wie die Cluniazenser. Das Mönchswesen nahm einen neuen, gewaltigen Aufschwung. Viele fanden die clu- niazensische Zucht noch zu milde. Es entstanden die strengen Orden der Kartäuser und Zisterzienser, die in härtester Enthaltsamkeit Gott dienten, und später die der Franziskaner (Barfüßer) und Dominikaner (Prediger), die ihren Unterhalt durch Bettel erwarben und einen unermeßlichen Einfluß auf das niedere Volk ausübten. Die Ziele Gregors. Die Päpste schlössen sich diesen Bes- 51 serungsbestrebungen an. Der tatkräftigste unter ihnen war Gregor VII (1073—1085). Er erklärte, daß der Papst als Statthalter Christi Inhaber der höchsten Gewalt auf Erden sei und daß Kaiser und Könige ihre Regierungsgewalt nur als päpstliches Lehen erhalten hätten. Darum suchte er den Kaisern das unter Heinrich III. erlangte Recht der Papstwahl zu entwinden, indem er es auf die Kardinäle* übertrug. Dann verbot er den weltlichen Fürsten, die Bischöfe einzusetzen, schaffte die Priesterehe ab und untersagte den Verkauf von geistlichen Ämtern. Die päpstliche Macht. Der Papst hatte als Kampfmittel zwei wirksame Waffen: den Bann und das Interdikt. Durch jenen stieß er einzelne Menschen, durch dieses ganze Länder oder Gegenden aus der christlichen Kirche. Die heiligen Gegenstände wurden dann in den Kirchen verhüllt, die Glocken nicht mehr geläutet, kein Gottesdienst fand mehr statt, die Leichen blieben un- beerdigt oder wurden ohne viel Umstände verscharrt. Das machte auf die frommen Gemüter jener Zeit einen furchtbaren Eindruck, so daß die Bestraften sich gewöhnlich erschreckt dem Papste unterwarfen. 4. Heinrich IV. zu Kanossa. Kaiser Heinrich IV., der Sohn Heinrichs III, (Seite 46), trat den Plänen Gregors aufs schärfste entgegen. Vor allem beanspruchte er die Wahl der Bischöfe, da diese als seine Vasallen über Land und Leute regierten und so Fürsten des Reiches waren. Als sich der Papst in die deutschen Verhältnisse mischte, ließ ihn der Kaiser auf einer Synode durch die deutschen Bischöfe absetzen. Der Papst antwortete mit dem Bannflüche, erklärte Heinrich des Thrones verlustig und entband alle Vasallen und Untertanen von dem Treueide. Die deutschen Fürsten, welche die Abhängigkeit vorn Reich lockern und die Mitwirkung an den Reichsgeschäften erzwingen wollten, fielen vorn Kaiser ab und erklärten ihn als abgesetzt. Nur schleunige Unterwerfung unter den Papst konnte den Kaiser retten; mitten im Winter machte er eine Bußfahrt nach Italien. Im Schloßhose zu Kanossa, wo der Papst sich aufhielt, harrte er barfuß und in härenem Biißergewande drei Tage lang, bis Gregor den Bann von ihm löste (1077). — Die Aussöhnung war nicht von Dauer. Das Reich blieb zerrissen. Kaiserliche und päpstliche Bischöfe, kaiserlich und päpstlich gesinnte Fürsten standen sich gegenüber, und selbst in die Familie des Herrschers wurde der Streit * So hießen die obersten Priester an den Kirchen in Rom und der nächsten Umgebung. 52 getragen, so daß die Söhne wider den Vater die Waffen erhoben. Blutige Fehden verwüsteten das Land und erschütterten die kaiserliche Macht. Noch über den Tod hinaus verfolgte Heinrich der Haß der Päpste, die seiner Leiche sechs Jahre lang ein christliches Begräbnis verweigerten. 5. Der Papst und die Staufer. Als später das kraftvolle Herrschergeschlecht der Hohenstaufen den deutschen Kaiserthron einnahm, entzündeten sich die Kämpfe zwischen Kaiser und Papst aufs neue. Auch jetzt schloß sich das Papsttum enge an die Fürsten, die weltlichen Gegner einer starken Reichsgewalt. Friedrich I., von den Italienern Barbarossa genannt, wollte die kaiserliche Macht zu höchstem Ansehen bringen. Durch mehrere Römerzüge suchte er in Italien die gesunkene Reichsgewalt wieder herzustellen und zu stärken. Er geriet aber in Konflikt mit den aufstrebenden lombardischen Städten, die sich wie selbständige Republiken gebärdeten. Widerstrebende Städte, wie das mächtige Mailand, wurden erstürmt und zerstört, und erhielten harte, deutsche Vögte — Der siegreiche Kaiser wollte auch wieder Herr der Kirche sein. Er mischte sich in eine zwiespältige Papstwahl, indem er den von der Mehrheit der Kardinäle gewählten Alexander III. nicht anerkannte. Doch dieser war ein ebenbürtiger Gegner. Er verbündete sich mit den Lombarden, welche aus Verzweiflung zum Schwerte griffen und ihre Zwingherren verjagten. Barbarossa eilte zum fünften Male über die Alpen, erlitt aber bei Leguane eine vernichtende Niederlage. Jetzt mußte der stolze Hohenstaufe den Papst anerkennen. In Venedig warf er sich demselben zu Füßen und machte mit der Kirche Frieden (100 Jahre nach Kanossa). Zum zweiten Male hatte das Papsttum triumphiert. Friedrich II., der letzte große Staufer, nahm den Kampf gegen Rom wiederum auf. Sein ganzes Leben bedeutete Kampf gegen die Vorherrschaft der Kirche. Darüber verbrauchte er seine Kraft in Italien, während Deutschland ganz sich selber überlassen blieb, so daß die kaiserliche Macht dort in die Brüche ging. Das Reich teilte sich in kaiserlich und päpstlich Gesinnte, die mit entsetzlicher Grausamkeit und Arglist gegeneinander wüteten. Der große Kaiser, der in den von seiner Mutter ererbten Ländern Neapel und Sizilien Mohammedanern und Christen in gleicher Weise freie Religionsausübung gestattete, starb, ohne daß er eine Entscheidung hätte herbeiführen können. 53 Das Ende der Staufer. Den letzten Staufern blieb nur ihr Erb- reich in Süditalien, das durch Heirat an ihr Haus gekommen war. Aber das verhaßte Geschlecht sollte für immer vernichtet werden. Der Papst rief die Franzosen nach Unteritalien, und der letzte Sprosse des gewaltigen Herrschergeschlechtes, der junge Konradin, wurde nach verlorener Schlacht von Karl v. Anjou in Neapel hingerichtet. 6. Das Interregnum (zirka 1250—1270). In dem langen Kampfe war das Kaisertum nicht nur unterlegen, sondern zugleich zerfallen. Die Fürsten verkauften die deutsche Kaiserkrone an fremde Herren, die nie oder nur selten ins Land kamen. Das war die „kaiserlose a Zeit, das Interregnum. Während weltliche und geistliche Große um Städte und Länder stritten, bereicherte sich der niedere Adel durch Straßenraub. Die Faust regierte. (Faustrecht.) III. Die Kreuzzüge (1096—1270.) Die religiöse Begeisterung und das Ansehen der „Stellvertreter Christi“ waren in diesen Zeiten so groß, daß die Päpste es wagen konnten, neben dem Kampf gegen die Kaiser noch den Krieg gegen die Anhänger Mohammeds (Muselmänner, Moslemin, Mamelucken, Mauren und Sarazenen) zu führen. 1. Der Islam. Mohammed. Mohammed war ein arabischer Kaufmann, Er verkündigte seinen Landsleuten eine neue Religion, und obgleich er von den Priestern der alten Religion verfolgt wurde und aus seiner Vaterstadt Mekka flüchten mußte, gewann seine Lehre unter den Arabern immer mehr Anhänger.* Seine Lehre. Mohammed lehrte, daß nur ein Gott (Allah) und er dessen größter Prophet sei. Diesem Gott, der des Menschen Bestes will, auch wenn Tod und Qualen kommen, muß man sich willig ergeben. Darum heißt seine Lehre Islam, d. i. Ergebung (in den Willen Gottes). Mohammed hielt Moses und Christus für große Propheten, sich selbst für den größten. Er verlangte, daß der Islam über die ganze Erde ausgebreitet und jeder Wider, stand mit allen Mitteln, selbst mit dem Schwerte überwunden werde. Seinen Anhängern, die im Religionskampfe fielen, stellte er als unvergänglichen Lohn ein herrliches Leben im Paradiese in Aussicht; die Ungläubigen aber erleiden Höllenqualen. Des Menschen Schicksal ist vorausbestimmt. Wer sterben muß, stirbt. * Hedschra 622. Beginn der mohammedanischen Zeitrechnung. — 54 sei es zu Hause oder in der Schlacht. Mohammeds Lehren und Gesetze wurden in einem heiligen Buche, dem Koran, gesammelt. Ausbreitung. In kurzer Zeit eroberten die Araber Ägypten, ganz Nordafrika und drangen unter Tarik (Gibraltar = Gebe! Tarik = Berg des Tarik.) nach Spanien (711). Die Pyrenäen überschreitend, brachen sie in Frankreich ein, wurden aber von Karl Martell, dem Großvater Karls des Großen, bei Poitiers geschlagen (732). Im Osten fiel ganz Vorderasien und damit auch Jerusalem, die heilige Stadt der Christen, in ihre Hände. Den zahlreichen Pilgern, die von Europa zum heiligen Grabe wallfahrteten, legten sie jedoch keine Hindernisse in den Weg. 2. Der Kampf um Jerusalem. Ursachen. Das änderte sich, als die Seldschukken, ein türkisches Volk, die Stadt Jerusalem eroberten. Die Pilger waren schwerer Bedrückung und Mißachtung ausgesetzt und immer häufiger ertönten ihre Klagen. Zugleich bedrohten die Türken auch Konstantinopel, und der oströmische Kaiser ging den Papst dringend um Hilfe an. Auf zwei großen Kirchen Versammlungen rief Papst Urban II. das Volk zum Kriege gegen die Ungläubigen auf. Tausende folgten voll Begeisterung dem Rufe: Ritter, Herren, Knechte, Handwerker, Landleute — Franzosen, Italiener, Spanier, Deutsche, Engländer. Als Erkennungszeichen hefteten sich die Gottesstreiter ein Kreuz auf die rechte Schulter; davon erhielten diese Kriege den Namen Kreuzzüge. Aber nicht religiöser Eifer allein trieb die Teilnehmer nach dem heiligen Lande; der eine hoffte, in der Ferne eine neue, bessere Heimat zu finden, einen andern lockte die Aussicht auf reiche Beute, einen dritten trieb die Angst vor Strafe für begangene Verbrechen an, ein vierter ging mit aus Lust an Abenteuern und einem ungebundenen Leben. Die Völkerwanderung nach Osten. Infolge schlechter Organisation und großer Zuchtlosigkeit löste sich der erste Kreuzzug auf dem Wege auf; dem zweiten, rasch folgenden, gelang es, nach unsagbaren Mühsalen die Stadt Jerusalem zu erobern (1099). Nach dem Vorbild des Lehenswesens wurde ein christliches Königreich gegründet, dessen erster Herrscher Gottfried von Bouillon war. Bald aber brach unter den Christen Uneinigkeit aus, so daß Jerusalem wieder verloren ging. Gefährliche Feinde erstanden den Christen i n Ägypten, wo der Sultan Saladin den Islam zu neuem Glänze erhob. Neue Kriegszüge wurden notwendig. So groß waren damals die Macht der Kirche und die Begeisterung des Volkes, daß auch Kaiser Barbarossa das Kreuz nahm und selbst sein Enkel Friedrich II. der Aufforderung des Papstes zum Kreuzzuge nicht ausweichen wollte und nicht ausweichen konnte. — Im ganzen wurden sieben große Kreuzfahrten ausgeführt; doch blieb Jerusalem nur kurze Zeit in den Händen der Christen, obgleich fortwährend bald große, bald kleine Scharen zu Land und zu Wasser dorthin zogen, so daß sich eine ununterbrochene Völkerwanderung aus dem Abendland nach dem Osten ergoß. Endlich wurde Europa dieser erfolglosen Züge, die beinahe zweihundert Jahre gedauert und Millionen von Menschen gekostet hatten, müde. Trotz aller Anstrengungen der Päpste konnte Jerusalem den Mohammedanern nicht mehr entrissen werden. 3. Folgen der Kreuzzüge. Die Kreuzzüge hielten das Vordringen der Türken nach Europa um Jahrhunderte auf. Im Morgenlande lernten die Völker des Westens die hohe Kultur des Ostens kennen. Viele Gegenstände wurden erst dadurch in Europa bekannt, wie asiatische, besonders arabische Wörter, die in unsere Sprache übergegangen sind, beweisen: Kattun, Musselin, Sofa, Matratze, Alkoven, Bazar, Tarif, Magazin, Arsenal usw. Ein lebhafter Verkehr entspann sich mit dem Orient und brachte besonders die Seestädte Venedig, Genua und Pisa zu hoher Blüte. Der Handel kam auch den Binnenstädten zu gute und verschaffte ihnen Reichtum und Macht. Für den Adel bedeuteten die Kreuzzüge die höchsten Ruhmes- und Ehrenzeiten; hingegen schädigten sie ihn, da viele Geschlechter ausstarben oder der großen Ausgaben wegen verarmten. Der Kampf um Jerusalem ließ auch die geistlichen Ritterorden — Templer, Johanniter, Deutschritter —- entstehen, die den übrigen Gelübden ein neues, den Kampf für die heiligen Stätten und die Pilger, beifügten. Durch die Berührung der zwei Glaubensbekenntnisse kühlte sich allmählich der blinde Haß ab. Es zeigte sich, daß auch der Andersgläubige Mannhaftigkeit und Edelmut besitzen konnte. So gingen Christen und Mohammedaner im Lobe eines Saladin einig. Die Abschwächung des religiösen Eifers brachte auch eine Erkältung dem Papsttums gegenüber. IV. Der Verfall der Kirche. 1. Der Sturz der päpstlichen Weltherrschaft. Nicht nur das Scheitern der Kreuzzüge, für deren unglücklichen Ausgang vielfach 56 ihr Urheber, der Papst, verantwortlich gemacht wurde, sondern auch der rücksichtslose Kampf gegen die Kaisermacht hatte dem Papsttum zahlreiche Anhänger entfremdet. Nachdem das Kaisertum den römischen Reichsgedanken aufgegeben und sich auf die deutschen Lande beschränkt hatte, sank der Einfluß des Papstes noch mehr, indem er das Bestätigungsrecht der deutschen Könige, deren Wahl ausschließlich auf die mächtigsten Fürsten, die Kurfürsten (Mainz, Trier, Köln — die Pfalz, Sachsen, Brandenburg, Böhmen) überging, verlor. Zudem geriet der Papst in eine schmachvolle Abhängigkeit von Frankreich, wo sich eine starke Königsmacht herausgebildet hatte. Während 70 Jahren war Avignon, eine Stadt am untern Laufe der Rhone, der Sitz der Päpste, und als diese (1378) wieder nach Rom zurückkehrten, wählten die französischen Kardinäle Gegenpäpste. Ein Papst verfluchte den andern und dessen Anhang, und vierzig Jahre lang wußte das Abendland nicht, wer Oberhaupt der Kirche war. 2. Die Verderbnis der Kirche. Schlimmer noch als diese Spaltung war die Verderbnis der Kirche. Von der Armut Christi war bei den Päpsten nichts zu sehen. Auf alle mögliche Weise wurde das Gold der Frommen nach Rom und Avignon gelockt. Papst Johann XXII. hinterließ bei seinem Tode 18 Millionen Goldgulden in bar und 7 Millionen an Kleinodien; andere Päpste lebten in fürstlich verschwenderischer Pracht. Bischöfe und Klöster ahmten das sittenlose Treiben des römischen Hofes nach. Immer schwunghafter wurde mit Reliquien und geweihten Gegenständen Handel getrieben; auch Befreiung von kirchlichen Geboten war um Geld zu haben. Durch anstößigen Lebenswandel gaben viele Geistliche dein Volke ein schlechtes Beispiel; die Mönche vieler Klöster beschäftigten sich mit Jagd und andern weltlichen Vergnügungen, so daß Wissenschaft und klösterliche Kunst zerfielen. Das Konzil von Konstanz (1414—18) machte nur der zwiespältigen Papstwahl, nicht aber der Verderbnis der Kirche ein Ende. 3. Der äußerliche Gottesdienst. Allgemein glaubte das Volk, durch Geschenke für Kiretienschmuck, Gemälde, Kirchenfahnen, Glasfenster, durch fleißigen Kirchenbesuch, Rosenkranzbeten, Wallfahren, also durch Werkheiligkeit, die Bedingungen zu erfüllen, die einen Platz im Himmel verbürgten. Es erhoffte von den Gebeinen eines Heiligen die Fürbitte für Genesung von Krankheit, Schutz vor Hagelschlag, Frost und anderem Unglück. Es brachte den I — 57 — Bildern und Reliquien so viel Verehrung und Zutrauen entgegen, daß es den Eindruck erweckte, man bete zu diesen und nicht zu Gott. Die Ablaßkrämer gewährten, ohne daß eine bußfertige Gesinnung da war, um Geld den Ablaß zeitlicher Strafen, d. h. solcher Strafen, die nach der kirchlichen Lehre auf Erden oder im Fegefeuer abzubüßen waren. Man kümmerte sich wenig darum, daß gemäß den kirchlichen Lehren ein mit einem Ablaßzettel Versehener erst durch die nachträglich von einem Priester ausgesprochene Vergebung sündenrein wurde. E. Ritter, Bürger und Bauer. I. Das Rittertum. (Siehe Seite 44). Verarmung der Freien. Schutz durch Karl den Großen. Reiterdienst. Adel- Wehrstand. Landschenkungen. Burg. Schädigung der Bauern. Untergang der Freien. Erziehung des Adels: Page, Knappe, Ritter. Beschäftigung. Turniere, Feste. Geldmangel. Verschuldung. Raubritter. Fehden mit Städten. Aus den Vasallen, die hauptsächlich den Kriegsdienst leisteten, bildete sich ein besonderer Kriegerstand. Der Ertrag der Lehen ermöglichte den Dienst zu Pferd, die Heere wurden Reiter- d. h. Ritterheere. Nicht bloß ursprünglich Edle und Freie, sondern auch abhängige Leute gehörten dem neuen Stande an. Der hörige Ritter genoß mehr Ansehen als der freie arme Bauer und wurde mit der Zeit dem Adel beigezählt: Reiterdienst adelte. Die Grafen und Freiherren, die direkt unter dem Kaiser standen, bildeten den hohen, die von geistlichen oder weltlichen Herren abhängigen Ritter, den niederen Adel. In späterer Zeit (gegen 1200) schloß sich der Adel nach unten hin ah und knüpfte an die Erwerbung der Ritterschaft die Bedingung ritterlicher Geburt. War der niedere Kriegsadel anfänglich roh, habgierig und rauflustig, so wurden später für die Erziehung und Tätigkeit der Adeligen besondere Grundsätze aufgestellt (Edelknaben auf fremdem Edelhof — Knappenzeit — Ritterschlag). Einst war die Erziehung zum Waffen- h and werk für Krieg und Jagd Hauptziel; zur Zeit der Kreuzzüge aber nahm das Rittertum höhere Formen an. Schutz der Religion, der Witwen, Waisen und Bedrängten, Hochachtung vor Frauen, höfisches (höfliches) Benehmen wurden zu ritterlichen Pflichten. Jagd, Kampfspiele und Kriegsfahrten machten den Inhalt des Ritterlebens aus. Für die festlichen Kriegsspiele, die Turniere, bildete sich die 58 militärische Kampfeskunst der gepanzerten Ritter nach genauen Regeln aus. Die Wappen und mit ihnen die Geschlechternamen wurden gebräuchlich. — In Südfrankreich, wo das Rittertum zuerst eine feinere Blüte erlangte, kam auch die ritterliche Dichtkunst auf, die sich über das ganze Abendland verbreitete. Sie besang in Liedern den Frühling und die Frauen (Minnesang); in erzählenden Gedichten (Epen), Ritterromanen und Heldenliedern wurden die großen Heldengestalten der Geschichte und der Sage gefeiert: Karl der Große, Roland, die Nibelungen. Fahrende Sänger ritterlichen Standes zogen von Burg zu Burg und an die Festlichkeiten, wo sie diese Dichtungen vortrugen. Die Blütezeit des Rittertums dauerte nicht lange. Der niedere Adel verbauerte, verarmte und entartete vielfach. Als Raubritter bildeten viele seiner Glieder eine Plage für Bauer und Städte. II. Die Städte. Gründungen der Zähringer. Städte um Stifte. Wall und Graben. Das Innere. Handwerker, Kaufleute, Bauern, Zünfte. Gegen den Adel. 1. Die Entstehung unserer Städte. In deutschen Landen waren die durch die Römer gegründeten städtischen Siedelungen fast ganz verschwunden. Erst vorn 10. Jahrhundert an entstanden wieder größere, burgartig befestigte Orte, zum Teil auf römischen Ruinen, und wurden zu Mittelpunkten des Gewerbefleißes und des Verkehrs. Während im ersten Jahrtausend der Grundbesitz (Bodenprodukte) Macht und Reichtum verlieh, kam allmählich, besonders durch den Handel, ein neues Machtmittel auf, das Geld (Kapital). Das Kaufgeschäft und der Kaufplatz wurden Markt genannt, der durch das Marktrecht besonderen königlichen Schutz genoß. Besondere Marktgerichte entschieden in Handelssachen. Für befestigte Orte mit Marktrecht (täglicher oder wöchentlicher Markt), an das sich gewöhnlich Münz- und Zollrecht schlössen, kam im 12. Jahrhundert das Wort Stadt auf. Die Städte schützten vor Überfällen, bildeten militärische Stützpunkte und wurden für die Besitzer willkommene Einnahmequellen. An Seen, Flüssen, wichtigen Straßenkreuzungen wurden neue städtische Ansiedelungen errichtet. Man bezeichnete einen Platz, teilte ihn in Hofstätten (Bauplätze) ein und gewährte denjenigen, die hier Häuser bauten, die Rechte der Stadtbürger*. * So wurde Freiburg gegründet 1176, so Bern 1191 durch die Herzöge von Zubringen. Im Kanton Zürich haben die Grafen von Kiburg Winterthur zur Stadt erhoben (1264); auch Glanzenberg, Regensberg, Eglisau, Bülach, Flgg, Greifensee sind durch Fürstengunst Städtchen geworden. Zürich wird 59 Die Bewohner einer Stadt, die Bürger, erstellten zusammen die Befestigungen und besorgten den Wachtdienst. Einige angesehene Bürger wurden mit der Aufsicht über den Markt, die Befestigung, die Stadtwache, die Allmende, die Brunnen, Straßen und Wege betraut, und indem ihre Befugnisse wuchsen, bildeten sie mit der Zeit den städtischen Rat. Die Abgaben wurden zur städtischen Steuer, die Marktbuße hieß nun Stadtbuße, das Marktgesetz Stadtgesetz. Die Stadt bildete einen eigenen Gerichtsbezirk und besaß größere Unabhängigkeit als das Dorf. Sie genoß ganze oder teilweise Zollfreiheit und war in ihren Leistungen an den Landesherrn oder den Kaiser den offenen Orten gegenüber bevorzugt. In der Stadt schwand der Unterschied der Stände. Ein jeder, ob frei oder leibeigen, durfte auf dem Markte kaufen und verkaufen, sofern er die Gebühren bezahlte. Wurde ein in die Stadt verzogener Leibeigener von seinem Herrn binnen Jahresfrist nicht zurückgefordert, so war er der Leibeigenschaft los, darum die Redensart: Stadtluft macht frei. 2. Das Aussehen der Städte. Der eisernen Rüstung des Ritters entsprach die Befestigung der Stadt. Ringmauern mit Türmen und Wehrgängen, Tore mit Fallgatter und Zugbrücke, Graben und Wall umschlossen sie. Aus dem Gewirr niederer Häuser ragten spitze Kirchtürme, erhoben sich die treppenartigen Giebel der vornehmen Häuser. — Innerhalb wie außerhalb der Mauern lagen fast immer Gemüse- und Baumgärten, dazwischen Höfe mit Viehwirtschaft. In den ungereinigten Straßen trieben sich Hühner und Schweine umher. Mehr nach der Mitte der Stadt lagen an den belebten, breiten Straßen die Warenhäuser der Kaufleute, während die Handwerker meist an engen Gassen wohnten. Markt und Rathaus waren der Mittelpunkt der Stadt. Vor den Toren, in der Vorstadt, hauste allerlei dürftiges Volk. Mit der Zeit wurden die Straßen gepflastert. Im Rinnstein, der oft mitten in der Straße war, wurden Schmutz und Kehricht fortgespült. Während anfänglich fast alle Häuser aus Holz waren, wurde später der Fachwerkbau angewendet. Im Erdgeschoß lag der Kramladen oder die Werkstatt, darüber befanden sich die Wohnräume. Nach und nach kamen die kleinen, runden Fenster- seit 929 als Stadt bezeichnet und besaß schon 972 den Markt, dessen Aufsicht seit der Mitte des 11. Jahrhunderts der Äbtissin des Fraumünsters zukam, seit der Bildung eines städtischen Rates (um 1220) aber allmählich an die Bürgerschaft überging. 60 Scheiben auf. Der Rat ermunterte die Bürger, die feuergefährliche Schindelbedachung durch Ziegel ?u ersetzen. Der steigende Wohlstand und die Entwicklung des Handwerks brachten eine Verschönerung der Städte. Die Häuserfronten wurden mit Malereien, Wappen, Sprüchen und Erkern verziert. Am schönsten zeigten sich die öffentlichen Gebäude, die meist aus Stein gebaut waren. Da war das Rathaus mit der schönen Ratsstube und dem Laubenvorbau im ersten Stock. Keiner größeren Stadt fehlte das Kaufhaus, wo die Handelsgüter aufgestapelt waren. Vor allem aber herrschte ein reger Wetteifer in der Errichtung prächtiger Kirchen. Basel und Bern bauten schöne Münster, deutsche Städte schufen wahre Prachtbauten, so Ulm, Straßburg, Freiburg i. B. und Köln. Meist wurde der gotische Stil mit den spitzbogigen Fenstern, steilen Giebeln, zahlreichen Spitzen und Türmchen angewendet. Eine größere Stadt besaß etwa 10,000 Einwohner. Um 1450 hatte Nürnberg, damals wohl die größte deutsche Stadt, etwa 25,000 Einwohner, Basel 13,000. Zürich zählte 1350 ungefähr 8000, 1529 nur noch etwa 6000 Seelen. 3. Der Handel. Aufkommen der Geldwirtschaft. Der geringe Handel des frühen Mittelalters war Tauschhandel, da das Geld noch selten war. Später verbesserte sich der Bergbau, und die Edelmetalle wurden häufiger gewonnen. So kam der Geldverkehr immer mehr auf, zuerst in den italienischen Städten. Die Römerzüge der deutschen Kaiser förderten den Verkehr mit Italien, und die Kreuzzüge fügten den Handel mit dem Morgenlande hinzu. Die praktischen Italiener schufen neue Erleichterungen. Auf ihren weiten Reisen mußten die Kaufleute ihr Geld oft umwechseln, was Mühe und Kosten verursachte. Nun fingen sie an, Wechselbriefe auszustellen, worin sie sich verpflichteten, eine bestimmte Summe an einem bestimmten Tage zu zahlen. Der Verkäufer nahm den Erlös in Form eines Wechsels mit sich, der ihm daheim durch einen Wechsler oder Bankier in Landesmünze ausbezahlt wurde. Die Bankiers, die miteinander in Verbindung standen, rechneten dann nach gewissen Zeiten miteinander ab. Die Geldwirtschaft befreite den Menschen von der Scholle; denn das Vermögen in Geld ist beweglich. Der Adel hielt sich vorn Handel fern, da dieses Gewerbe als unehrlich galt und die Kirche verbot das Zinsnehmen als Wucher. Dennoch konnten sich beide Stände der neuen Wirtschaftsform fil nicht entziehen. Um das unentbehrliche Geld zu erhalten und standesgemäß leben zu können, verkauften oder verpfändeten die Ritter ihre Güter an die reichen Städte, wodurch die Macht des Adels einen schweren Stoß erhielt; auch die Kirche wußte das bare Geld bald sehr zu schätzen. Die Handels wege. Der Verkehr zwischen Abend- und Morgen- land folgte anfänglich der Donau; auch die ersten Heere der Kreuzfahrer waren donauabwärts gezogen. Regensburg und Wien verdanken dieser Verkehrslinie ihre Bedeutung. Die italienische Politik der deutschen Kaiser und das Wachstum der italienischen Städte, die allen Verkehr auf dem Mittelmeere in ihrer Gewalt hatten, brachten den Verkehr über die Alpen. Die Bündnerpässe, der Gotthard und der Große St. Bernhard, sie alle waren von reisenden Kaufleuten belebt, die ihre Waren mit Saumtieren beförderten. Die deutschen Kaufleute holten die Erzeugnisse des italienischen Gewerbefleißes: Waffen, Schmuck und Gewebe, aber auch die Produkte des Orients: Zimmet, Pfeffer, Muskatnüsse, Nelken, Weihrauch, Farbhölzer und Edelsteine, Dinge, welche die Italiener als Zwischenhändler in Alexandria und andern Küstenstädten des Morgenlandes eingekauft hatten. — Die Länder, aus denen diese vielbegehrten Produkte stammten, nannte man kurz- weg Indien. Dieses galt den Europäern als Wunderland, und kühne Reisende, die unter vielfachen Gefahren dorthin gezogen waren, machten davon glänzende Schilderungen. Städte mit silbernen Mauern und goldenen Palästen sollten China zieren, und in Japan, das Zi- pangu hieß, seien Gold und Edelsteine haufenweise zu finden. Die Messen. Während Handelsschiffe die Waren nach Venedig und Genua brachten, zogen die Kaufleute damit zu Fuß, zu Wagen und zu Pferd in die Binnenstädte, wo zu gewissen Zeiten des Jahres der Handel blühte. Die Markttage fielen auf die zahlreichen hohen Festtage der Kirche. In der Woche vor und nach einem solchen Feste strömten die Kaufleute aus weiter Gegend zusammen; da bildete sich der Markt, die Messe. Reich und hochberühmt waren die süddeutschen Städte Augsburg und Nürnberg. In der Schweiz wurden Chur, St. Gallen, Zürich, Basel, Genf und Luzern wichtige Handelsplätze. Das kleine Zurzach glänzte durch seine Pflngst- und Verenamessen (September). Da wurden Leder, Tuche, Pferde, Garn, Seide, Spitzen, Pelze, Strümpfe, Hüte, Knöpfe, Eisen, Silber- und Goldwaren, Spezereien, Gewürze und Luxusgegenstände verhandelt. 62 Man traf hier Schweizer, Deutsche. Franzosen, Italiener, Niederländer — Kaufleute, Juden, Bürger und Bauern, fahrendes Volk, Seiltänzer, Gaukler und Spieler, Werbeoffiziere und Reisläufer. Kaufleute aus Genf zogen bis nach Portugal, und auf den Genfer Messen war alles zu haben, vorn groben Holzschuh, wie ihn die Savoyarden trugen, bis zu den feinsten Spitzentüchern, vorn rohen Kupfer aus den savoy- jsehen Bergwerken bis zu der glänzendsten Rüstung. Sehr hinderlich für den Handel waren die mit jedem Orte verschiedenen Maße, Gewichte und Geldsorten; dazu kamen die einfachen Verkehrsmittel, der schlechte Zustand der Straßen, die zahlreichen Zölle und Weggelder und die allgemeine Unsicherheit. So ist es begreiflich, daß die Waren sich verteuerten und ihre Preise hoch waren. 4. Das Handwerk. Entstehung der Zünfte. Ursprünglich wurde in jedem Hause alles hergestellt, was zum Leben nötig war. Allmählich sonderten sich gewisse Gewerbe aus (Schneider, Schmiede usw.). In den großen Grundherrschaften wurden Leibeigene für allerlei Handwerke ausgebildet. In der Nähe königlicher Burgen (Pfalzen), die zugleich Marktplätze waren (Zürich), und in den neugegründeten Städten wurden hörige Handwerker angesiedelt und durch die Landbewohner ergänzt. Während der Handwerker des Hofgutes auf Rechnung seines Herrn gearbeitet hatte, arbeitete derjenige der Stadt auf eigene Rechnung und wurde frei. Schon zu Beginn des 12. Jahrhunderts schlössen sich manchenorts die Handwerker desselben Arbeitszweiges zu Verbänden zusammen, um religiöse Feste gemeinsam zu begehen, dann aber suchten sie für ihr Handwerk schützende Bestimmungen aufzustellen, Wettbewerb und Gewinn zu regulieren, Arbeitslöhne und Warenpreise festzusetzen; sie verlangten eigene Gewerbepolizei und eigenes Gewerbegericht, wodurch jeder Meister genötigt war, seinem Berufsverein beizutreten. Diese Berufsverbände, Zünfte genannt, wurden bald in allen Städten heimisch. Kampf mit den Geschlechtern. Gegen diese Bestrebungen wehrten sich der Marktherr und der Rat der Stadt, der aus den alten, vornehmen Familien, den Geschlechtern bestand, die ritterliche Lebensweise übten. Sie fürchteten die starke Stellung der Zünfte und hatten das kaufende Publikum vor schlechter Arbeit und hohen Preisen zu schützen; deshalb erließen sie häufig Verbote gegen die Zusammenschlüsse. Aber die Handwerker, welche die Mehrzahl 63 der Stadtbevölkerung ausmachten, nahmen den Kampf auf, ja, sie strebten darnach, in den Rat zu kommen, um Einfluß auf die Stadtregierung zu gewinnen. Es kam zu Verschwörungen, Mordnächten, Verbannungen. In Nord-Deutschland, wo der Handel an Bedeutung das Handwerk übertraf, siegten die Geschlechter, in vielen süddeutschen und schweizerischen Städten dagegen die Zünfte. In Zürich bedrohte man noch 1304 jeden, der eine Zunft, Meisterschaft oder Gesellschaft aufrichten würde, mit schwerer Buße, Niederreißung des Hauses usw.; aber schon 1336 gelangten die Zünfte durch Rudolf Brun zur Herrschaft. Ähnlich ging es in Basel, Schaffhausen und St. Gallen. In Bern, Freiburg, Solothurn und Luzern dagegen behaupteten sich die Geschlechter, doch gewannen auch dort die Zünfte Einfluß auf das Erwerbsleben. Die Meister. Jede Zunft bildete unter dem Zunftmeister eine besondere Abteilung im städtischen Heer. Sie hatte ihr eigenes Banner und ihren Schutzheiligen, ihre eigene Zunftstube und gemeinsame Kasse, aus der die Zunftgenossen nötigenfalls unterstützt werden konnten. Bei Familienfesten wurden neben den Verwandten in erster Linie die Mitglieder der Zunft eingeladen. Niemand durfte durch Knechte ein Gewerbe ausüben, das er selber nicht erlernt hatte. So mußte sich jeder Meister über Lern- zeit und Können ausweisen — Lehrlings-, Gesellen- und Meisterprüfung. — Die Berufe waren streng abgegrenzt. Der Weber durfte die Tücher nicht walken (reinigen), der Walker durfte nicht färben oder bleichen, der Färber und Bleicher durfte sie nicht scheren usw. Das Halten von Gesellen und Lehrjungen war eingeschränkt, die Zahl der Meister überragte gewöhnlich die der Gesellen. Bei großen städtischen Bauten besorgte die Stadt das Material, und die Meister und ihre Gesellen arbeiteten im Taglohn der Stadt. Die Gesellen. Die Gesellen, Knechte genannt, waren die Lohnarbeiter jener Zeit. Sie gehörten zur Familie des Meisters und standen unter einer strengen Hausordnung. Die Zunft bestimmte den Lohn, der manchmal aus Waren bestand. 1457 setzten die Meister von 20 oberrheinischen Städten einen Lohnsatz auf, der 28 Jahre gelten sollte, und die Weber in Speier glaubten, einen solchen für alle Ewigkeit aufstellen zu können. Auch die Gesellen bildeten zunftartige Vereinigungen, die mit den Meistern oft in Konflikt gerieten, wenn sie bessere Kost, bessere Behandlung und höheren Lohn zu erreichen suchten. Die zugereisten Bursche wandten sich nach der Gesellen- 64 Stube, und nach und nach kam der Arbeitsnachweis in der Gesellen Hand, d. h. die Meister mußten die nötigen Gesellen von deren Verbänden beziehen. Die einzelnen Gruppiern gehörten wieder großen Verbänden an. 1329 stellten die Bäckerknechte in Breslau die Arbeit ein, 1423 die Schneider in Mainz, 1475 erklärten die Blechschmiedgesellen Neuenburgs ihre Meister in Verruf, warnten ihre Berufsgenossen, dort Arbeit anzunehmen und zogen in andere Städte; 1389 sah Konstanz einen Schneideraufstand, wobei die meisten Gesellen die Stadt verließen; die Zurückgebliebenen wurden später, als sie in Straßburg Arbeit suchten, von den dortigen Gesellen als Abtrünnige bestraft. Aber trotz ihrer Verbände erlangten die Handwerksknechte nie große Macht; sie waren zu wenig zahlreich und lebten zu zerstreut. 5. Die Reichsstädte. Da die geistlichen und weltlichen Herren den Wohlstand der Städte für sich ausnützten, ohne, sie wirksam zu schützen, versuchten diese ihre Herrschaft abzuschütteln. Sie erreichten dieses Ziel durch kaiserliche Gnade, durch Loskauf, Aussterben des Herrengeschlechtes oder durch Gewalt. Selbstgewählte Behörden und Räte sorgten nun für Ordnung und Sicherheit. Manche Gemeinwesen, Reichsstädte genannt, standen direkt unter dem Kaiser, sie waren reichsunmittelbar. Er ließ seine Rechte durch einen Vogt ausüben (Blutgericht); aber auch sie gingen nach und nach an die Stadt über, die bald alle Befugnisse eines selbständigen Landesherr» ausübte. Die Reichsstädte, die alle das Wehrwesen sorgfältig pflegten, stellten eine solch achtunggebietende Macht dar, daß sie neben dem weltlichen und geistlichen Hochadel Zutritt zum Reichstage und damit die Mitwirkung bei den wichtigen Reichsgeschäften erlangten. «. Die Städtebünde. Da der Handel nur bei Sicherheit der Land- und Wasserstraßen gedeihen konnte, war die vornehmste Sorge der Städte die Aufrechterhaltung des Landfriedens. Die wehrhaften Bürger und ihre Söldner brachen die Burgen der adeligen Räuber und säuberten die Straßen vorn Gesindel. Um 1250 war nicht Kaiser- und Fürstenmacht die beste Garantie für den Frieden, sondern der rheinische Städtebund. In Süddeutschland bildete sich der schwäbische Städtebund, der zur Blütezeit über 30 Mitglieder zählte. Der mächtigste Bund war die Hansa unter der Führung Lübecks. Sie umfaßte bis 80 See- und Binnenhandelsstädte der Nord- und Ostseelande. Der gesamte nordische Handel lag in ihren Händen, und hanseatische Flotten und Heere demütigten Für- 65 sten und Könige. Diese Bünde allein vermochten den aufstrebenden Fürstenmächten für einige Zeit ein Gegengewicht zu bieten. 7. Städtische Bildung. Die ersten Stadtschulen. Die aufblühenden Städte wollten auch in Bildungsangelegenheiten selbständig sein; darum gründeten sie neben den Klosterschulen, die vielfach zerfallen waren, eigene städtische Anstalten: Lateinschulen, Schreibund Rechenschulen für Knaben, oft auch für Mädchen. Die Schule wurde etwa an den Meistbietenden verpachtet, der als „Rektor“ oder „Schulmeister“ die Leitung hatte. In seinem Dienste, von ihm gemietet waren die Gesellen (Lehrer). Unterrichtsweise und Zuchtmittel waren roh, die Leistungen gering. Die Hochschulen. Ursprünglich erhielten in den Klosterschulen nur künftige Geistliche eine Gelehrtenbildung. Bald aber wurden in die sogenannten „äußeren Klosterschulen“ auch andere Leute aufgenommen. Nach und nach machten sich diese Schulen von den Klöstern los und bildeten selbständige Anstalten mit eigenen Lehrern. Sie wurden mit der Zeit allgemein Hochschulen, ihre Lehrer Professoren und ihre Schüler Studenten genannt. Als Gelehrtensprache galt das Latein, dessen Kenntnis durch die Lateinschulen vermittelt wurde. — Die erste deutsche Hochschule wurde 1348 in Prag gegründet. Wien, Heidelberg, Leipzig usw. folgten nach, und 1456 erhielt auch Basel eine Universität. Die Meistersinger. Auch die Dichtkunst fand durch Bürger und Handwerksmeister eifrige Pflege. Der Meistersang war zum Teil die Fortsetzung des verfallenen ritterlichen Minnesanges. Poesie- eifrige Handwerksmeister gründeten Singschulen, die ähnlich den Zünften genau geregelt waren. An Sonntagen trugen sie auf dem Rathause oder in der Kirche ihre Lieder vor. Diese waren nach strengen Regeln verfaßt und arteten vielfach in Künsteleien aus, so daß sie für uns nicht genießbar sind. Schauspielerzünfte machten ferner große dramatische Aufführungen in Kirchen und auf den Marktplätzen, ernste, Osterspiele, im Anschluß an die großen Kirchenfeste, und komische, Fastnachtspiele, hauptsächlich zur Fastnachtzeit. Aus der Nürnberger Meistersingerschule ging der bedeutendste Meistersinger, Hans Sachs, hervor, der das Schuhmacherhandwerk betrieb. Er lieferte Tausende von Gedichten: Meistersänge, Erzählungen, Schwänke und Fastnachtspiele. — Aus dieser Zeit stammen auch viele Volkslieder, die sich mündlich, von Geschlecht zu Geschlecht, bis auf unsere Zeit fortgepflanzt haben. steschlchtslehrmittel. 5 III. Die Bauern. 1. Abhängigkeitsverhältnisse. Den Bauern gegenüber kamen im Mittelalter dreierlei Herrschaftsrechte zur Anwendung: a) Die Landeshoheit (Regierung). Für den Landesherrn übte der Vogt die hohe Gerichtsbarkeit aus. Er bezog die Vogtsteuer, eine Art Militärsteuer, und bot bei besonderen Anlässen die Bauern zur Fronarbeit auf. b) Die Grundherrschaft. Die Beamten des Bodenbesitzers, die Meier und Keller, übten die niedere Gerichtsbarkeit aus, d. h. sie richteten über geringe Vergehen, wie Diebstahl und Frevel in Wald und Feld, ferner bezogen sie die Grundzinse. Zur Erntezeit waren die Bauern auf deren Höfen zur Fron verpflichtet. c) Die Leibeigenschaft. Als Besitzer der Person bezog der Halsherr die Gebühren der Leibeigenschaft, die Fastnacht- und Herbsthühner, ferner den Todfall oder das Besthaupt, d. h. das beste Kleid oder das beste Stück Vieh aus der Hinterlassenschaft des verstorbenen Leibeigenen. Leistungen an die Kirche. Als schwerste Abgabe aber haftete auf den Grundstücken der Zehnten, den die Kirche zum Unterhalt der Geistlichkeit bezog. Der große Zehnten war der zehnte Teil von Getreide, Heu, Wein, der kleine die Abgabe an Vieh, Milchprodukten und Hülsenfrüchten. 2. Zersplitterung der Herrschaftsrechte. Ein Grundherr besaß selten eine ganze Dorfgemarkung. Die Höfe, von denen er die Gefalle bezog, und die er durch seine Hörigen und Eigenleute bebauen ließ, lagen meist in verschiedenen Dörfern zerstreut; auch der Zehnten eines Dorfes konnte verschiedenen Kirchen zugehören; Leibeigene verschiedener Herren wohnten in demselben Dorfe.* Durch Teilungen bei Erbschaften, durch Schenkungen von Grundstücken und Eigenleuten an Kirchen und Klöster, durch Verkauf einzelner Rechte (Grundzinse und Zehnten) wurde die Zersplitterung noch größer. * Es werden z. B. 1280 in einer Urkunde für Regensdorf 40 Einwohner als Zeugen erwähnt, wovon 22 unter der Vogtei der Herrschaft Regensberg, 5 unter derjenigen der Grafen von Rapperswil als Vögte von Einsiedeln, 7 unter dem König als Vogt reichsunmittelbarer Klöster standen. Noch bunter gestalteten sich dort die Hörigkeitsverhältnisse, indem hörig waren: 7 gegen Regensberg, 8 gegen Einsiedeln, 5 gegen Allerheiligen in Schafl'hausen, 5 der Propstei (Großmünster) Zürich, 4 dem Kloster St. Gallen, je einer gen Rheinau, Reichenau, Embrach, 6 der Kirche Niederweningen. (Dändliker, Geschichte des Kantons Zürich.) Die Streulage der Besitzungen lockerte die Fesseln der Leibeigenschaft und Hörigkeit; je weniger Rechte ein Herr in einem Dorfe besaß, um so geringer war dort sein Einfluß und um so schwieriger war es für ihn, seine Rechte auszuüben. Größere Grundherren (Grafen, reiche Klöster und Städte) strebten daher nach Abrun- dung ihrer Gebiete. Die Geldwirtschaft erleichterte ihnen die käufliche Erwerbung der Güter und Rechte kleinerer Grundherren (Freiherren und Ritter). Ganze Dörfer, ganze Talschaften kamen in eine Hand; aber dadurch erstarkte auch unter den Dorfbewohnern das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Hofrechte wurden zu Dorfrechten, Hofgerichte zu Dorfgerichten. 3. Die Allmende. Das stärkste Band der Einigung der Dorfgenossen bildete der gemeinsame Besitz an Wald und Weideland, die Allmende. Jeder Bauer durfte eine bestimmte Anzahl Stücke Vieh weiden und im Walde das nötige Holz holen lassen. Der Dorf- hirt trieb des Morgens das Vieh auf die Weide und am Abend wieder heim. Strenge wurde darüber gewacht, daß nicht Allmend- gut eingezäunt und für die Benützung des Einzelnen eingerichtet wurde, daß keiner mehr Vieh auftrieb, als ihm gestattet war usw. Später schloß man die Allmenden ab, d. h. man ließ keine neuen Anteilhaber mehr zu oder erhob eine Einkaufsgebühr. — Die Allmenden haben sich an vielen Orten, namentlich im Gebirge und in industriearmen Gegenden bis heute erhalten, andernorts lebt die Erinnerung an sie fort in den Bürgerrechtseinkäufen, den Waldkorporationen, den Gemeindewaldungen und Gemeindepünten.* 4. Die Dorfgemeinde. Verschiedene Umstände wirkten also zusammen, um den Bauernstand freier zu machen. Am kräftigsten blühten die Dorfgemeinden da auf, wo der Adel am stärksten zurückging. Die Landbevölkerung bildete eine gleichartige Klasse, die Unterschiede von frei, hörig und leibeigen verwischten sich; doch schuf die ungleiche Größe der Bauernhöfe neue Unterschiede. Die Inhaber der Huben d. h. der großen Bauernhöfe von zirka 30 Jucharten Ackerland, standen höher als die Schupposser, die nur 12—15 Jucharten bebauten, und die Tauner, die als Taglöhner der Großbauern ihr Auskommen fanden, ein kleines Gütchen bewirtschafteten und wenig oder kein Großvieh besaßen. — In den Versammlungen * Große Allmenden haben Uri, Schwyz und Zug. Waldkorporationen existieren in Schwamendingen und vielen andern Dörfern; zahlreiche zür- cherische Dörfer, z. B. Elgg, Marthalen, Bölach besitzen Gemeindewaldungen und Gemeindepünten 68 der Dorfbewohner, der Dorfgemeinde, wurden vier oder fünf Dorfmeier, der Förster, Hirte und Weidet gewählt. Sie gelobten, den Nutzen des Dorfes zu fördern, und wachten über die richtige Ausführung der Gemeindebeschlüsse, über Allmend- und Waldnutzung und das Wässern der Wiesen; sie bestimmten die Zeit der Ernte und besaßen das Recht, Zuwiderhandelnde zu büßen. — Doch bestand die Abgabenpflicht fort, und die landesherrliche Gewalt wurde eher größer; denn über mehrere Dörfer regierte der Vogt, der in den Untervögten und Amtsleuten seine Diener besaß. Selten gelang es einem Dorfe, sich hiervon zu befreien, auch wenn es sich von drückenden Steuerlasten loszukaufen vermochte. 5. Lebensweise. Die Häuser. Das mittelalterliche Dorf bot einen andern Anblick als das heutige. An unreinen, engen Gassen standen niedrige Häuser. Moosbedeckte Stroh- und Schindeldächer reichten auf der Hinterseite bis fast zum Boden. Hölzerne Laden verschlossen die Fensteröffnungen. Vorn Wohnraum, der meist ebener Erde war, führte eine hölzerne Treppe, oft nur eine Leiter zum Dachboden hinauf. Das Innere der Stube war kahl, die Wände hatten keine Verkleidung; an der Decke sah man die dicken Balken des Estrichs. An einer Wand stand ein Ofen aus luftgetrocknetem Lehm ohne Kacheln. Hinter der Stube war die Küche mit dem Herd. Eine weite Öfinung im Dach diente als Kamin. Neben der Wohnung waren Scheune und Stall; unter dem Dach befand sich der Heuboden. — Von den niedern Hütten der Hörigen hoben sich die Gehöfte des Grundherrn: Meierhof, Kellerhof und Mühle als größere Gebäude ab. Aber Luxus und Behaglichkeit fehlten darin. Die Räume waren nur größer, das Haus besaß ein Stockwerk mehr und hatte eine Gaststube. Gerätschaften. Die Hausgeräte waren ärmlich. Die Betten waren rohe Holzgestelle; ein Sack mit Moos, Laub oder Stroh lag darin. Längs der Wände zogen sich mitunter Bänke, die oft als Tröge und Schlafstellen dienten; ein Tisch aus rohem Tannen- oder Eichenholz, vielleicht einige Stühle, waren das ganze Mobiliar. Das Eßgeschirr, Teller und Löffel, bestand aus Holz. Gabeln kannte man noch nicht. Einzelne Gefäße waren aus Zinn oder Ton. Gewöhnlich aßen alle Tischgenossen aus der gleichen Schüssel. Die landwirtschaftlichen Geräte waren meist aus Holz und einige noch sehr primitiv; infolge der schlechten Straßen wurden Wagen noch wenig gebraucht. Einen großen Teil des Ernteertrages beförderten die Bauern auf dem Rücken heim. Speise und Trank. Milch, Butter und Käse bildeten neben Brot, „Muos“ und Kraut die Hauptnahrung. Fleisch genoß man nicht so häufig wie in der Gegenwart. Wasser, Most und Wein waren die Hauptgetränke. Bier trank man auf dem Dorfe selten, der Branntwein wurde erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts ein Genußmittel. Kaffee, Kartoffel und Tabak waren noch nicht bekannt, die Speze- reien noch sehr teuer, und statt des Zuckers verwendete man Honigscheiben ; darum besaß jedes Bauernhaus seinen eigenen Bienenstand. Kleidung. Die Kleidung des Bauern bestand aus selbster- zeugter Leinwand, aus Zwilch und grobem Sacktuch. Sehr oft ging der Bauer barfuß; trug er Schuhe, so waren es niedrige Schnürschube, während der Ritter sich mit Stiefeln bekleidete. Gewerbe und Industrie. Auch das Dorf war nicht ganz ohne Handwerker. Die für die Landwirtschaft besonders wichtigen Berufe, wie Schmiede, Wagner, Gabelmacher waren in jedem größeren Dorfe vertreten; daneben fanden sich auch andere Berufe: Weber, Schneider, Bleicher, Färber, Gerber und Bauhandwerker. Manche Dörfer besaßen eine Ziegelhütte. Eine viel größere Bedeutung als heute kam den Mühlen zu. Sie bildeten mit Säge, Hanf- und Flachsreibe, Obst- und Ölpresse und Fuhrhalterei eine Gruppe notwendiger, gewerblicher Betriebe. — Die lange Winterszeit wurde im Bauernhause mit nützlicher, industrieller Arbeit ausgefüllt. Die Frauen spannen mit der Spindel Flachs und Wolle, die Männer schnitzten Feld- und Hausgeräte („Chelle“) oder machten Flechtwerk aus Weidenruten. Geselliges Leben. Dem Landvolk fehlte es nicht an Vergnügungen und Lustbarkeiten. Hochzeiten, Taufen, Begräbnisse vereinigten stets eine größere Zahl von Gemeindegenossen. Erntefeste im Sommer unter der Dorflinde, „Stubeten“ im Winter brachten die jungen Leute zusammen. Nach Kirchfesten, Gerichtsverhandlungen und Eidesleistungen sammelte sich das Volk bei Spiel und Wein (.,Trinketen“), und hie und da gab es auch sonst Gelegenheit zu recht geräuschvollen Prassereien. F. Entstehung und Ausbildung der schweizerischen Eidgenossenschaft. Vorgeschichte. 1. Urzeit. Die ersten Spuren des Menschen in unseren Gegenden weisen in eine etwa 10—12,000 Jahre hinter uns liegende 70 Zeit zurück. Die wenigen Menschen, die damals in unseren Gauen lebten, waren wohl Höhlenbewohner, und es verflossen Tausende von Jahren, bis sich die Menschen bei uns zu Familien und Stämmen verbanden und auf Pfählen in seichten Gewässern die Dörfer bauten. 2. Helvetisch-römische Zeit. Als die Römer unser Land kennen lernten und unterwarfen, war es von mehreren keltischen Volksstämmen bewohnt. Diese Bevölkerung mischte sich mit den eingewanderten römischen Kolonisten und nahm deren Kultur an, so daß auch in unseren Gegenden jene hohe Zivilisation entstand, welche die Römer über die Provinzen ihres Reiches ausbreiteten. 3. Burgunder und Allemannen. Die Völkerwanderung brachte unserem Lande neue Bewohner, und damit ergaben sich die Verschiedenheiten in Sprache und Art unseres Volkes. Die Burgunder besiedelten (443 n. Chr.), vorn Rhein herkommend* den Westen unseres Landes, wo sie sich in kurzer Zeit mit der ansäßigen Bevölkerung verschmolzen, weshalb in jenen Gegenden eine neue Sprache, die französische, entstand. — Später (zirka 500) überschritten die Allemannen in unregelmäßigen Schwärmen den Rhein und besetzten die Mittel- und Nordostschweiz. Sie vernichteten oder knechteten die ansäßige Bevölkerung und brachten germanisches Wesen zur Herrschaft. Nur in dem schwer zugänglichen Rätien erhielt sich das lateinische Volkstum bis in unsere Zeit, während der Tessin das Schicksal der Poebene teilte, die von den Langobarden besetzt wurde. 4. Fränkische Zeit. Die folgenden Jahrhunderte brachten den Zusammenschluß von Burgund, AUemannien und Rätien unter fränkischer Herrschaft und die dauernde Verbreitung christlicher Kultur, die durch bedeutende Klöster gefördert wurde. (St. Gallen). 5. Beim deutschen Reiche. Bald nach Karls des Großen Tode zerfiel das fränkische Reich in verschiedene Teile; die wichtigsten waren Ostfranken (Deutschland) und Westfranken (Frankreich). Von Anfang an gehörten Allemannien und Rätien zu Deutschland; später kam auch Burgund hinzu. Mit der Zeit bildeten sich in unserem Lande viele einzelne Herrschaften. Das bekannteste Geschlecht war das der Herzoge von Zähringen. Es erwarb durch Gründung zahlreicher Städte (Frei- burg, Bern 1191, Burgdorf usw.) bleibende Verdienste um die Kultur unseres Landes. Erben der Zähringer wurden die Grafen von Kiburg; Zürich und Bern aber wurden reichsfrei, weil der Boden, auf dem sie standen, 71 Königsgut war. In Burgund erhoben sich die Grafen von Savoyen zum mächtigen Geschlecht; alles schien auseinander zu fallen, und auch den Nachfolgern der Kiburger, den Habsburgern, gelang es nicht, ihre Herrschaft über alle schweizerischen Gaue auszudehnen. Die Durchführung der Einigung sollte dem Volke selbst vorbehalten sein, und sie bildet den Inhalt der Schweizergeschichte bis in die neueste Zeit. 5. Zerfall des deutschen Reiches, zirka 1250—73. Überall benutzten die Fürsten die Ohnmacht des Reiches, um sich ganz selbständig zu machen, Königsgüter und königliche Rechte, wie Markt und Durchgangszölle, Bergregale u. s. f. an sich zu bringen, und kleinere Grundherren, Städte, Klöster und freie Bauern unter ihre Gewalt zu beugen. Um die königliche Hoheit und den Landfrieden kümmerte sich niemand mehr. Fehde folgte auf Fehde, und an den Straßen lauerten die Raubritter auf die Warenzüge der Kaufleute, um sie zu plündern. Das waren die schrecklichen Folgen des Faustrechts, die erst mit der Wahl Rudolfs von Habsburg zum deutschen Könige ihr Ende fanden. I. Die Geburtsstäffe der Schweizerfreiheit. 1. Land und Leute. Von andern Landesteilen ziemlich abgeschlossen, unter sich aber durch den vielbuchtigen Vierwaldstätter- see verbunden, liegen die drei Urkantone im Herzen der Schweiz. Schon zu Karls des Großen Zeiten war die Besiedelung durch die zahlreich eingewanderten Allemannen beendet. Der schwierige Verkehr mit dem ebenen Lande nötigte zu einer stärkeren Ausnutzung des Bodens, als dies heute geschieht; bis in hohe Regionen hinauf wurde Getreide angebaut und jeder Fleck urbaren Bodens angepflanzt. Das Ländchen Uri umfaßte den heutigen Kanton ohne das Urserental, das unter dem Kloster Disentis stand. Weitaus der größte Teil des Landes gehörte dem Kloster Fraumünster in Zürich. Es bestellte, wie es damals Sitte war, in seinen Besitzungen besondere Verwalter, Meier, die von den auf seinen Gütern sitzenden Zinsbauern, Hörigen und Leibeigenen die Abgaben bezogen und das „niedere Gericht“ über geringe Frevel ausübten. Die Meier von Silenen, Bürgten, Erstfeld etc. saßen auf Burgen und zählten zum niederen Adel. Neben dem Fraumünster besaßen noch andere auswärtige Herren und Klöster Land und Leute und verwalteten sie auf ähnliche Weise. Unter den einheimischen Herrengeschlechtern ragten 72 die begüterten und angesehenen Freiherren von Attinghausen hervor. Im Schi'Lhental lebten auch eine Anzahl freier Leute auf eigenem Grund und Boden. — Die zahlreichen Gotteshausleute waren sehr gut gehalten und standen nicht stark hinter den Freien zurück. Die Landeshoheit über alle Talleute übte als Stellvertreter des Kaisers der Reichsvogt von Zürich aus. Ihm stand die Rechtsprechung über schwere Vergehen, der sogenannte Blutbann oder das hohe Gericht, zu. Er kam jährlich zweimal ins Land, um Gerichtssitzung abzuhalten. Schwyz. Zu diesem Lande rechnete man nur die Talmulde südlich der Mythen und das Muotatal. Hier waren die Freien, mit eigenem Grundbesitz, gegenüber den abhängigen Leuten in der überwiegenden Mehrheit. Die Freien anerkannten als Obrigkeit nur den Grafen des Zürichgaus, der für den Kaiser die Reichsgewalt ausübte, das niedere Gericht lag bei dem Ammann, der aus ihrer Mitte gewählt wurde. Unterwaiden. Im Gegensatz zu Schwyz waren hier die unfreien Leute in der Mehrheit. Das meiste Land gehörte verschiedenen Klöstern oder den Grafen von Habsburg. Die freien Leute, die zahlreicher waren als in Uri und besonders in und um Staus und Samen lebten, standen wiederum unter der Hoheit des Grafen des Zürichgaus. Auch der niedere Adel war vertreten: die Ritter von Samen, Winkelried, Wolfenschieß etc. 2. Die habsburgische Gefahr. Von allen Herrengeschlechtern, die in den Waldstätten Rechte besaßen, nahmen unbestritten die Grafen von Habsburg die erste Stelle ein. Zwar waren ihre Befugnisse sehr verschieden. Als Grafen des Zürichgaus besaßen sie die hohe Gerichtsbarkeit über die Freien in Schwyz und Unterwaiden. Sie wurde für den Kaiser ausgeübt, war aber schon längst erblich geworden. Die Klöster übten das hohe Gericht über die Gotteshausleute nicht selber aus, sondern übertrugen es einem Schutzherrn, dem Kastvogt*. Auch diese Schutzherrschaft vererbte sich und brachte nicht geringen Nutzen durch Anteil an Steuern, Bußen und Fronden. Nun waren die Habsburger Inhaber der meisten Kastvogteien der genannten zwei Länder. Am ausgedehntesten waren ihre Rechte in Unterwaiden, wo sie über die Leute ihrer Höfe sowohl die hohe, als auch die niedere Gerichtsbarkeit ausübten. Als 1 218 die Zä hringer, die Reichsvögte von Zürich, ausstarben, ging * Vogt, Schutzherr über den Kasten, d. h. die Einkünfte des Klosters. 73 die Landeshoheit für das Tal Uri an das Geschlecht der Habsburger über, so daß diese wohl auf den Gedanken kommen konnten, alle Bewohner der Waldstätte in die gleiche Abhängigkeit hinabzudrücken und die Länder ihrer Hausmacht einzuverleiben. 3. Wirtschaftliche Verhältnisse. Was die Waldstätte vorn ebenen Lande besonders unterschied, war der Einfluß der Allmende, der Markgenossenschaft (auch Marchgenossenschaft). Nicht das Eigentum des Einzelnen war der Mittelpunkt des Erwerbslebens, sondern das Gemeindeeigentum. Auch hier waren Uri und Schwyz gegenüber Unterwaiden im Vorteil. Letzteres besaß fast so viele Allmenden als Kirchspiele, während Uri und Schwyz je nur eine einzige, große Markgenossenschaft bildeten. Über die Urner Allmende besaß zwar das Fraumünsterstift das Obereigentüm, aber die Talleute, Freie und Unfreie, verfügten darüber wie über ihr Eigen. In Schwyz trug die Markgenossenschaft, die gegen außen, besonders in Streitigkeiten mit dem Kloster Einsiedeln, selbständig auftrat, wesentlich dazu bei, die Hörigen und Zinsleute fast auf die Höhe der freien Bauern zu bringen. In der Markgemeinde kamen alle Talleute zusammen; hier hatten sie ihre gemeinsamen Interessen; von der guten Ausnutzung der Alpemveiden hing der Wohlstand des Einzelnen ab; darin wurzelte ihre Freiheit; denn in diese Angelegenheiten ließen sie sich nicht hineinregieren. Die Markgenossenschaften waren so bedeutend, daß ihnen zum Bauernstaat nur die politische Unabhängigkeit fehlte. Sie war das Werk der folgenden Zeit. II. Der Bund der drei Waldstäfte. 1. Uri wird reichsfrei 1231. Die stets wachsende Machtfülle des Hauses Habsburg bildete für die Waldstätte eine Gefahr, der sie sich zu entziehen suchten. Bei diesem Streben kam ihnen die günstige Lage ihres Landes zu gute. Der Gotthardpaß war die kürzeste Verbindung zwischen Po- und Rheinebene. Das Reich hatte ein Interesse, dieses Eingangstor nach Italien in seine Hand zu bekommen. So kaufte denn König Heinrich, der Sohn Friedrichs II., das Ländchen Uri 1231 von der habsburgischen Vogtei los, nahm es ans Reich zurück und versprach, es niemals zu verpfänden, noch zu veräußern. Als königliche Gemeinde mit eigenem Siegel, standen die Urner jetzt unter selbstgewählten Landammännern; die Markgemeinde erweiterte sich zur Landsgemeinde. Reichsvögte übten die Landeshoheit aus, und da sie wechselten, konnte 74 sich keine erbliche Vogtei begründen. Die Grundzinse und Verpflichtungen an weltliche und geistliche Grundherren blieben noch bestehen, wurden aber mit der Zeit abgelöst. 2. Der Freiheitsbrief der Schwyzer 1240. Die freien Leute in Schwyz suchten eine ähnliche Stellung zu erlangen, wie die Diner sie hatten. Sie schickten an Friedrich II., der in Italien gegen den Papst und die lombardischen Städte kämpfte, eine Gesandtschaft und führten ihm wohl auch Mannschaft zu. Der Kaiser ging auf ihre Wünsche ein und stellte ihnen ebenfalls einen Freiheitsbrief aus (1240). Damit strafte er zugleich die Untreue des Grafen von Habsburg*, der zum Papste hielt. Natürlich bestritt der Geschädigte die Gültigkeit der Urkunde. Da der Kaiser im Banne war, galten seine Amtshandlungen bei der päpstlichen Partei als unverbindlich. 3. Die ältesten Bünde (zirka 1245 und zirka 1260). Die Schwyzer griffen zu den Waffen, und ihnen folgten die Unterwaldner. Die einzelnen Dorfallmenden in Unterwaiden schlössen sich zu zwei großen Markgenossenschaften zusammen, wodurch das Selbständigkeitsgefühl der Leute geweckt wurde. Die gemeinsamen Ziele bewirkten ums Jahr 1245 einen Zusammenschluß der zwei Länder und die Kämpfe zwischen Kaiser und Papst fanden auch im Alpen- lande ihren Widerhall. Wahrscheinlich wurden um diese Zeit habs- burgische Burgen, die sich im Lande befanden, gebrochen. Ein schwerer Schlag für die freiheitsuchenden Landleute war der Tod Friedrichs II. (1250). Schwyz und Unterwaiden mußten sich wieder der habsburgischen Herrschaft fügen. — Das Faustrecht, das damals herrschte, brachte auch für die Waldstätte viele Gefahren. Darum schlössen die drei Länder Uri, Schwyz und Nidwalden ein ewiges Bündnis zur Wahrung des Friedens und zu gegenseitigem Schutze, ohne daß an den Herrschaftsverhältnissen etwas geändert wurde. Dieser Schutz- und Trutzbund legte den Grund zu unserer Eidgenossenschaft. (Um das Jahr 1260). 4. Der ewige Bund von 1291. König Rudolf von Habsburg. Erbe der Kiburger. 1273 Walil zum deutschen König. Kampf gegen Raubritter. Ende des Faustrechtes. Mit Zürich gegen Lüthold von Regensberg. * 1239 oder 1240 wurden die habsburgischen Lande unter zwei Bruder verteilt, so daß eine ältere (später österreichische) und eine jüngere (habsburg- laulenburgische) Linie entstanden. Während die erstere treu zum Kaiser hielt, trat die letztere auf die päpstliche Seite. Bei der Teilung fielen die Besitzrechte in Schwyz und Unterwaiden an die jüngere Linie. 75 Albrecht von Habsburg: Johann von Österreich. Verschwörung. Mord bei Windisch. Blutrache. Königsfeden. — Wilhelm Teil. Während der Zeit des Faustrechtes blühte das Haus Habsburg mächtig empor. Graf Rudolf wurde 1273 von den Kurfürsten zum König erwählt. „Er war ein tapferer, ritterlicher Mann von nüchternem, praktischem Verstand, wollte die Ordnung und verstand dabei seinen Vorteil.“ Mit der Sicherung des Landfriedens wußte er die Vergrößerung seiner Länder zu verbinden. Im Krieg gegen Ottokar von Böhmen gewann er für seine Söhne die Herzogtümer Österreich, Steiermark und Krain und wurde so der mächtigste Fürst von Deutschland. In unseren Landen erweiterte Rudolf planmäßig seine Besitzungen und Rechte*. Im Osten brachte er die reiche Grafschaft Kiburg in seine Gewalt, im Westen drängte er das Haus Savoyen zurück. In der Mittel- und Nordschweiz schien sich ein abgerundetes, habsburgisches Fürstentum herauszubilden. König Rudolf war ein strenger Herr und eifrig bemüht, durch Steuererhöhungen seine Einkünfte zu mehren. Die niebestrittenen Freiheiten der Urner bestätigte der König sofort in der wohlwollendsten Weisel Von einer Anerkennung des Schwyzerbriefes war dagegen keine Rede. Doch hatten die Schwyzer im ganzen einen gnädigen Herrn. Rudolf war Gaugraf und König in einer Person, so daß das Ländchen doch unmittelbar unter dem Könige stand. Der Bund. Nach dem Tode Rudolfs, 1291, schienen die Zeiten des Faustrechts wiederzukehren. Kaum hatte der König die Augen geschlossen, so erneuerten die drei Länder Uri, Schwyz und Unter- waiden (mit Obwaiden) den alten Schutz- und Trutzbund und beschlossen, keine Richter mehr anzunehmen, die Fremde wären oder dies Amt erkauft hätten. Dies war der Bund vorn 1. August 1291. Obgleich der Bundesbrief vorsichtig betont, daß jeder seinem Herrn dienen und Gehorsam leisten müsse, wie es sich gebühre, war das Bündnis doch gegen Habsburg gerichtet. Als sich in der Ostschweiz ein Bund bildete, um das gefährliche Übergewicht der ländergierigen Habsburger zu brechen, traten Uri und Schwyz mit Zürich für drei Jahre in ein Bündnis und nahmen an den folgenden Kämpfen teil. Ausbau der Freiheiten. Es war für die Waldstätte außer- " Rudolf entstammte der älteren habsburgischen Linie. 1273 kaufte er die Besitzungen der j ungern in den Waldstätten. 76 ordentlich wichtig, daß sich die Krone im habsburgischen Hause nicht vererbte. Geschickt lehnten sie sich an die Kaiser aus anderem Geschlechte, die mit den Herzogen von Österreich gewöhnlich zerfallen waren und die Treue der Talleute gerne belohnten. So bestätigte Adolf von Nassau, Rudolfs Nachfolger, nicht nur die Freiheiten der Urner, sondern auch die der Schwyzer. Als Adolf aber im Kampfe gegen Albrecht von Österreich fiel, und dieser die Krone erhielt, kamen schlimmere Zeiten. Wir hören weder von einer Anerkennung des Schwyzer- noch des sonst unbestrittenen Urnerbriefes. Immerhin traten-in der Verwaltung der Länder keine Änderungen ein, und Gewalttaten von Seiten Albrechts lassen sich nicht nachweisen. Die Ermordung Albrechts (1308) war für die Waldstätte ein Glücksfall. Der neue Kaiser, Heinrich von Luxemburg, bestätigte die Freiheiten der Urner und Schwyzer und in mehr allgemeiner Form auch die der Unterwaldner, obwohl diese keine früheren Freiheitsbriefe auszuweisen hatten. Er vereinigte auch die drei Länder 1309 zu einem einzigen, von Reichsvögten verwalteten Gerichtsbezirk. 5. Die Schlacht am Morgarten 1315. Sammlung der Österreicher in Zug. Überraschung am Agerisee. Bund zu Brunnen. Bei der nächsten, zwiespältigen Königswahl verweigerten die Eidgenossen Friedrich von Österreich die Huldigung und hielten zu Ludwig dem Bayern; gleichzeitig wendeten die Schwyzer in ihrem alten Markenstreit mit dem unter der habsburgischen Vogtei stehenden Kloster Einsiedeln wieder einmal Gewalt an. Jetzt entschloß sich Österreich zum Kampfe. Doch die Eidgenossen siegten. Am Morgarten erhielt der junge Bund die Bluttaufe, und gleich darauf erneuerten die Orte zu Brunnen den Bund von 1291. König Ludwig bestätigte die Freiheiten der Waldstätte. Bis 1341 erschienen noch Reichsvögte, um die Huldigung entgegenzunehmen; im übrigen aber ging alle Gewalt an die Landsgemeinden und die Landam- männer über. Uri, Schwyz und Unterwaiden waren freie Republiken geworden. III. Die Erweiterung zur achtörtigen Eidgenossenschaft. Erstes Aufstreben. 1. Beitritt von Luzern (1332), Zürich (1351), Glarus und Zug (1352) und Bern (1353). Luzern: Von Murbach an Habsburg. Schädigungen. Bund. Mordnacht. — Zürich: Pfahldörfer. Zollstätte. Turicum. Pfalz der deutschen Kaiser. Großmünster. Fraumünster. Ansiedelungen. Be 77 festigung. Geschlechterherrschaft. Handwerkerrevolution unter Rudolf Brun. 1336. Zünfte. Mordnacht. Gegen Rapperswil. Bedrohung durch Österreich. Bund 1351. — Bern: Eroberungen im Oberland. Kauf Laupens. Adel und Freiburg gegen Bern. Hilfe durch Waldstätte. 1339 Schlacht bei Raupen. Rudolf v. Erlach. Der Sieg am Morgarten trug seine Früchte. 1332 trat Luzern dem Bund der Waldstätte bei. Die Interessen der Handwerker und Sclüffleute, die auf den freundlichen Verkehr mit den Urkantonen angewiesen waren, hatten über diejenigen einer Adelspartei gesiegt, die ihre Vorteile bei Österreich suchte. Einige Jahre später halfen die Waldstätte den Bernern in ihrem Kampfe bei Laupen und bereiteten so den Anschluß der mächtigen Aarestadt vor. Auch mit Zürich, auf dessen Märkte namentlich Schwyz angewiesen war, pflegten sie freundliche Beziehungen, die zu vorübergehenden Bündnissen führten. Im Jahre 1351 schloß der Zürcher Bürgermeister Rudolf Brun mit den Waldstätten ein ewiges Bündnis, um sich sowohl gegen die aristokratische Partei in der Stadt, als auch gegen Österreich sicher zu stellen. Der Zürcher Bundesbrief (1. Mai 1351) war genauer als alle vorhergehenden Bünde; er wahrte jedem Orte seine besonderen Rechte und begrenzte die Hilfeleistung innerhalb einer weitgezogenen Grenze. Der Krieg zwischen Zürich und Österreich brach aus und dauerte mehrere Jahre. Dreimal wurde die Stadt belagert und die österreichische Landschaft von den Zürchern und Eidgenossen arg verwüstet. Während Zürich stand hielt, gewannen die Eidgenossen gewaltsam Glarus und Zug für den Bund (1352). In der Westschweiz fühlte sich Bern seit dem Laupenkrieg immer noch unsicher. Um eine Verbindung des Oberlandes mit Ob- waiden zu verhindern, trat es 1353 dem Bunde der Eidgenossen bei. Zwei Jahre darauf anerkannten Österreich und der Kaiser die geschlossenen Bünde; nur Glarus und Zug mußten wieder herausgegeben werden. Der Sempacherkrieg. Leopold III. und seine Pläne. Luzern erweitert seine Macht. Kleinkrieg. Eidgenossen in Zürich. Leopold gegen Luzern. Schlacht bei Sempach 1386. Arnold v. Winkelried. Eroberung von Wesen. Mordnacht. Schlacht bei Näfels 1388. Matthias Von Bühl. Der Friede dauerte nicht lange. Schon 1364 nahmen die Schwyzer Zug zum zweitenmal und stellten das Bündnis von 1352 wieder her. Luzern wollte sich von Österreich ganz unabhängig machen; es nahm das österreichische Entlebuch und das Städtchen Sempach in das Burgrecht auf und zerstörte die österreichische Festung Rotcnburg. 78 Österreich antwortete mit Krieg, erlitt aber bei Sempach eine furchtbare Niederlage (1886). Den Abschluß der achtörtigen Eidgenossenschaft besiegelte der ruhmreiche Kampf bei Näfels (1388). — Die Niederlagen von Morgarten, Sempach und Näfels trafen nicht allein das Haus Österreich, sondern den ganzen Adel unseres Landes. Er erlitt in der Blutrache von 1308 und in diesen drei Kämpfen Verluste, von denen er sich nie mehr zu erholen vermochte, so daß er zur Bedeutungslosigkeit herabsank. 3. Der Appenzellersturm. „Abtszelle“. Vögte. Kuno von Stoffeln. Vertreibung der Vögte. Abt, St Gallen und Städte. Appenzeller und Schwy- zer. Vögelisegg 1403. Appenzellerzüge. Abt und Friedrich von Österreich. Stoß 1405. Loskauf. Bund. Bisher hatten sich die Eidgenossen mehr in der Verteidigung befunden, jetzt wurden sie Angreifer. Ihre Erfolge weckten die Freiheitsgelüste benachbarter Landschaften. In Appenzell, in Bünden und im Oberwallis wagten die Bauern, von den Urkantonen teils heimlich, teils offen unterstützt, den Kampf gegen ihre Herren. Im Händchen Appenzell hatte der Fürstabt von St. Gallen alle vogtherrlichen, grundherilichen und halsherrlichen Rechte und alle Zehnten an sich gebracht. Infolge seiner Gewaltherrschaft verjagten die Appenzeller seine Vögte und besiegten mit Rat und Hilfe der Schwyzer in zwei Gefechten (Vögelisegg und Stoß) die Heere des Abtes und Österreichs. Dann verwüsteten sie in kecken Streifzügen die Nachbargebiete, drangen sengend und brennend bis in die Grafschaft Kiburg und ins Vorarlbergische vor, überall die Bauern zur Erhebung auffordernd. Die Niederlage der Appenzeller vor Bregenz machte dem „bösen Lauf“ ein jähes Ende. Immerhin behaupteten sie die erkämpfte Freiheit und wurden 1513 von allen Orten mit Ausnahme von Bern in den Bund aufgenommen. Auch die Stadt St. Gallen befreundete sich mit den Eidgenossen. 4. Die Eroberung des Aargaus 1415. Während des Konzils von Konstanz hielt Kaiser Sigismund 1415 einen großen Reichstag ab. Bei diesem Anlaß verfeindete sich der Herzog Friedrich von Österreich mit ihm und wurde mit der Reichsacht belegt. Nun forderte der Kaiser die Eidgenossen auf, die österreichischen Besitzungen in der Schweiz anzugreifen. Trotz eines kurz vorher erneuerten Friedens griff Bern sofort zu den Waffen, und auch Lu- zern, Zürich und die Urkantone folgten nach. In raschem Siegesläufe eroberten sie den fast wehrlosen Aargau, der teils Eigentum der Städte, teils gemeine Herrschaft wurde. Damit war zwischen den 79 drei Städten ein Zusammenhang hergestellt, dem Bunde aber durch die Verwaltung der gemeinen Vogteien eine stetige Arbeit zugewiesen (Tagsatzungen zu Baden). IV. Die Krisis des Alten Zürichkrieges (1436—50). Ausdehnung Zürichs. Handelsstraße nach Chur. Zürich und Schwyz. Absichten auf Gaster. Sperre. Waldstätte gegen Zürich. Verlust der Höfe und der Ufenau. Bund mit Österreich 1443. Thüring von Hallwil. Blickens- dorf. Hirzel. Verwüstungen. St. Jakob an der Sihl. Rudolf Stüßi. Greifensee 1444. Belagerung von Zürich. Friedrich III. ruft die Franzosen. Armagnaken. Farnsburg. St. Jakob an der Birs 1444. Kleinkrieg. Friede 1450. Folgen. Nach größerer Macht strebend, kamen sich die Bundesglieder selber in die Quere, wodurch nicht nur das bisher Errungene, sondern auch der Fortbestand des jungen Bundes ernstlich gefährdet wurde. Zwischen die Lande der Eidgenossen eingekeilt lag das große Gebiet der Grafen von Toggenburg. Der letzte Graf, Friedrich VII., starb 1436 kinderlos. Auf Teile seiner Erbschaft, auf die March und das Gasterland, hatten Zürich und Schwyz ihre begehrlichen Blicke geworfen, ersteres, um die Handelsstraße nach Chur und Italien in seine Hand zu bringen, letzteres, weil es sich nur nach dieser Seite vergrößern konnte. Das führte zum Alten Zürichkrieg, der erst 1450 nach vielem Blutvergießen mit der Niederlage Zürichs, aber doch mit einer Stärkung des Bundes endete. Die Schlacht bei St. Jakob a. d. Birs (1444) begründete den Ruf der schweizerischen Tapferkeit und förderte das Reislaufen. Fremde Fürsten und Herren wurden aufmerksam auf das streitbare Bauernvolk, und Frankreich, Savoyen, Mailand und Burgund knüpften mit den Eidgenossen Beziehungen an. V. Das Aufsteigen zur Machthöhe. 1. Die Gewinnung der Rheinlinie. Nach der Krisis des Bürgerkrieges nahmen die Eidgenossen ihre Eroberungspolitik mit neuer Kraft auf. Die Verbindung mit Appenzell und St. Gallen hatte sie dem Bodensee genähert, die Eroberung des Aargau die Aarelinie und Teile des Rheins in ihre Gewalt gebracht. Durch die Erwerbung der Grafschaft Kiburg dehnte Zürich sein Gebiet bis zum Rhein aus, mit Schaffhausen und Stein am Rhein waren die Schweizer befreundet, so fehlte nur noch der österreichische Thurgau. Leute aus den Waldstätten hatten das Städtchen Rapperswil eingenommen, weswegen Österreich sie beim Papste verklagte. Anfänglich half dieser dem Herzog, dann 80 aber verfeindete er sich mit ihm und hetzte die Eidgenossen zum Kriege auf. Diese schickten ihre Absagebriefe, und wenige Wochen später wurden der Thurgau und das Rheintal erobert und zu gemeinen Herrschaften gemacht (1460). Einzig Winterthur hielt eine lässige Belagerung durch die Eidgenossen zweieinhalb Monate aus, kam aber 1467 pfandweise an Zürich und wurde nie mehr eingelöst. Acht Jahre darauf rächten die Eidgenossen übermütige Spöttereien und Gewalttaten österreichischer Ritter gegen die verbündeten Städte Schaffhausen und Mülhausen mit einem Verwüstungszug in den Sundgau. Aber kein feindliches Heer trat ihnen entgegen, und nur ein rascher Friedensschluß verhinderte, daß der ganze Schwarzwald den Eidgenossen zufiel. 2. Die Burgunderkriege. (1474—77). Herzog Karl. Herzog Sigmund entlehnt Geld. Pfandlande. Peter v. Hagenbach. Schädigung schweizerischer Kaufleute. Ludwig XI. vermittelt die ewige Richtung. Hinrichtung Hagenbachs. Der deutsche Kaiser und Ludwig von Frankreich. Höricourt (1474). Zug in die Waadt. Grandson (1476). Beute. Karl in Lausanne. Kaiser und König lassen die Eidgenossen im Stich. Belagerung von Murten. Adrian von Bubenberg. Schlacht 1476. Hallwil. Waldmann. Haßfurter. Nancy 1477. Tod Karls. Die Murtnerlinde. Niklaus v. d. Flüe: Sächseln. Bauer. Beamter und Krieger. Einsiedler. Ranfttobel. Tagsatzung von Stanz. Heinrich im Grund bei Nikiaus von der Flüe. Die Räte. Der Herzog Sigmund von Österreich, den die Eidgenossen so schwer geschädigt hatten, suchte bei dem reichsten europäischen Fürsten jener Zeit, bei Karl dem Kühnen von Burgund, Hilfe. Er verpfändete ihm seine Güter im Elsaß und im Schwarzwald und schloß mit ihm ein Bündnis, das natürlich gegen die Eidgenossen gerichtet war. Aber die Burgunder machten sich durch den Vogt Hagenbach und sein übermütiges Auftreten nicht nur die Schweizer, sondern auch die Pfandlande, den Herzog von Österreich und den deutschen Kaiser Friedrich III. zu Feinden. Der französische König Ludwig XI. schürte das Feuer und brachte zwischen den Eidgenossen und Österreich einen Frieden, die „ewige Richtung“, zustande, welche die Streitigkeiten dieser beiden Erbfeinde durch den Verzicht Österreichs auf alle seine Rechte über eidgenössische Gebiete beseitigte. Dann einigte ein Bündnis alle Gegner Burgunds, und es kam zum Kriege. Die Eidgenossen zogen mit ihren Verbündeten vor Hericourt (1474) und erstürmten zahlreiche savoyische Schlösser im Waadtland (1475), während die Oberwalliser das sovoyische Unterwallis eroberten. Inzwischen schloß aber Karl der Kühne mit Frankreich und dem Kaiser Frieden und wandte seine ganze Kriegsmacht gegen die 81 Eidgenossen und besonders gegen Bern. Aber „dem wuchtigen Massenstoß des geschlossen kämpfenden schweizerischen Fußvolkes war die bewegliche Aufstellung des burgundischen Heeres nicht gewachsen“. Bei dem Versuche, durch den Jura in die Schweiz einzubrechen, wurde der Herzog bei Grandson (1476) geschlagen. Sein ganzes Lager mit all seinen Schätzen fiel in die Hände der Sieger. Im gleichen Jahre erlitt er bei Murten eine zweite Niederlage, so daß er von weiteren Angriffen absehen mußte. 1477 verlor er bei Nancy Schlacht und Leben und zwar durch Schweizertruppen, die im Solde des Herzogs von Lothringen kämpften. So büßte Karl Gut, Mut und Blut ein, und die Eidgenossen wären seine Erben geworden, wenn nicht die Eifersucht der inneren Orte die Eintracht gelähmt hätte. So fiel die Freigrafschaft um ein Trinkgeld an Frankreich. Kaiser Friedrich aber vermählte seinen Sohn Maximilian mit Maria, der Tochter Karls, und gewann so die reichen Niederlande für Österreich. Die Eidgenossen behielten neben der rasch verschleuderten Beute nichts als den Ruhm, Karl besiegt zu haben. Erst nach langem Zank nahmen sie ihre treuen Helfer im Kriege, die Städte Freiburg und Solothurn, in den Bund auf (14811. Hans Waldmann. Emporkommen: Blickensdorf. Schneider. Gerber. Söldner. Hauptmann. Einsiedleramtmann. Zunftmeister (Rat). Burgunderkriege. Höhe: Bauherr. Gesandter. Jahrgelder. Obrist-Zunftmeister. Bürgermeister. Reichtum. Ziele: a) in der Stadt: Verschönerung. Gegen Klöster und Adel. Förderung von Handel und Gewerbe, b) auf der Landschaft: Untertanen. Einengende Vorschriften. Sittenmandate. c) in der Eidgenossenschaft: Zürich Führung. Sturz. Gegner: Familie Göldli, Adel, Geistliche, Bauern, Eidgenossen (Theiling). Veranlassung: Tötung der Hunde. Erster Zug der Bauern vor die Stadt. Unklugheit Waldmanns. Zweiter Zug der Bauern. Seevogel. Aufstand in der Stadt. Gefangennahme. Neuer Rat. Folterung. Hinrichtung (1489). Waldmannsche Briefe. Hömerner Rat. Folgen und innere Gährung. Auf die Burgunderkriege folgte eine zwanzigjährige Friedenszeit. Jeder Ort hatte durch Eroberung, Kauf, Pfandschaft oder Burgrecht Besitzungen erworben, die er als Untertanengebiet betrachtete. Die alten Rechte und Bräuche widerstrebten einer gleichmäßigen Verwaltung des erweiterten Staatsgebietes. Die Städte drängten nach einer einheitlichen Regierungsweise, wie sie in Frankreich und Burgund gebräuchlich war. Im Strafwesen kamen Gefängnis und Buße mehr zur Anwendung; Handel und Handwerk versuchte man in die Stadt zu ziehen, und ausgelassene Volkssitten bekämpfte man mit Mandaten. In Zürich wurden diese Neuerungen hauptsächlich durch den Bürgermeister H an s Wald- Gescbichtslehrmittel. 6 82 mann vertreten; sie führten aber zu einer Erhebung des Landvolkes und zum Sturze des in den Burgunderschlachten berühmt gewordenen Mannes (1489). 3. Die Trennung vorn Reich. Die Bünde in Rätien. Bevölkerung. Große Herren: Bischof von Chur, Abt von Disentis, Graf von Toggenburg. Gotteshausbund 13ß7,1422. Grauer Bund inTruns 1424. Zehngerich- tenbund 1436 nach dem Tode des Grafen von Toggenburg. Eidgenossenschaft der drei Bünde 1471. — Schwabenkrieg 1499. Maximilian. Seine Forderungen: Beitritt zum Schwäbischen Bund, Kriegssteuer, Kammergericht. Zusammenschluß der Bündner und Schweizer 1497. Verwüstungskrieg. Schlachten: Schwaderloo, Frästenz, Kalven (Benedikt Fontana), Dornach. Frauentreue, Kriegselend im Tirol. Basel und Schaffhausen treten in den Bund 1501. Nach König Albrechts Tode hatte 130 Jahre lang kein Habsburger mehr die deutsche Kaiserwürde inne, und Österreich verlor während dieser Zeit seine Stammlande an die Eidgenossen. 1440 wurde Friedrich III. von Österreich deutscher Kaiser, und es gelang ihm, in 53jähriger Regierung sein Haus neu zu heben. Nach seinem Tode kam sein Sohn Maximilian auf den deutschen Thron. Der beliebte, ritterliche Kaiser suchte eine Stärkung des Reiches herbeizuführen. Den neuen Einrichtungen sollten sich auch die Eidgenossen unterziehen. Aber die Sieger von Murten weigerten sich, die Beschlüsse des Reichskammergerichtes anzuerkennen, die Reichssteuer zu zahlen und dem Schwäbischen Bunde beizutreten. Diesseits und jenseits des Rheines mehrte sich längst keimender, gegenseitiger Groll. Die Begehrlichkeit der Österreicher bedrohte Bünden, wo aus dem Gotteshausbund, dem Grauen Bund und dem Zehn- gerichtenbund eine neue Eidgenossenschaft entstanden war. Da Österreich in diesen Tälern viele Besitzungen erwarb, suchten die Bünde Schutz durch Anschluß an die Eidgenossen. Der Schwabenkrieg. Alte Streitigkeiten des Gotteshausbundes mit Tirol führten zu einem allgemeinen Kriege, in dem sich Bündner und Tiroler, Schweizer und Schwaben mit den Waffen in der Hand gegenüberstanden. Die verbündeten Bauern waren kriegstüch- tiger und blieben in allen größeren Treffen Sieger. Auch Maximilian, der selber die Kriegsleitung in die Hand nahm, vermochte keine Wendung herbeizuführen. Durch Vermittlung des Herzogs von Mailand kam ein Friede zustande, der die Eidgenossenschaft tatsächlich vorn Reiche löste und ihr das Landgericht über den Thurgau brachte. Nur im Zehngerichtenbund blieb die österreichische Herrschaft bestehen; aber er wurde doch als Glied der rätischen Eidgenossenschaft betrachtet. 83 Basel und Schaffhäusen, die im Kriege treu zu den Schweizern gestanden und viel erduldet hatten, traten 1501 dem Schweizerbunde bei. 4. Die Qroßmachtpolitik. Herzog Ludwig Sforza von Mailand und König Ludwig von Frankreich. Verrat von Novarra. Pavierzug 1512 für Maximilian Sforza und Papst Julius II. Eroberung des Herzogtums. Kardinal Schinner. Sieg bei Novarra 1513. Niederlage bei Marignano 1515 durch Franz I. von Frankreich. Gewinnung des Tessins und Veltlins. Erstes Vordringen über die Alpen. Von allen Orten konnten sich Uri und Unterwaiden am wenigsten ausdehnen. Der einzige Ausweg, der ihnen blieb, war ein Übergreifen über den Gotthard. So erwarben Uri und Obwaiden zur Zeit der Appenzellerkriege die obere Talstufe des Tessins, und um die Verbindung mit dem Wallis ‘zu sichern, auch das Eschental; später kam durch Kauf noch Bellin- zona hinzu. Aber diese mailändischen Gebiete waren sehr schwer zu halten und gingen nach der unglücklichen Schlacht bei Arbedo (1422) wieder verloren, nur die Leventina konnte wieder zurückgewonnen werden (1440). Ein Angriff der Mailänder auf das Livinen- tal wurde durch den Sieg bei Giornico (1478) abgeschlagen. Einmischung in die italienische Politik. Als die Eidgenossen sich später in die Händel Oberitaliens mischten, taten sie es um schnödes Geld und im Solde fremder Fürsten. Die Bündner erlangten in diesen Kämpfen den Besitz von Bormio, Veltlin und Chiavenna, die Eidgenossen den heutigen Kanton Tessin, während das Eschental wieder verloren ging. Die eidgenössische Eroberungspolitik nahm ein wenig rühmliches Ende. Der Versuch, in die Kriegshändel der Nachbarstaaten einzugreifen, scheiterte gründlich. Die Eidgenossen erlitten in den Mailänder Kriegen Verluste an Menschenleben wie in keinem Kriege vor- und nachher, und trotz ihres Heldentums verloren sie bei Marignano (1515) den Ruf der Unbe- siegbarkeit. VI. Innere Zustände der Eidgenossenschaft. 1. Zusammensetzung. Vollberechtigte Orte. Die Eidgenossenschaft bestand aus den acht alten Orten: Zürich, Bern, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwaiden, Zug und Glarus und den fünf neuen: Basel, Freiburg, Solothurn, Schaffhausen und Appenzell. Zugewandte Orte. Da mit der Zugehörigkeit zum Bunde bedeutende materielle Vorteile verbunden waren, wie Anteil an dem Steuerüberschuß der Gemeinen Herrschaften und den Pensionen fremder Fürsten, wurden keine neuen vollberechtigten Glieder mehr auf- 84 genommen, sondern befreundete Städte und Landschaften als „zugewandte Orte“ betrachtet. Solche waren: die Bünde in Rätien, das Wallis, der Abt von St. Gallen und die Grafen von Neuenburg und Valangin, die Städte St. Gallen, Biel, Mülhausen im Elsaß und Rottweil am Neckar. Gemeine Herrschaften. Es waren dies die unter der Verwaltung mehrerer oder aller Orte stehenden Untertanengebiete. Die bedeutendsten waren die Grafschaft Baden und die Freien Ämter im Aargau, der Thurgau, die Grafschaft Sargans, Uznach und Gaster, Gebiete im Waadtlande und der Tessin. 2. Regierungsweise. Landsgemeindekantone. Jeder Ort regierte sich selbst. In den Länderkantonen versammelten sich die Landleute mindestens einmal zur Landsgemeinde. Dem Landammann und seinem Schreiber, sowie den angesehensten Männern, welche die Landleute selbst bestimmten, lag die Aufgabe ob, die Beschlüsse der Landsgemeinde auszuführen und für Ruhe und Ordnung (Gericht) zu sorgen. Städtekantone. In der Stadt kamen die Bürger auf dem Rathause oder in der Kirche zusammen wie die Landleute auf der Landsgemeinde und wählten den Bürgermeister oder Schultheißen und die Räte. Sie berieten über die Angelegenheiten der Stadt, über Bündnisse, Krieg und Frieden, über Steuern und Befestigungen, über Handel und Gewerbe, Bauten usw. Der Rat brachte die Beschlüsse der Bürgerschaft zur Ausführung. Gewöhnlich bestanden zwei Räte nebeneinander, ein Kleiner Rat, der die Verwaltung besorgte und ein Großer, der an Stelle der Bürgerschaft allerlei Geschäfte erledigte. In Zürich bestand der Kleine Rat aus 26, der Große aus 212 Mitgliedern, und ähnlich war es in andern Schweizerstädten. Dem Bürgermeister oder Schultheißen und den Räten leisteten die Bürger alljährlich feierlich den Bürgereid. Hierbei wurden in den eidgenössischen Orten jeweilen auch die Bundesbriefe beschworen und den andern Kantonen in Gefahr und Not „im Namen Gottes, des Allmächtigen“ freundeidgenössische Bruderhilfe versprochen. Verwaltung der Untertanengebiete. Die landesherrlichen Befugnisse wurden in den Untertanengebieten durch Land- und Obervögte ausgeübt, die in den Schlössern des ehemaligen Adels wohnten. Sie wurden unterstützt durch die Untervögte, die den einzelnen Gemeinden vorgesetzt waren. Ungleiche Rechte. Die Landschaften hatten nicht die glei- 85 chen Rechte. Neben der landesherrlichen Gerichtsbarkeit bestanden eine Reihe privater Gerichtsherrschaften ehemaliger Grundherr- schäften fort, und fast jedes Dorf besaß ein Dorfrecht (Öffnung) oder seine Freiheiten, die vorn Landesherrn geschützt werden mußten. In den Gemeinen Herrschaften bestand neben dem Landvogt ein besonderes, eidgenössisches Gericht. 3. Die Tagsatzung. In den gemeinen Herrschaften wechselten die Landvögte der Orte alle zwei Jahre. Der Landvogt hatte zu Baden oder Frauenfeld genaue Rechnung abzulegen, und der Überschuß wurde unter die regierenden Orte verteilt. Die Rechnungsabnahme geschah auf der Tagsatzung. Das war die Versammlung der Boten aller dreizehn Orte und ihrer Zugewandten. Auch die Gesandten fremder Fürsten erschienen dazu. Zürich, das bis zur Reformation als Hauptstadt der Eidgenossen gelten konnte, erließ die Einladungen zur Tagsatzung zugleich mit einem Bericht über ihre Geschäfte. Briefe fremder Fürsten und Städte wurden durch reitende Boten den Regierungen der andern Orte mitgeteilt. Diese berieten über die Angelegenheiten und gaben ihren Abgeordneten die „Instruktion“ mit, d. h. sie schrieben ihnen vor, was sie sagen und wofür sie stimmen durften. Daher waren selten alle Boten einig, und es gab Aufgaben, die Jahrzehnte von den Tagsatzungen besprochen und nie gelöst wurden. Aber selbst, wenn alle Orte einem Beschluß der Tagsatzung zugestimmt hatten, war noch kein Ort verpflichtet, ihn auszuführen. So lag die ganze Regierungsgewalt bei den einzelnen Orten; von einer obersten schweizerischen Behörde, wie sie heute im Bundesrat besteht, war keine Rede. Nur drei Konkordate (Staatsverträge) oder „Briefe“ galten für die ganze Eidgenossenschaft. Der erste, der Pfaffenbrief, verpflichtete alle Bewohner der Schweiz „gemeiner Eidgenossenschaft Nutz und Ehre zu fördern“, und bestimmte, daß weltliche Streitigkeiten nicht vor ein geistliches Gericht gezogen werden durften und niemand sich gewaltsam selbst Recht verschaffen solle. Im Sempacherbrief wurde den Kriegern verboten, Gotteshäuser anzugreifen, Greise, Frauen und Kinder zu mißhandeln und der Beute nachzulaufen, bevor dies von den Haupleuten erlaubt war. Im Stanserverkommnis versprachen die Regierungen, einander bei Erhebungen (Auflaufen der Untertanen) zu helfen, Kriegsbeute nach der Zahl der Krieger und erobertes Land nach der Zahl der Orte zu verteilen. 86 4. Das Kriegswesen. Allgemeine Wehrpflicht. Die alten Eidgenossen hatten ihren Nachbarn den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht voraus. Vorn 16. bis 60. Altersjahre war der Schweizer zum Kriegsdienst verpflichtet, und von früher Jugend an übte er sich im Gebrauche der Waffen. In Stadt und Dorf waren Wettlauf, Pfeilschießen, Ringen und Steinstoßen Volksspiele, und Männer' und Jünglinge vereinigten sich in Schießgesellschaften, auf Schießstuben und in Schießständen. Bewaffnung. Stets waren die Eidgenossen kriegsbereit. Drohte eine Verwicklung mit einer fremden Macht, so war das erste, daß von der Obrigkeit eine schärfere Waffen- und Ausrüstungsinspektion vorgenommen wurde als in gewöhnlichen Friedenszeiten und daß man für alle Fälle Korn und Salz im Auslande ankaufte und die Magazine füllte.—Die Hauptwaffe war anfänglich die „Halbarte“; da sie sich aber im Kriege gegen die Reiterei als zu kurz erwies, wurde seit Anfang des 15. Jahrhunderts mehr und mehr der bis 5'/* Meter lange Spieß verwendet. Die Armbrust- oder Büchsen- schützen waren wenig zahlreich und schlecht war das grobe Geschütz; die Schweizer ließen sich darin von den Welschen und Deutschen überholen. Ihre Schutzrüstungen, auf die sie großes Gewicht legten, waren vortrefflich; sie brachten als die ersten einen brauchbaren Infanterieharnisch zustande. Zusammensetzung des Heeres. Das schweizerische Heer bestand hauptsächlich aus Fußvolk. Die äußersten Reihen der im Viereck geordneten Schlachthaufen bildeten die langen Spieße; im Innern war die sogenannte „kurze Wehr“, bestehend aus zahlreichen Haibartieren und den mit Mordäxten, auch etwa mit kurzen Spießen bewaffneten Leuten. Durch die Eidgenossen wurde das Fußvolk der wichtigste Heeresteil und andere Länder, namentlich Deutschland mit seinen Landsknechten, ahmten ihre Kriegsführung nach. 5. Reislaufen und Pensionen. Der kärgliche Boden vermochte besonders in den Alpentälern nicht die ganze Volkskraft zu ernähren, und die noch in den Anfängen liegende Industrie konnte nicht genügend Arbeiter beschäftigen. Daher kam frühe der fremde Kriegsdienst auf, und infolge des glänzenden Waffenruhms unserer Väter wurde die Nachfrage nach Schweizersöldnern so groß, daß das Reislaufen zu einer Industrie und die Zuweisung von Söldnern zu einer Erwerbsquelle der eidgenössischen Orte wurde. Die Folgen waren verderblich. Die Orte gewöhnten sich an die 87 Jahrgelder der fremden Fürsten, ohne die sie kaum mehr bestehen konnten; sie stellten das Geldinteresse manchmal höher als das Wohl des Staates, und die Regenten, die von dem Goldregen ihren besonderen Anteil bezogen, wurden bestechlich und ungerecht. Dadurch geriet die Schweiz in die Abhängigkeit fremder Staaten, namentlich Frankreichs, das am meisten Reisläufer in den Dienst nahm. Recht schlimm war das Volk daran. Roheit, Rauflust, Arbeitsscheu und prahlerisches Wesen nahmen überhand, die beste Jugendkraft ging auf fremden Schlachtfeldern verloren, und verkommene, invalide Söldner wurden nach ihrer Heimkehr eine Last der Städte und Dörfer. G. Die Vorboten der neuen Zeit. I. Die Entdeckungen. 1. Die Entdeckung des Seeweges nach Indien. Der Zwischenhandel. Die europäischen Kaufleute konnten die Produkte Asiens (Seite 61) nicht selber in den Ursprungsländern einkaufen. Zwischenhändler, besonders Araber, brachten sie in die Hafenplätze Vorderasiens. Dort wurden sie von den Italienern abgeholt und an die übrigen Völker Westeuropas verhandelt. Ein Haupthandelsplatz war Alexandrien. Von Indien her kamen die Waren zu Schilf ins Rote Meer, dann mit Karawanen nach Kairo und nilabwärts nach Alexandrien. In den Blütezeiten Ägyptens war sogar ein Nilarm durch einen Schiffahrtskanal mit dem Roten Meere verbunden. Die Herrscher Ägyptens erhoben von diesen Durchgangswaren hohe Zölle, so daß schon hier der Europäer das Drei- und Fünffache der Preise zahlte, wie sie in Indien waren, und noch gingen sie durch viele Hände, die alle ihren Gewinn verlangten. So wurden diese fremden Waren derart verteuert, daß sie für viele unerschwinglich waren. Kein Wunder, wenn die europäischen Handelsvölker alles daran setzten, um zur See einen direkten Weg nach Indien zu finden. Die Erforschung der Westküste Afrikas. Die Erfindung der Magnetnadel erleichterte den Schiffern, sich auf dem Meere zu orientieren. Sie fuhren nun nicht bloß den Küsten entlang, sondern wagten es, die großen Meere zu durchkreuzen. Zwar herrschten noch die seltsamsten Vorstellungen von den unbekannten Gebieten. Die Gegenden des Äquators galten als die Gärten des Todes; unter den senkrechten Strahlen der Sonne werde alles versengt; das Meer sei 88 so dickflüssig und salzig, daß kein Schiff es durchschneiden könne. Die große Landmasse des Erdteils Afrika stand dem Seeweg nach Indien als unbesiegliches Hindernis entgegen. Mit besonderem Eifer verlegte sich der portugiesische Prinz Heinrich, der Seefahrer genannt, auf die Erforschung der Westküste Afrikas. Immer neue Schiffe sandte er nach Süden, bis endlich Guinea erreicht war. 1487 umfuhr Bartholomäus Diaz die Südspitze des Erdteils. Schreckliche Stürme und die Weigerung der Mannschaft, weiter zu fahren, zwangen den kühnen Mann zur Umkehr. Er nannte das Land-Ende „Kap der Stürme“; sein König aber gab ihm frohlockend den Namen Kap der guten Hoffnung, weil die Erreichung des Zieles nun in nächster Nähe stand. Vasco da Gama in Kalikut (1498). Elf Jahre später segelten die Portugiesen unter Vasco da Gama abermals um das Kap. Beim Sultan von Malinda, nördlich von Sansibar, fanden sie freundliche Hilfe. Er gab ihnen einen Lotsen (Führer) mit, der die drei Schiffe quer durch den Indischen Ozean nach der berühmten Stadt Kalikut brachte. Nach achtzig Jahre langem Suchen und Wagen war der Seeweg nach Indien endlich gefunden. — Die mohammedanischen Kaufleute aus Arabien und Ägypten suchten zwar aus Konkurrenzneid die Portugiesen zu schädigen, und es bedurfte noch langer Kämpfe und Eroberungen, bis sie die Früchte der Entdeckungen sicher genießen konnten. 2. Die Entdeckung Amerikas (1492). Christof Kolumbus. Der Genuese Christof Kolumbus wollte auf einem anderen Wege Indien erreichen. — Er war der Sohn eines Tuchwebers. Mit vierzehn Jahren wurde er Matrose, dann stieg er zum Schiffsoffizier, Steuermann und Kapitän empor. Er besuchte England, Island und Guinea. Mit größtem Eifer studierte er Geographie und Sternkunde; er war einer der ersten Menschen, die unerschütterlich an die Kugelgestalt der Erde glaubten. Der berühmte italienische Geograph Toscanelli machte ihn darauf aufmerksam, daß Indien durch eine Fahrt nach Westen zu erreichen sei. Schiffer, welche die Azoren und andere Inseln westlich von Afrika besucht hatten, erzählten ihm auch von seltsamen Dingen, geschnitzten Hölzern, fremdartigen Menschenleichen, die das Meer von Westen her angeschwemmt habe. So erschienen Kolumbus die Behauptungen seines Landsmannes als erwiesen, und als schon bejahrter Mann anerbot er sich dem König von Portugal, die Fahrt nach Westen zu unternehmen. Doch erschien sein Plan den Portugiesen zu unsicher; man nannte Kolumbus einen Träumer und wies ihn ab. Die erste Reise (1492). Nun veranlaßte man Kolumbus, bei der Königin Isabella von Spanien anzufragen. Nach jahrelangem Zögern gewährte sie ihm ihre Unterstützung. 1492 stieß er mit drei Schiffen und 120 Mann Besatzung in die See. Er steuerte zunächst nach den Kanarischen Inseln, dann genau westwärts; denn er hoffte, direkt auf die berühmten indischen Handelsstädte zu stoßen und Zipangu, das Land der Edelsteine und Gold berge, zu erreichen. Über einen Monat fuhr das kleine Geschwader geradeaus; aber nur Wasser und Himmel und kein Zeichen von Land zeigte sich. Schon murrte die nicht sehr zuverlässige Mannschaft. Da fischte man einen Zweig mit frischen Beeren auf; weitere Anzeichen von nahem Land zeigten sich. Um 2 Uhr morgens — es war am 12. Oktober 1492 — entdeckte ein Matrose des vordersten Schiffes im Mondenglanz den schimmernden Saum eines vorspringenden Gestades, und unter dem Rufe: „Land, Land!“ stürzte er sich an das nächste Geschütz, um das verabredete Zeichen zu geben Im Prunkgewand und mit fliegenden Fahnen ergriff Kolumbus bei Tagesanbruch im Namen der spanischen Krone Besitz von dem Land. Die Bewohner waren vor den fremden Gästen erschreckt geflohen. Nach und nach wurden sie zutraulicher und gaben um weniges ihren Goldschmuck den Spaniern. Sie waren schlank und von kupfer- brauner Hautfarbe; das Gold wollten sie von Süden her empfangen haben. Daher fuhr Kolumbus in jener Richtung weiter; er betrat das heutige Cuba und die Insel Haiti. Hier ließ er eine Anzahl Freiwilliger zurück und fuhr nach Hause. Jubelnd begrüßte ihn das Volk; staunend betrachtete es die Rothäute und die Papageien, welche er mitgebracht hatte. Das Königspaar empfing ihn mit den höchsten Ehren, und Spanien ließ sich vorn Papst den Besitz der entdeckten Länder bestätigen. Die weiteren Fahrten. Die Kunde von den neu entdeckten Gebieten wirkte gewaltig auf alle Klassen der Bevölkerung. Neu- gierde, Abenteuerlust und Gier nach Gold bestimmten Tausende zur Reise nach dem Westen. Es begann jetzt die Völkerwanderung westwärts, die bis in unsere Zeit einen ununterbrochenen Menschenstrom darstellt. Mit 17 Schiffen trat Kolumbus seine zweite Reise an und entdeckte die Kleinen Antillen und die Insel Jamaika; auf der dritten fand er die Orinokomündung und betrat das Fest- 90 land von Südamerika. Seine vierte und letzte Reise brachte ihn nach Mittelamerika. Die aufgefundenen Gebiete rechnete er zu Indien und nannte sie Westindien, ihre Bewohner Indianer. Vergebens suchte er nach den reichen Städten Asiens. Da die Schätze, die man von den Fahrten erhoffte, ausblieben, fiel Kolumbus bei Hofe in Ungnade: er wurde abgesetzt, ja einmal sogar in Ketten gelegt. Bei seinem Tode (1505) hatte der große Entdecker keine Ahnung, daß er auf einen neuen Erdteil, der zwischen Europa und Asien liegt, gestoßen war. Erst spät er erkannte man den Irrtum. Der Florentiner Amerigo Vespucci beschrieb als erster „die Neue Welt“, die nach ihm Amerika genannt wurde. Kortes erobert Mexiko (1519—21), Bizarre Peru (1531). Bis jetzt hatten sich die Hoffnungen, welche die Spanier an ihre Entdeckungen geknüpft, nicht erfüllt; das erträumte Goldland wollte sich nicht zeigen. Und doch sollten ihnen äußerst wertvolle Länder in den Schoß fallen. Neben wilden Indianerstämmen enthielt die Neue Welt auch andere Völker, die eine hervorragende Kultur besaßen. — In Mexiko wohnte das merkwürdige Herrschervolk der Azteken, das unter einem großen Kaiser stand. Obschon es weder eiserne Geräte, noch Zugtiere besaß, war das Land trefflich angebaut und von Verkehrsstraßen durchzogen. Die Bewohner trugen Kleider aus Baumwolle und prächtige Schmucksachen, sie hatten eine eigene Schrift und eine hochentwickelte Baukunst. Die blühende Hauptstadt lag auf einer Insel inmitten eines Sees und stand nur durch lange Dämme mit dem Festlande in Verbindung. Ferdinand Kortes unternahm es, das Aztekenreich zu erobern. Mißvergnügte, von den Azteken unterworfene Indianerstämme kämpften an seiner Seite, so daß der kühne Plan gelang. Mit großer Härte wurde das Land unterworfen und die Einwohnerschaft zu Sklaven herabgedrückt. Zehn Jahre später fiel das zweite hochstehende Kulturreich Amerikas, Peru, in die Hände der Spanier. Der Eroberer, Franz Bizarre, erreichte zwar sein Ziel nur durch Wortbruch, Täuschung und unmenschliche Grausamkeit. — In beiden Ländern wurden un- . gezählte Gold- und Silberschätze erbeutet, und in Scharen strömten die Spanier in diese Kolonien, wo sie sich häuslich einrichteten und durch die Arbeit der Indianer sich bereicherten. Die erste Weltumseglung (1519—22). Im Auftrag des spanischen Königs führte der Portugiese Magellan die Versuche des Kolumbus, durch eine Westfahrt Asien zu erreichen, weiter. 91 Er folgte der Ostküste Südamerikas und drang durch eine unbekannte Meeresstraße, die jetzt seinen Namen trägt, in den Großen Ozean. Drei Monate und zwanzig Tage brauchte er, um ihn zu durchqueren, und beinahe wäre er dem Hunger und dem Durst erlegen. Er erreichte die Philippinen, wo er aber im Kampfe mit den Eingeborenen den Tod fand. Eines der Schiffe kam um Afrika herum nach Spanien zurück: es hatte die erste Fahrt um die Erde ausgeführt. Damit war ihre Kugelgestalt bewiesen. Freilich waren die Distanzen viel größer, als man angenommen hatte, so daß die Westfahrten nicht in den Dienst des indischen Handels treten konnten. 3. Folgen der Entdeckungen. Der Welthandel. In früherer Zeit war der europäische Seehandel auf die Binnenmeere: Mittelländisches und Schwarzes Meer, Nord- und Ostsee, beschränkt. Nun wurde er zum Welthandel, da man die Ozeane durchfuhr. Die Welthandelswege berührten das Mittelmeer nicht, so daß es beinahe verödete und die italienischen Städte von ihrer Höhe herab- sanken. Dafür blühten die Länder an der Westküste Europas auf; dort erstanden wahre Welthandelsplätze: Lissabon, Antwerpen, Amsterdam, London. Für die erste Zeit war der Indienhandel von überragender Bedeutung. Die Preise der fremden Waren sanken gewaltig; diese fanden einen größeren Absatz und bürgerten sich nun überall ein. Der Austausch der Produkte. Die verschiedenen Erdteile tauschten gegenseitig ihre Produkte aus. Amerika lieferte später eine Menge Edelmetalle, die in Mexiko und Peru reichlich vorhanden waren. Alljährlich brachten die „Silberflotten“ den Ertrag der amerikanischen- Bergwerke nach Spanien. Die neue Welt lieferte ferner Mais, Kartoffeln und Tabak, die mit der Zeit auch in Europa angepflanzt wurden, ferner Kakao und Farbhölzer. Anderseits wurden aus Europa die Haustiere, vor allem Rind und Pferd, ferner die Getreidearten in Amerika eingeführt. Auch Asien gab diesem Lande, besonders den wärmeren Gegenden, neue Kulturpflanzen ab, die trefflich gediehen: Zuckerrohr, Kaffee, Baumwolle. Die Bereicherung der Wissenschaft. Neue Pflanzen, neue Tiere, neue Menschen waren durch die Entdeckungen bekannt geworden. Die Geographie erhielt eine vollständige Umgestaltung. Die Lehren der Alten hatten sich vielfach als irrig erwiesen; hart angefochtene neue Ansichten (Kugelgestalt der Erde) wurden unumstößliche Wahrheiten. Ein reger Forschungseifer bemächtigte sich 92 der Gelehrten, so daß die Wissenschaften sich immer mehr von den ererbten Lehren befreiten. Die Kolonien. Alle die großen Handelsvölker erwarben sich Besitzungen in den fremden Erdteilen. Ein unaufhörlicher Strom von Auswanderern ergoß sich in diese Kolonien, verdrängte die einheimische Bevölkerung, verbreitete das Christentum und die europäische Kultur. Zwar erlagen ungezählte Tausende dem ungewohnten Klima, den Stürmen des Meeres oder den Waffen der Feinde. Die fremden Länder hatten noch größere Menschenverluste. Ganze Volksstämme wurden durch die Feuerwaffen, den Branntwein und die Habsucht der Europäer ausgerottet. Der Negerhandel. Schon die Portugiesen brachten von ihren Fahrten Negersklaven nach Hause. Durch die Kolonisierung Amerikas kam der häßliche, aller Menschlichkeit spottende Sklavenhandel erst recht in Schwung. Die Indianer erwiesen sich für die schweren Arbeiten, die ihnen ihre weißen Peiniger zumuteten als untauglich und gingen massenhaft zugrunde. Darum griffen die Pflanzer auf die kräftigen Neger. Man fing sie an der Küste Guineas wie wilde Tiere ein und führte sie als Sklaven in die Zuckerplantagen und Minen Amerikas. Erst das vergangene Jahrhundert hat diesem schändlichen Gewerbe ein Ende bereitet. II. Die Erfindung der Buchdruckerkunst (um 1450). Noch ums Jahr 1450 wurden nach alter Weise die Bücher mühsam von Hand geschrieben. Nur die Reichen konnten solche kaufen, da kleinere Hunderte, größere Tausende von Franken kosteten. Schon verstand man zwar die Holzschneidekunst. Man schnitt Bilder und Sprüche in Holztafeln, bestrick sie mit Farben und druckte sie mit einer Presse auf Papier ab, das an Stelle des teuren Pergamentes getreten war. Auch auf Kupferplatten wurden Bilder geritzt, die man auf ähnliche Weise vervielfältigte. (Kupferstiche.) Johannes Gutenberg. Nun trachtete ein grübelnder Kopf auch darnach, die Vervielfältigung der Bücher zu vereinfachen. Johannes Gutenberg von Mainz kam auf den Gedanken, Metallstäbchen zu gießen, die an ihrem Ende einen Buchstaben trugen. Diese setzte er zu Wörtern zusammen. Nach dem Gebrauche konnte er die beweglichen Lettern wieder auseinandernehmen und zu einem neuen Satze verwenden. Verbesserungen, die er an der Presse anbrachte, ermöglichten ihm einen raschen Druck. 1455 gelang die 93 Herstellung einer prächtigen, lateinischen Bibel. Alle Welt staunte über die schönen und billigen Bücher der Mainzer und hielt Gutenberg und seine Gesellen für Zauberer, umsomehr, als sie ihr Verfahren geheim hielten. Er selbst teilte das Schicksal so mancher Erfinder; sein Gläubiger Fust und sein ehemaliger Gehilfe Schöffer betrogen ihn um die Früchte seiner Arbeit. — Durch wandernde Buchdruckergesellen wurde die „schwarze Kunst“ über die ganze Welt verbreitet. Wo sie hinkamen, errichteten sie Druckereien. Die Rheingegend herauf, über Basel, wo eine Hochschule war, hielt sie schon frühe ihren Einzug auch in unser Land. Folgen. Nun galten die Bücher kaum noch den hundertsten Teil des früheren Preises. Erst jetzt stand allen Leuten der Weg zur Bildung offen. Ein großer Lerneifer ergriff das Volk; viele Erwachsene erlernten noch im gereiften Alter die Kunst des Lesens. Dem Einzelnen war es nun möglich gemacht, aus der Masse und der Gleichförmigkeit herauszutreten und sich in den Dienst der Entwicklung der Menschheit zu stellen. III. Die Wiedergeburt des Altertums. Blüte Italiens, Bis zum Jahre 1500 und sogar noch länger war Italien in Gewerbe, Handel, Seefahrt und Reichtum das erste Land Europas. Seine blühenden Städte waren Sitze der feinen Bildung und der Kunst. Allen voran glänzte das reiche Florenz, das jahrhundertelang die geistig hervorragendste Stadt des Erdteils war. Große Dichter erhoben die florentinische Mundart zur nationalen Schriftsprache und noch heute wird das beste Italienisch in der Toskana gesprochen. Florenz war auch die Geburtsstätte einer neuen Gelehrtenrichtung. Der Humanismus. Die Erinnerung an die große Vorzeit der Halbinsel war in Italien nie ganz erloschen; der Anblick der gewaltigen Überreste einer hervorragenden Baukunst mahnte laut genug daran. Zwar lagen die alten, beschriebenen Pergamentrollen der lateinischen Schriftsteller unbenützt und vergessen in staubge- füllten Räumen und gingen der Vermoderung entgegen. Selbst die Klöster, die damaligen Bildungsstätten, ließen diese Schätze achtlos liegen. Da bemühte sich der Florentiner Petrarca, ein berühmter Dichter (um 1350) die Werke der Alten zu sammeln und sich in deren Geist zu vertiefen. Sein Landsmann und Schüler Boccaccio lernte auch die griechische Sprache, deren Studium durch griechische 94 Gelehrte, die vor den in die Balkanhalbinsel eindringenden Türken nach Italien flohen, noch mehr gefördert wurde. — Mit einer wahren Leidenschaft warf man sich in Italien auf die Erforschung der herrlichen Schriftwerke der Griechen und Römer, die als wahre Quellen menschlicher Erziehung galten. Das heidnische Altertum erschien als eine vergangene goldene Zeit, die man nicht nur in Wort und Schrift, sondern auch in Sitten und Gebräuchen nachzuahmen suchte. Fürsten, sogar Päpste wurden eifrige Förderer und Beschützer des Humanismus, wie man die neue Studienrichtung nannte. Auf der berühmten Universität Bologna holten sich auch viele Deutsche die Vollendung ihrer gelehrten Bildung. In Deutschland fand der Humanismus ein zweites Vaterland. An den zahlreichen Hochschulen, die gerade damals gegründet wurden, studierten Tausende die alten Sprachen (auch das Hebräische). Der berühmteste deutsche Humanist war Erasmus von Rotterdam, der lange in Basel lebte, wo er seine Bücher drucken ließ. Er wurde als der größte Gelehrte seiner Zeit angestaunt. Auch die Schweiz hatte hervorragende Humanisten (Vadian, St. Gallen; Thomas Platter). Streit mit der Kirche. Der Humanismus kam bald in Gegensatz zu der damals allmächtigen kirchlichen Gelehrsamkeit. Freiere religiöse Ansichten brachen sich Bahn und neue Wissenschaften: Geographie, Astronomie, Mathematik und Naturkunde wurden eifrig gepflegt. Kopernikus aus Thorn vertrat als erster und im Gegensatz zu den damals herrschenden kirchlichen Lehren, die Ansicht, daß nicht die Erde, sondern die Sonne Mittelpunkt des Weltsystems sei. — Als eifrige Mönche die Verbrennung der jüdischen (hebräischen) Schriften, die Bibel ausgenommen, verlangten, wurde ihre Unwissenheit und Dummheit durch witzige Schriften der Humanisten lächerlich gemacht. Scharfe Hiebe erfolgten dabei auch gegen die Schäden der rückständigen und verfolgungssüchtigen Kirche (Seite 56). In diesen Streitigkeiten tat sich der deutsche Ritter Ulrich v. Hütten hervor, der sich nach der Schweiz flüchten mußte, wo ihm Zwingli auf der Ufenau eine Zufluchtsstätte verschaffte. Blüte der Kunst. Das Studium der Alten brachte eine neue Belebung der Kunst. Auch hier war Italien vorbildlich. Hochbegabte Künstler: Architekten, Bildhauer und Maler (Raffael) wetteiferten in der Schaffung von Meisterwerken. Weltberühmt sind heute noch der päpstliche Palast und die wundervolle Peterskirche in Rom. Die prächtig verzierten Portale, die hohe Kuppel und die ge- 95 wältigen Säulenreihen werden heute noch als das vornehmste und reichste Werk der Baukunst gerühmt. Noch jetzt wallfahren die Künstler aller Länder nach Italien, in das gelobte Land der Kunst. — Dieser Renaissancestil kam auch über die Alpen nach deutschen Landen. (Rathaus in Zürich; Stadthaus in Winterthur.) H. Die Reformation. Entdeckungen, Erfindungen und Humanismus hatten eine neue Zeit eingeleitet. Die Kirche, die größte Macht jener Zeit, hielt dagegen starr am Alten fest. Zwar waren seit Jahrhunderten Angriffe auf 1 ihre Verderbnis, ihre Verfolgungssucht, ihren Reichtum und äußerlichen Gottesdienst (Seite 56) erfolgt. Mit Feuer und Schwert hatte sie noch immer die unbequemen Mahner zum Schweigen gebracht. Nun aber erfolgten schärfere Angriffe, die das Papsttum ins Wanken brachten. Männer von großen Geistesgaben führten die Bewegung und verlangten eine Umänderung der Kirche an „Haupt und Gliedern“. Ihre zündenden Worte wußten Millionen von Menschen fortzureißen. I. Die Reformation in Zürich. 1. Religiöse und sittliche Zustände in Zürich. Kirchliche Verhältnisse. Zürich und sein Gebiet gehörten kirchlich zum Bistum Konstanz, das selber wieder unter dem Erzbischof von Mainz stand. Die städtische Geistlichkeit war sehr zahlreich; unter den 7—8000 Einwohnern gab es 214 geistliche Personen. Nach damaliger Sitte entfaltete der Gottesdienst eine große Pracht. Die Kirchen waren mit Bildern, Glasgemälden, prächtigen Altären und kostbaren Gefäßen ausgeschmückt. Feste, Prozessionen und Bittgänge, Wallfahrten nach Einsiedeln, St. Anna bei Stammheim, aber auch an heilige Orte des Auslandes, waren zahlreich. — Die Landschaft Zürich hatte nahezu 200 Kirchen und Kapellen, etwa 20 Bruder- und Schwesternhäuser und 12 Klöster, von denen Rüti, Kappel, Töß und Stein a. Rli. die bekanntesten waren. Während die Stadt als Landesherrin viele Rechte über die Klöster besaß, hatte sie zu den Pfarreien wenig zu sagen. Nur bei einem kleinen Teil der Kirchen stand ihr die Pfarrwahl zu, die meist in der Hand von Klöstern, zum Teil auch solcher außerhalb des zürcherischen Gebietes, sich befand. 96 Die Geistlichkeit. Längst waren die Zeiten vorüber, da die Geistlichen in Wissenschaft und Kunst die Führung hatten. Selbst hochgestellte waren oft unwissend und in der Bibel unbe- lesen. Am Chorherrenstift des Großmünsters, wo nur Söhne vornehmer Familien Versorgung fanden, überließ man die Arbeit Kaplänen und lebte in Üppigkeit. Berüchtigt war der Abt Trinkler in Kappel. Er hielt in Zürich mit großem Gefolge glänzende Aufzüge und trieb fürstlichen Aufwand. In dem lustigen Baden verpraßte er den größten Teil des Klostergutes. Als er endlich abgesetzt wurde, machte er seinem Leben durch Erhängen ein Ende. In den Klöstern zu Stadt und Land, auch bei den Nonnen, herrschten schlimme sittliche Zustände. Der Reichtum verleitete zur Genußsucht und Liederlichkeit; diese üble Wirtschaft brachte die meisten Klöster in schlechte finanzielle Lage. Ungehört verhallten die Warnungen des Bischofs gegen das Trinken, Spielen, Raufen und das weltlich sündhafte Treiben seiner Geistlichkeit. Verhältnis zum Papste. Die Schweizer, vor allem die Zürcher, galten als besonders fromm. Zur Zeit der Mailänderzüge waren sie die Stütze des Papstes. Für ihre Dienste erhielten sie vielerlei kirchliche Begünstigungen. Vornehme Zürcherfamilien bekamen durch des Papstes Gnade hohe, einträgliche Kirchenämter. Aber gerade die Söldner lernten das Tun und Treiben am päpstlichen Hofe kennen. Sie setzten allerlei spöttische Reden in Umlauf: „Je näher der heiligen Stadt (Rom), desto schlechter sind die Christen.“ Der Eifer für Dienstleistungen zu gunsten des Papstes erlitt einen schweren Stoß. Der Rat als Beaufsichtiget- der Kirche. Der Zürcher Rat mischte sich immer mehr in kirchliche Dinge. Eifrig war er bemüht, die Besetzung der Plan stellen auf dem Lande an sich zu bringen und die Geistlichen von sich abhängig zu machen. In weltlichen Dingen hatten die Pfarrer sich seiner Gerichtsbarkeit zu fügen und strenge suchte er Anstand und Sitte unter ihnen zu erhalten. Fehlbare Priester wurden gemahnt oder ihre Absetzung wurde erzwungen. Schon Waldmann soll den Ausspruch getan haben: „Ich bin Papst, Kaiser und König.“ Sittenverderbnis. Das Reislaufen stand auf dem Höhepunkt. Es führte zur Verachtung der ehrlichen Arbeit und zerrüttete die Familien. Müßiggang, Gewalttat, Raub und Diebstahl machten sich breit. In allen Ständen herrschte unflätiges, grobes Wesen, Fluchen, 97 Schwören und eine unbändige Spielwut. Gerade in Zürich traten die Schäden sehr deutlich hervor; es war durch seine Sittenlosig- keit berüchtigt. Als Zwingli einst nach Zürich kam, fand er ein so schändliches Leben, daß er Gott bat, er möge ihn behüten, daß er da je Pfarrer werde. — Durch zahlreiche Sittenmandate suchte der Rat Besserung der Verhältnisse zu erzielen. •2. Ulrich Zwingli wird nach Zürich berufen 1518. In diese Stadt, in der bei aller Verderbnis doch bereits gute Ansätze zur Besserung vorhanden waren, wurde Ulrich Zwingli als Leutpriester an die Großmünstergemeinde berufen. Es war eine folgenschwere Wahl. Zwinglis Jugend. Am Neujahrstage 1484 erblickte Ulrich Zwingli in Wildhaus, hoch oben im Toggenburg, das Licht der Welt. Seine Eltern nahmen eine angesehene Stellung ein, der Vater war Ammann der Gemeinde. Der aufgeweckte Knabe wurde für den geistlichen Stand bestimmt. Auf Lateinschulen und auf den Hochschulen in Wien und Basel eignete er sich hervorragende Kenntnisse in der lateinischen Sprache, in der Musik und in der Kunst der Rede an. In Glarus. 1506—16. Im Alter von 22 Jahren kam Zwingli als Leutpriester nach Glarus. Schon jetzt traf er auf ein kirchliches Ärgernis. Die Pfarrstelle befand sich in den Händen eines zürcherischen Günstlings des Papstes, und er mußte ihn mit 100 fl entschädigen. Neben der vielen Arbeit, die er in der großen Gemeinde zu bewältigen hatte, lernte er noch die griechische Sprache, die ihm das Studium des neuen Testamentes ermöglichte. — Als Feld prediger machte Zwingli die Mailänderzüge mit und hatte Gelegenheit, das ganze, große Elend kennen zu lernen, das Söldner- und Pensionenwesen im Gefolge hatten. Bereits fing er an, gegen diese Volksschäden zu predigen. Dies zog ihm viele Anfeindungen zu; darum siedelte er als Leutpriester nach Einsiedeln über. In Einsiedeln 1516—18. Dieser berühmte Wallfahrtsort zeigte deutlich die Schäden und den Verfall der Kirche, ohne daß Zwingli daran dachte, gegen sie aufzutreten. Die große Klosterbibliothek gab ihm reichlich Gelegenheit, das Studium der alten Sprachen fortzusetzen. Seine trefflichen Predigten wurden bald berühmt, und bereits machten Wmterthur und Zürich Anstrengungen, den gefeierten Prediger für sich zu gewinnen. Zwingli entschied sich für Zürich. z. Zwingli als Reformator. Am Neujahr 1519 hielt Ulrich Zwingli in Zürich seine erste Predigt. Den Pfarrern war genau Geschichtsiehrmittel. 7 98 vorgeschrieben, worüber sie zu predigen hatten. Zwingli hielt sich nicht an dieses Gebot. Der aufmerksam lauschenden Gemeinde eröffnete er, daß seine Predigten die Lehre und Geschichte Christi an Hand der heiligen Schrift vorführen würden. Gegen das Reislaufen. Rücksichtslos und ohne alle Scheu griff der kühne Streiter alle Schäden und Laster der Zeit an: Müßiggang, Verschwendung, Unmäßigkeit, Roheit und vor allem die Reisläuferei, die Grundursache der Sittenverderbnis. Auch die Vornehmsten wurden nicht geschont. Vor allem suchte er das Soldbündnis mit Frankreich zu hintertreiben. Diese Macht bedurfte der Eidgenossen, um das Herzogtum Mailand behaupten zu können. Eine Volksanfrage zeigte, daß die Landschaft fast einmütig Zwinglis Standpunkt teilte. So lehnte Zürich, im Gegensatz zu den andern Orten, das Bündnis ab. Ja, kurze Zeit nachher ging der Rat dem Fremdendienst aufs schärfste zu Leibe. Die Fehlbaren wurden mit Gefängnis, Vermögensverlust, sogar mit dem Tode bestraft. Von allen Seiten wurde Zürich verlacht, verspottet und verhöhnt. Zwingli, als Führer der neuen Richtung, zog den Haß der übrigen Eidgenossen auf sich. Gegen die alte Kirche. Nach und nach richteten sich die Predigten immer heftiger gegen die kirchlichen Bräuche, die er nicht als Forderungen der heiligen Schrift anerkennen konnte. Zwingli erklärte sich gegen das Fasten, die Bilder, die Heiligenverehrung, gegen die Klöster etc. Seine Angriffe bildeten das Tagesgespräch der Leute. Es entstanden ihm gehässige Gegner, aber auch eifrige Freunde. In auffälligster Weise überschritten einige Bürger, darunter Zwinglis Freund, der Buchdrucker Frosehauer, das Fastengebot. Zwingli verteidigte die Fehlbaren von der Kanzel herunter, was ihm arge Schmähungen eintrug. Der Rat benahm sich sehr vorsichtig; er strafte sowohl die Verächter der kirchlichen Gebote als die Schmähenden; Zwingli aber wurde nicht angetastet. — Bereits traten sehr angesehene Pfarrer der Landschaft auf Zwinglis Seite, während der Bischof von Konstanz das Bestehende in Schutz nahm. Die Disputationen 1523. Der Rat mußte endlich einen entscheidenden Schritt unternehmen, um den kirchlichen Frieden wieder herzustellen. Er berief alle Geistlichen des Zürcher Gebietes zu einem Religionsgespräch aufs Rathaus, damit sie sich über die Lehren Zwinglis, die gedruckt vorlagen, aussprächen. Etwa 600 Personen, auch weltliche, fanden sich ein. In der Mitte des Saales saß Zwingli, 99 umgeben vorn Großen und Kleinen Rate. Vor sich hatte er die Bibel in den Ursprachen. Nur was darin stand, anerkannte er als die reine christliche Lehre, alles andere verwarf er als Menschenwerk. Der Gesandte des Bischofs bestritt der Versammlung das Recht, in geistlichen Dingen Beschlüsse zu fassen; aber Zwingli entgegnete, nicht die „großen Hansen“ (Bischöfe), sondern die göttliche Schrift allein sei maßgebend. Zwingli fand keinen ernstlichen Widerstand. Der Rat beschloß: Meister Ulrich solle fortfahren wie bisher; desgleichen sollten alle Geistliche des Kantons sich an die heilige Schrift halten. Diese Entscheidung kam dem Austritte aus der katholischen Kirche gleich. Zürich löste sich ^in der Folge vorn Bistum Konstanz ab. — Zwinglis Freunde jubelten, Mönche und Nonnen traten aus den Klöstern, eine Reihe von Pfarrern verheirateten sich. Die Übertretung der Kirchengebote wurde allgemein. Am hellen Tage wurde ein Kruzifix umgeworfen. Die Erregung des Volkes nahm fortwährend zu. So wurde eine zweite Disputation nötig. Sie war noch stärker besucht als die erste, auch von auswärts, obgleich die eidgenössischen Orte ihre Leute von der Teilnahme abhielten. Zwinglis Ansichten siegten vollständig; man war auch darüber einig, daß die Änderungen nach einem bestimmten Plane des Rates vorgenommen werden sollten. Die Änderungen. Um Unruhen vorzubeugen, beschloß der Rat, die Änderungen langsam und vorsichtig durchzuführen. Das Landvolk wurde um seine Meinung gefragt, und es erklärte sich mit großer Mehrheit für die neue Lehre. Die Wallfahrten hörten auf, das Fasten wurde nicht mehr beobachtet. Die Bilder wurden aus den Kirchen entfernt oder übertüncht; sogar die Orgeln fanden keine Gnade. Dabei wurde nicht immer Sorgfalt angewendet, vieles wurde zerschlagen und zertrümmert. Die Wände sahen nun nackt und kahl aus. Die Beichte hörte auf, die Messe wurde beseitigt und durch das Abendmahl ersetzt. Die Klöster wurden aufgehoben, Mönche und Nonnen durften austreten oder bis zu ihrem Ableben in den Klöstern bleiben, hatten aber weltliche Kleider zu tragen. Das übrige Klostergut verwendete der Rat für Arme und Kranke, dann auch für Schulen, in denen reformierte Pfarrer herangebildet wurden. Der Rat wurde der oberste Kirchenherr; viele Rechte gingen an ihn über, so daß die Staatsgewalt sich bedeutend verstärkte. Zwinglis Person. Zwingli genoß in Zürich das höchste An- 100 sehen. Der Rat gewöhnte sich, bei wichtigen Entscheidungen seine Ansicht einzuholen. Seine Gegner spotteten, er sei Pfarrer, Bürgermeister, Rat und Schreiber in einer Person. Eine ungeheure Arbeitslast ruhte auf seinen Schultern; trotzdem blieb er froh und heiter. Er hatte sich mit Anna Reinhard verheiratet und besaß vier Kinder, denen er ein lieber Vater war. Oft pflegte er in ihrem Kreise die Musik. Seine Geschäfte nötigten ihn auch zum Besuche der Zunftstuben und der bäuerlichen Feste. Überall war der stattliche, heitere Mann gerne gesehen, geachtet und beliebt. 4. Die Wiedertäufer- und Bauernunruhen. Die Wiedertäufer. Schon früh machte sich in Zürich eine religiöse Richtung bemerkbar, die viel größere Änderungen verlangte als der Reformator selber. Sie forderte eine vollständige Umgestaltung des Lebens nach dem Wortlaute der Bibel. Nur die Reinen und Auserwählten sollten ihrer Kirche angehören. Da sie die Kindertaufe verwarfen und sich nochmals taufen ließen, nannte man sie die Wiedertäufer. Angesehene, gelehrte, aber unzufriedene Stadtzürcher stellten sich an ihre Spitze. Sie führten die Gütergemeinschaft ein, und in ihren religiösen Versammlungen durfte jeder reden, der sich vorn Geiste getrieben fühlte. Alle Verbote gegen sie fruchteten nichts; die Bewegung fand auf dem Lande großen Anhang. Die Bauern. Die geplagten Bauern erwarteten von der Reformation eine Besserung ihrer Lage, und sie stützten sich bei ihren Forderungen auf die Bibel. Bei der Aufhebung der Klöster hofften sie, deren Güter zu erlangen und sich von den kirchlichen Abgaben befreien zu können. Bereits verweigerten einige Gemeinden Zehnten und Fronden. In allen Landesgegenden gärte es, und eine Flut von Wünschen wurde laut. Man forderte die Abschaffung der Leibeigenschaft, freie Jagd und freien Fischfang, Freigabe der Gewerbe, das Recht der Pfarrwahl etc. Als der Rat die Hand auf die Klostergüter legte und die Abgaben für sich beanspruchte, stieg die Aufregung. Die Plünderung des Klosters Rüti. Die Wiedertäufer, die Ähnliches verlangten wie die Bauern, schürten die Unzufriedenheit. In der Herrschaft Grüningen, wo sie zahlreich waren, rotteten sich Bauernhaufen zusammen und überfielen das Kloster Rüti. Sie machten sich über die Vorräte her und aßen und tranken sich toll und voll. Dann wurde Sturm geläutet und das Ritterhaus Bubikon geplündert. — Bereits tauchten Gelüste auf, sich von Zürich loszulösen. Die Herrschaft Grüningen war seinerzeit durch ihren Besitzer an Zürich 101 um 8000 fl 'verpfändet worden. Nun sprachen die Bauern davon, diese Summe zurückzuzahlen und ein eigenes Gemeinwesen zu bilden. Die Bauernversammlung zu Töß. Die Gefahr für die Stadt war noch im Wachsen. In Töß versammelten sich 4000 Bauern, um ein gemeinsames Vorgehen zu beraten. Vergebens mahnte eine Gesandtschaft des Rates zur Heimkehr. Man fürchtete einen Sturm auf das Frauenkloster. Mit Mühe gelang es den Abgeordneten von Winterthur und dem beliebten Landvogt von Kiburg, die Ruhigeren zum Auseinandergehen zu bewegen. Die Zurückbleibenden vergaßen bei einem Trinkgelage, für das die Klosterfrauen und die Winterthurer das Nötige spendeten, den Zweck ihrer Zusammenkunft. Ohne irgend etwas erreicht zji haben, kehrten sie am folgenden Tage in ihre Dörfer zurück. Die Regierung war klug genug, keine großen Strafen zu verhängen. Aber fast alle Wünsche der Bauern blieben unberücksichtigt. Der Zehnten blieb, sollte aber für Kirche, Schule und die Armen verwendet werden; nur die Leibeigenschaft auf den Klostergütern wurde aufgehoben. Das Ende der Täuferbewegung. Während die Bauern ruhig blieben, wurden durch die Wiedertäufer neue Unruhen hervorgerufen. Sie verweigerten Zinsen und Zehnten, wollten keinen Kriegsdienst leisten und von den Geistlichen und der Obrigkeit nichts wissen. Als alle Belehrungen nichts nützten, wurden viele Wiedertäufer verhaftet und drei Hauptführer in der Limmat ertränkt. Darauf verlor die Bewegung an Bedeutung, doch ohne ganz zu erlöschen. Religiöse Duldung (Toleranz) kannten Zwingli und seine Zeit noch nicht. Die zürcherische Staatskirche erlaubte keinerlei Abweichungen von ihren Gesetzen und Geboten. 5. Die Ausbreitung der Reformation. Bedrohung Zürichs durch die V Orte. Bei den übrigen Eidgenossen war Zwingli verhaßt, einmal, weil er so scharf gegen das Reislaufen und die Pensionen predigte und dann wegen seiner neuen Glaubenslehre. Auch sie verurteilten die argen Schäden der Kirche, wollten aber nicht, daß man diese von Grund aus ändere. Dessenungeachtet verbreitete sich der reformierte Glaube ziemlich rasch über die nordöstliche Schweiz. Die Waldstätte mit Zug und Luzern wollten ihn mit Gewalt unterdrücken. Sie drohten, Zwingli zu ergreifen, und verboten und verbrannten seine Schriften. Der gleiche Haß traf Zürich, das sich von den andern Orten absonderte und seine eigenen Wege ging. Es wurde nicht mehr zu den Tagsatzungen 102 eingeladen, ja, die V Orte wollten die Waffen ergreifen und drohten, es aus dem Bunde zu stoßen. Der Ittingersturm. 1524 kam es beinahe zum Kriege. Die zürcherischen Grenzgemeinden Stammheim, Nußbaumen und Burg bei Stein standen unter der hohen Gerichtsbarkeit des Thurgaus, einer Gemeinen Herrschaft, in der die V Orte die erdrückende Mehrheit besaßen, die sie auch rücksichtslos ausnützten. Als die Dörfer die Bilder aus den Kirchen beseitigten, nahm der Landvogt den Pfarrer von Burg mitten in der Nacht gefangen und schleppte ihn nach Frauenfeld. Unter dem Geheul der Sturmglocken sammelten sich die zürcherischen Grenzbewohner bewaffnet an der Thür und verlangten die Herausgabe des Gefangenen. Sie wurde verweigert. Voller Wut plünderten die erregten Haufen, entgegen den Abmahnungen ihrer Führer, das Kloster Ittingen und steckten es in Brand. Aufs tiefste empört rüsteten die V Orte zum Krieg und forderten die Auslieferung der Anführer, des Untervogts Wirth von Stamm heim, seiner beiden Söhne Hans und Adrian und des Untervogts Rüttimann von Nußbaumen. Um den Krieg zu vermeiden, erfüllte Zürich das Verlangen auf die Zusage des Gesandten von Bern hin, daß sie des reformierten Glaubens wegen nicht bestraft werden dürften. In Baden erfolgte die Verurteilung, wobei man den Angeklagten die Entfernung der Bilder besonders hoch anrechnete. Sie wurden gefoltert und mit dem Schwerte gerichtet. Nur Adrian Wirth fand auf die Bitten der unglücklichen Mutter hin Gnade. — Weitere Zumutungen, wie die Wiedereinführung des katholischen Glaubens in Stammheim, wiesen die Zürcher zurück. Nur die Furcht vor dem mächtigen Bern hielt die V Orte vorn Kriege ab. Der Durchbruch der Reformation. Als aber 1528 Bern die Reformation annahm, war das Übergewicht des neuen Glaubens in der Schweiz entschieden. Basel und Schaff hausen, ferner die zugewandten Städte St. Gallen, Biel und Mülhausen erklärten sich dafür. Auch in Glarus, Appenzell und Graubünden hatten die Reformierten eine starke Stellung; sogar die Stadt Konstanz, wo der Bischof seinen Sitz hatte, fiel vorn alten Glauben ab. 6. Der erste Kappelerkrieg (1529). Auf Zwinglis Betreiben schlössen sich die Reformierten zum Schutze ihres Glaubens zu einem besonderen Bunde zusammen. Diesem „Christlichen Burgrecht“ gehörten selbst Konstanz, Mülhausen und Straßburg an. Zwingli stand auf dem Gipfel seiner Macht; er war der an- 103 erkannte Leiter Zürichs. Zum größten Ärger der V Orte bewirkte er in Verbindung mit Bern die Verbreitung der Reformation in den Gemeinen Herrschaften. Nun schlössen die inneren Orte einen Bund mit dem katholischen Österreich, um den wahren christlichen Glauben zu erhalten und die neue Lehre zu unterdrücken. Auf beiden Seiten wuchs der Haß. Als die Schwyzer Jakob Kaiser, Pfarrer von Schwerzenbach, der in seiner Heimat Uznach den evangelischen Glauben predigte, ergreifen und lebendig verbrennen ließen, eröffnete Zürich den Krieg. Zwingli hoffte, durch einen raschen und wuchtigen Schlag die Waldstätte niederzuwerfen und die neue Lehre dort einzuführen. Die Zürcher standen mit ihrer Hauptmacht bei Kappel; die Verbündeten wurden gemahnt. Die Katholischen waren für den Krieg noch nicht bereit; aber auch die Beiner rückten nur widerwillig aus. So gelang es „wohlmeinenden, aber nicht weitsehenden Männern“, einen Frieden zu vermitteln. Dies geschah gegen Zwinglis Willen. Er rief enttäuscht: „Weil die Feinde im Sack sind, geben sie uns gute Worte, hernach aber, wenn sie gerüstet sind, werden sie unser nicht schonen, und dann wird auch niemand scheiden (vermitteln). a — Die Friedensbedingungen lauteten zu gunsten der Reformierten. Die zwei Parteien anerkannten einander als gleichberechtigt. In den Gemeinen Herrschaften durften die Gemeinden über den Glauben abstimmen; die Minderheit der Gemeinde mußte sich fügen. Das österreichische Bündnis wurde aufgehoben. 7. Der zweite Kappelerkrieg (1531). Zwinglis Pläne. Unter Zwinglis Führung nützte Zürich die erlangten Vorteile rücksichtslos aus. Es verbreitete in den Gemeinen Herrschaften der Nord- und Ostschweiz aufs eifrigste die Reformation. In den Kirch- gemeinden wurde abgestimmt und die katholischen Minderheiten zum Übertritt gezwungen. Das Kloster St. Gallen wurde aufgehoben, das Doggenburg befreit. Zwingli dachte an eine Umgestaltung der Eidgenossenschaft, um das Übergewicht der kleinen katholischen Kantone zu brechen. Er wollte sie aus der Mitregierung der Gemeinen Herrschaften stoßen und den großen Orten Zürich und Bern die Leitung des Bundes übertragen. Dies sollte durch einen neuen Krieg erreicht werden. Doch waren die Verbündeten weniger kriegslustig, Bern z. B. war durchaus gegen den Krieg. Man verhängte bloß eine Lebensmittelsperre gegen die V Orte, so sehr auch Zwingli und Zürich vor dieser aufreizenden, nutzlosen Maßregel warnten. 104 Widerstände in Zürich. Gerade um diese Zeit warZwinglis Macht in Zürich ernstlich gefährdet. Das Landvolk wollte von einem Kriege nichts wissen und schimpfte auf die „hergelaufenen Pfaffen und Schwaben“, die immer Unruhe stifteten. Die Hauptgefahr drohte aus den vornehmen Kreisen. Heimliche Gegner der Reformation arbeiteten Zwingli entgegen. Manche Adelige zu Stadt und Land waren noch Anhänger der unterdrückten Reisläuferei. Da der Reformator den Einfluß der Vornehmen überhaupt zurückdrängte, arbeiteten sie insgeheim an dem Sturze des gefürchteten Mannes. Erst als Zwingli, erbittert und gekränkt, mit dem Rücktritte von allen seinen Ämtern drohte, erhielt er wieder die alte Führung. Die Niederlage bei Kappel (11. Oktober 1531). Zwinglis schroffes Vorgehen erbitterte die V Orte aufs äußerste; dazu wirkte die Sperre wie ein Schlag ins Gesicht. In aller Stille trafen sie die Kriegsvorbereitungen, dann rückte rasch ein trefflich gerüstetes Heer von 8000 Mann von Baar aus gegen Kappel. — Die Nachricht von diesem Anmarsch erregte in Zürich die größte Bestürzung. Der Rat war den Schwierigkeiten nicht gewachsen. Zunächst warf er dem Feinde eine Vorhut von 1200 Mann entgegen unter der Führung von Georg Göldli, der einer der Reformation feindlichen Familie entstammte; doch sollte er sich in keinen Kampf verwickeln lassen. Zu spät erst erfolgten das allgemeine Aufgebot und die Hilfemahnung an Bern. — Göldli bezog „auf Scheuren“, in der Nähe von Kappel, Stellung. Der Standort war nicht günstig; denn bei einem allfälligen Rückzüge gegen den Aldis mußte der ziemlich breite Mühlegraben passiert werden, was verhängnisvoll werden konnte. Allen Mahnungen zum Trotz, weigerte er sich, hinter denselben auf den vorteilhafter gelegenen „Münchbühl“ zurückzugehen. Am 11. Oktober, mittags 1 Uhr, rückte das Heer der V Ortischen heran, wurde aber durch das starke grobe Geschütz der Zürcher zum Stehen gebracht. Unterdes war deren Hauptbanner unter Lavater im Anmärsche. Infolge des verspäteten Aufgebotes und der allgemeinen Unordnung hatte man statt 4000 Mann nur 800 Mann zusammengebracht. Auf dem Albis hörte man den Kanonendonner von Kappel her. Zwingli, der auch mitgezogen war, trieb zu größter Eile an. Gegen 3 Uhr gelangte die ermüdete Schar auf den Kampfplatz. Die V Drüschen trugen sich bereits mit dem Gedanken, die Entscheidung auf den folgenden 105 Tag zu verschieben. Da erspähte der Urner Jauch einen Fehler der ziircherischen Kriegsleitung, er sah die geringe Zahl der Feinde und bemerkte, wie diese einen Stellungswechsel (nach dem Miinch- bühl) vorbereiteten. Schnell entschlossen führte er eine Anzahl Schützen in das Buchenwäldchen vor der Stellung der Zürcher, das Göldli zu besetzen versäumt hatte und überschüttete den linken feindlichen Flügel mit einem heftigen Feuer. Nun erfolgte auch ein entschlossener Angriff des Gewalthaufens auf die rechte Seite, und bald war das wildeste Handgemenge allgemein. Der Ausgang konnte nicht zweifelhaft sein. Gegenüber der vierfachen Übermacht eines erbitterten Feindes konnte keine Tapferkeit aufkommen. Nachdem die vordersten Reihen der Zürcher aufgerieben waren, wandten sich die übrigen zur Flucht. Schwere Verluste brachte der Übergang beim Mühlegraben. Er war voll von Toten und Verwundeten. Hier ging beinahe das Hauptbanner verloren. Hans Kambli entriß es dem stürzenden Bannerherrn und rettete es mit großer Not unter der tapferen Beihilfe von Uli Den zier und Adam Näf. Erst am Fuße des Albis hoben die Sieger die Verfolgung auf. — Über 500 Zürcher, darunter die eifrigsten Führer der Reformation, lagen auf dem Schlachtfeld. Zwingli selber war schwer verwundet und erhielt durch einen Söldnerführer den Todesstoß. Der Leichnam des „Erzketzers“ wurde gevierteilt und verbrannt. — Erst nach dem Unglückstage sammelten sich die reformierten Streitkräfte in großer Zahl. Aber es fehlte an Mut und Entschlossenheit. Als eine Abteilung wegen ihrer Zuchtlosigkeit eine schmähliche und blutige Niederlage am Gubel erlitt, schlössen die Reformierten Frieden. 8. Stillstand der zürcherischen Reformation. Der Kappeler- friede und seine Folgen. Der zweite Kappelerfriede brach das Übergewicht der Reformierten. Die Freien Ämter, das Gaster, Uz- nach, Rapperswil und das Toggenburg wurden vorn Frieden ausgeschlossen, d. h. der gewaltsamen Katholisierung durch die V Orte ausgeliefert. In den übrigen Gemeinen Herrschaften blieb zwar die Gleichberechtigung beider Glaubensbekenntnisse; hingegen durften die katholischen Minderheiten nicht mehr zum Übertritt gezwungen werden. Das „christliche Burgrecht“, dieser Sonderbund der Reformierten, mußte aufgelöst werden. In verschiedenen Gegenden, wo die Reformation eigentlich schon gesiegt hatte oder doch dem Siege nahe war, trat durch die Bemühungen der V Orte ein Stillstand ein, ja, da und dort wurde der 106 alte Glaube wieder eingeführt. Dies geschah z. B. im Gebiete der Abtei St. Gallen, die wieder hergestellt wurde. Doch erhielt das mehrheitlich reformierte Toggenburg Glaubensfreiheit. Wohl waren die Reformierten den Katholiken an Macht noch überlegen, aber ihre Gebiete lagen voneinander getrennt; zudem hatten die Katholischen auf der Tagsatzung die Stimmenmehrheit. 9. Zürich nach dem Kappelerkriege. Zürich konnte für die gefährdeten Glauhensbrüder keinen Finger rühren. Nach den beschämenden Niederlagen glaubten die Gegner Zwinglis, ihre Zeit sei gekommen. Sie verlangten, daß die Stadt zum alten zurückkehre; doch konnte sich die neue Lehre siegreich behaupten. Zu den religiösen Gegensätzen kam die Unzufriedenheit des Landvolkes. Es schrie gegen das eigenmächtige Vorgehen der Stadt, das den nichtsnutzigen Krieg heraufbeschworen habe. Besonders die Seegegenden hatten drohend die Beendigung des Krieges verlangt, und aus Furcht vor ihrem Abfall hatte Zürich den Frieden geschlossen. Wie zu Waldmanns Zeiten stellte das Land seine Forderungen auf. Der ohnmächtigen Stadt blieb nichts übrig, als nachzugeben. In einer Urkunde, den Kappelerbriefen, mußte sie versprechen, in wichtigen Sachen das Landvolk zu befragen, vor allem aber, ohne Wissen undWillen der Landschaft keinen Krieg anzufangen. Doch hielt das Landvolk treu zum neuen Glauben, so daß die Reformation in Zürich die schwere Prüfung glücklich bestand. Es war für Zürich ein großes Glück, daß es in Heinrich Bul- linger von Bremgarten einen würdigen Nachfolger Zwinglis fand. Er vermied, im Gegensatz zu Zwingli, sich in die Staatsgeschäfte zu mischen; hingegen vollendete und befestigte der milde, kluge Mann in maßvoller und doch energischer Weise die begonnene Reform. II. Die Reformation in Deutschland. Martin Luther. Früher schon als in der Schweiz hatte die Reformation in Deutschland begonnen. 1517 eröffnete inWittenberg der Professor Dr. Martin Luther, ein Mönch, den Kampf gegen den Ablaß. Da ihn der Papst mit dem Banne belegte, griff er das Papsttum und viele Einrichtungen der Kirche an, deren völlige Umgestaltung er verlangte. Wie Zwingli durch den Zürcher Rat, so wurde Luther durch seinen Landesherrn, den Kurfürsten Friedrich den Weisen von Sachsen, beschützt und unterstützt. — Die deutsche Reformation hatte die 107 gleichen Begleiterscheinungen wie die zürcherische. Auch in Deutschland erhoben sich infolge der Reformation die Bauern gegen ihre Herren und verübten furchtbare Greuel, dann rüsteten die Adeligen und Städte, von Luther aufgefordert, zum Kriege, hieben die Bauern zusammen und ließen die Gefangenen qualvoll hinrichten. Ein gleicher Vernichtungskrieg wurde zehn Jahre später gegen die Wiedertäufer geführt. — Rasch verbreitete sich die Lehre des gewaltigen Reformators über ganz Nord- und Mitteldeutschland; in Böhmen, Tirol und Österreich gewann sie zahlreiche Anhänger. Sie drang auch nach Nordeuropa. Schweden, Norwegen und Dänemark, ja selbst das ferne Island, nahmen den neuen Glauben an. Die Bibelübersetzungen. Da die Reformatoren ihre Lehren auf die Bibel stützten, mußte diese dem Volke zugänglich gemacht werden. Darum wurde die Heilige Schrift aus den Ursprachen, dem Hebräischen und Griechischen, ins Deutsche übersetzt. Während die Zürcher ihre Mundart, allerdings etwas verfeinert, anwandten, benützte Martin Luther die sächsische Kanzleisprache. Diese war bereits seit längerer Zeit für kaiserliche Erlasse, die in Ober- und Niederdeutschland zugleich verstanden werden sollten, verwendet worden. Mit seiner Lehre verbreitete sich auch seine Bibel über das ganze deutsche Sprachgebiet. Die Sprache, in der sie geschrieben war, entwickelte sich allmählich zur allgemeinen deutschen Schriftsprache (nhd. Spr.). Dadurch wurde verhindert, daß bei jeder Mundart sich eine eigene Schriftsprache herausbildete. Luther und Zwingli. Der Reformation standen mächtige Gegner gegenüber; darum hatte Zwingli 1529 eine Einigung der schweizerischen und deutschen Glaubensbrüder geplant. Der Landgraf Philipp von Hessen, sein eifriger Bundesgenosse, führte die beiden Reformatoren in Marburg zusammen, wo ein Religionsgespräch veranstaltet wurde. Obgleich deren Lehren in der Hauptsache nur in der Auffassung des Abendmahles voneinander abwichen, wollte keiner nachgeben; immerhin verhielt sich Zwingli weniger schroff abweisend als Luther. Die Einigung zerschlug sich, und von da an gingen die deutschen Protestanten und die schweizerischen Reformierten ihre eigenen Wege. III. Die Reformation in der Westschweiz. Wilhelm Farel. Während die Ausbreitung der Reformation in der Ostschweiz gehemmt war, drang sie siegreich im Westen vor. 108 Bern gab sich die größte Mühe, sie in den französisch sprechenden Gebieten einzuführen. In seinem Dienste und besonderen Schutze stand der feurige Südfranzose Wilhelm Farel, ein reformierter Flüchtling. Dieser streitbare Prediger, der die Verfolgungen durch sein schroffes Wesen geradezu herausforderte, hatte große Erfolge in Murten, Orbe, Grandson, im St.Immertal und im Neuenburgischen. Von Bern beschützt, trug er die neue Lehre sogar nach Genf. Diese große, blühende Stadt wurde von den Herzogen von Savoyen, die sie für sich gewinnen wollten, hart bedrängt. Sie suchte und fand Schutz bei Bern und Freiburg durch ein Bündnis. Als die Reformation aber in Genf die Oberhand gewann, trat das katholische Freiburg aus der Verbindung zurück. Um so kräftiger und energischer handelte Bern. 1536 eroberte es die savoyische Waadt, wo der reformierte Glaube eingeführt wurde. Auch Freiburg und Wallis eigneten sich savoyische Gebiete an. Johannes Calvin. Farel war wohl ein unerschrockener Kämpfer; aber es fehlte ihm die Gabe, die neue Kirche auszugestalten. Darum wurde der Sieg des neuen Glaubens in Genf wieder in Frage gestellt. Da erschien ein Retter in der Not. Ein bekannter reformierter Gelehrter und Schriftsteller Johannes Calvin, ein Nordfranzose, kam 1536 zufällig nach Genf. Der erst 27 jährige genoß wegen seiner Gelehrsamkeit einen hohen Ruf. Farel veranlaßte ihn mit großer Mühe zum Bleiben. Mit seiner Hilfe gelang es nun, die reformierte Kirche in Genf fest zu begründen. Da aber die beiden viel weiter gingen als Zwingli und Luther und die Bevölkerung durch ihren Übereifer verletzten, wurden sie 1538 aus der Stadt vertrieben. Calvin ging nach Straßburg, Farel nach Neuenburg, wo er bis an sein Lebensende blieb. Nach drei Jahren argen Wirren riefen die Genfer Calvin unter Bitten und Flehen zurück; sie brauchten einen energischen Führer. Die Überzeugung hatte sich Bahn gebrochen, daß ohne ihn der neue Glaube und die politische Unabhängigkeit nicht behauptet werden konnten. Die calvinische Kirche. Calvin richtete die Genfer Kirche ganz nach seinem Willen ein. Er war der schärfste der Reformatoren. Das ganze Leben sollte von der Religion beherrscht und und beeinflußt werden. Der Staat kam völlig unter den Einfluß der Geistlichkeit. In Verbindung mit Ratsmitgliedern bildete sie das Sittengericht, das den Kirchenbesuch, die Lebensweise und die 109 Reden der Bürger überwachte, und jederzeit das Recht hatte, eine Hausdurchsuchung vorzunehmen. Nicht nur im Gottesdienst sah man auf größte Einfachheit, auch im gewöhnlichen Leben wurde Schmuck und Luxus strenge verboten, ja, die Farbe der Kleider vorgeschrieben. Im Essen und Trinken forderte man strenge Mäßigkeit. Alle Vergnügen und Belustigungen, selbst Spiel und Tanz, waren untersagt. Die ganze Lebensführung wurde bis in die Einzelheiten geregelt. Genf war einst eine lebenslustige Stadt gewesen. Nicht alle Bürger waren mit der strengen Zucht einverstanden. Aber Calvin kannte keine Nachsicht. Wer gegen seine Lehre war, mußte die Stadt verlassen. Die Gefängnisse waren stets gefüllt. Innerhalb vier Jahren fanden 58 Hinrichtungen statt. Die Bevölkerung der Stadt änderte sich. Die alte Bürgerschaft wanderte zum Teil aus oder ging sonst zurück. Zahlt eich siedelten sich französische Flüchtlinge an und füllten die Lücken aus. Stets waren Calvins Blicke nach Frankreich gerichtet; er war nie ein Eidgenosse. — Eine hohe Schule sorgte für die Heranbildung der glaubenseifrigen Geistlichen, die des Meisters Lehre in alle Gegenden Europas verbreiteten. Sie kam nach Frankreich, rheinabwärts nach Straßburg, in die Pfalz, nach Holland. Von dort griff sie hinüber nach Schottland, und englische Auswanderer trugen sie nach Nordamerika. Auch in Polen und Ungarn entstanden calvinische Gemeinden. 1564 starb der „reformierte Papst“. Der Körper war einer zu großen Arbeitslast erlegen. Auch Calvin hatte die Bibel übersetzt, die der französischen Sprache ähnliche Dienste leistete, wie Luthers Bibel der deutschen. Die Reformation verlor in Calvin den letzten großen Kämpfer; aber sie war stark genug, allen Gefahren zu trotzen. J. Gegenreformation und Religionskriege. Ausbildung der unumschränkten Herrschaft. Die wachsende Reformation brachte die alte Kirche in die größte Gefahr. Um diese abzuwenden und das Papsttum zu retten, wurden außerordentliche Anstrengungen gemacht. I. Die Wiedererstarkung der katholischen Kirche. 1. Die Gründung neuer Orden. Während man in den germanischen Ländern die Klöster beseitigte, versuchte man in den 110 romanischen, sie zu stärken. In den schon bestehenden Klöstern hielt zum Teil eine strengere Zucht Einzug, anderseits wurde eine Reihe neuer Mönchsorden gegründet, die eine Verbesserung des geistlichen Standes durch Bildung und Frömmigkeit erstrebten und eich durch Wohltätigkeit, Krankenpflege und Jugendunterricht dem Volke als nützlich und unentbehrlich erweisen wollten. Bei aller Verschiedenheit war allen gemeinsam das Streben, den Neugläubigen entgegenzutreten und sie mit allen Mitteln zu vernichten. Die bekanntesten neuen Orden waren die Kapuziner und Jesuiten. Die Kapuziner. Die Kapuziner verzichteten auf jeden weltlichen Besitz; sie gingen barfuß, trugen lange, braune, wollene Kutten, die eine Kapuze hatten, und erbettelten sich ihren Unterhalt. Mit ihrer großen und volkstümlichen Beredsamkeit hatten sie großen Einfluß unter dem niederen und armen Volke. Sie ließen sich auch in den Gebirgstälern der Schweiz nieder und wurden bald die Lieblinge des gemeinen Mannes. Die Jesuiten. Sehr gefährliche Gegner fanden die Reformierten in den Jesuiten. Ignaz v. Loyola, ein spanischer Ritter, war ihr Stifter. Eine schwere Verwundung im Kriege und drohende Todesgefahr machten ihn zum religiösen Kämpfer. In der Zeit des allgemeinen Abfalls trieb ihn sein glühender Glaubenseifer dazu, dem Papste eine ergebene Schar Glaubenskämpfer zur Verfügung zu stellen. Höchstes Gebot der Ordensglieder war der blinde Gehorsam gegen die Vorgesetzten. Die Gesellschaft wurde gleichsam militärisch eingerichtet; es gab Rangstufen bis hinauf zum General, der sich immer dem Papste zur Verfügung hielt. Nur geistig tüchtige Leute wurden aufgenommen und zu Predigern, Schriftstellern, Professoren, Lehrern, Missionären,Beichtvätern der Fürsten und Ministern der Könige ausgebildet. In allen Stellungen zeigten sie einen unermüdlichen Glaubenseifer, der unbedenklich alle Gefahren und Verfolgungen auf sich nahm. Ein genaues Überwachungssystem durch Aufpasser unterrichtete die Vorgesetzten von jedem begangenen Fehler der einzelnen Mitglieder. Schon 80 Jahre nach der Gründung zählte die Gesellschaft Jesu zirka 16,000 Mitglieder, die über alle Länder der Welt zerstreut waren, und viele hundert Häuser und Schulen. Vor allem suchte sie durch große Schulung und Bildung der Mitglieder den reformierten Gelehrten ebenbürtig zu werden und bald übertrafen 111 die Leistungen ihrer Hochschulen die der Reformierten. Da die Jesuiten die vornehme studierende Jugend zu treuen Anhängern des katholischen Glaubens erzogen, kehrte nach und nach wieder streng kirchliche Gesinnung in die B’amilien ein. Wallfahrten, Andachten, Reliquien kamen zu neuem Aufschwünge. Als Beichtvater und Berater der Fürsten bekamen sie Gelegenheit, deren Hilfe zur Vernichtung der Reformierten zu gewinnen. Wo die Jesuiten erschienen, hörte die Verträglichkeit zwischen dem alten und neuen Glauben auf. Jedes Mittel schien erlaubt, wenn es nur zur Stärkung der alten Kirche diente. So sehen wir durch ihre Schuld wilde Religionskriege entbrennen, die unsägliches Unglück über ganze Völker und Länder brachten. 2. Das Inquisitionsgericht. Im Dienste des alten Glaubens stand das Inquisitions(Ketzer-)gericht. Es richtete mit unbeschränkter Gewalt über Leben und Tod, soweit es sich um Glaubenssachen handelte. Ohne seine Einwilligung durfte kein Buch gedruckt werden. Wer sich in religiösen Sachen irgend eine abweichende Meinung erlaubte, wurde in den Kerker geworfen oder den Flammen übergeben. Ungezählt sind die Opfer, die diesem Gerichte anheimfielen. Schonungslos wurde da, wo die Inquisition die Macht hatte, in Italien und Spanien, der reformierte Glauben ausgerottet. 8. Das Konzil von Trient. Die Reformation war die größte Spaltung und Trennung, die sich innerhalb der christlichen Kirche bis jetzt gezeigt hatte. Auch früher war oft Zank und Streit aus- gebrochen. In solchen Fällen suchte man sich durch allgemeine Kirchen Versammlungen zu helfen, deren Entscheidungen als Gesetz galten. 1563 endlich nahm das Konzil von Trient Stellung zur Reformation. Es war meistens von Italienern, also Anhängern des Papstes, nicht aber von Reformierten besucht. Das Konzil lehnte jede Annäherung an den neuen Glauben schroff ab und legte die Glaubenssätze der alten Kirche neuerdings fest. Die Lehren der Kirchenvater, die Überlieferung, wurden der Heiligen Schrift gleichgestellt. Besonders durch die Unterstützung der Jesuiten kam der Papst in den Besitz der unumschränkten Gewalt über die Kirche und ihre Gesetze. Immerhin wurden grobe Mißbräuche abgeschafft. Die künftigen Geistlichen sollten in Seminarien in strenger Zucht und Gottesfurcht erzogen werden. Es wurden auch Versuche gemacht, die Vereinigung mehrerer Kirchenämter in der gleichen Hand, wobei der In- 112 haber nur die großen Einkommen verzehrte, aber keine Arbeit leiste, zu verhindern. Wer die Beschlüsse nicht anerkannte, den traf der Bannfluch. — Das Konzil wollte keine Versöhnung, die Abgefallenen sollten vernichtet werden. Nun setzte mit aller Kraft die Gegenreformation ein. II. Die Hugenottenkriege und die Einführung der unumschränkten Königsgewalt in Frankreich. 1. Die Reformation in Frankreich. Von Genf aus trugen feurige Glaubensapostel die calvinische Lehre nach Frankreich. König und Geistlichkeit versuchten, durch blutige Verfolgungen die Hugenotten, wie man die Reformierten nannte, auszurotten. Die überaus mutige Haltung der zahlreichen Märtyrer des neuen Glaubens, die Frömmigkeit und Sittenreinheit der „Ketzer“ führten aber der neuen Lehre immer neue Bekenner zu. Um die Mitte des Jahrhunderts (1550) fand die Reformation auch unter dem fast selbständigen Landadel viele Anhänger, und damit begann der Widerstand gegen die Verfolgungen. Mehrere der vornehmsten Familien fühlten sich zudem zurückgesetzt, weil das lothringische Geschlecht der Guise, das dem Papste sehr befreundet und ergeben war, am königlichen Hofe den höchsten Einfluß erlangt hatte. 2. Die hugenottenkriege (1562-1598). Durch die Niedermetzelung einer calvinischen Versammlung, die in einer Scheune Gottesdienst hielt, leitete einer aus dem Geschlechte der Guise die entsetzlichen Hugenottenkriege ein. Auf beiden Seiten verübte man nach der Art jener rohen Zeit die furchtbarsten Greueltaten. In diesen Kriegen waren sehr viele Schweizersöldner beteiligt; dem Könige lieferten besonders die Katholiken tüchtige Soldaten und Truppenführer. In schweren Kriegen erkämpften sich die Hugenotten ziemliche Glaubensfreiheit. Ja, zum Zeichen der dauernden Aussöhnung sollte der vornehmste Hugenotte, Heinrich von Bourbon (von Navarra), sich mit der Schwester König Karls IX. vermählen. Bei der Hochzeitsfeier in Paris aber überfielen die Katholiken auf das Geheiß der Guise, der Mutter des Königs, Katharinas von Medici, und des unselbständigen Königs die zahlreich anwesenden hugenottischen Gäste und metzelten sie mitten in der Nacht nieder. Das Morden setzte sich über ganz Frankreich fort, und wohl 30,000 Reformierte verloren das Leben. Heinrich, als naher Verwandter des Königs, blieb verschont, mußte aber seinen Glauben abschwören. 113 Aber die „Pariser Bluthochzeit“ (1572) hatte die Hugenotten nicht vernichtet. In wilder Verzweiflung ergriffen sie aufs neue die Waffen und weitere Bürgerkriege folgten. Heinrich von Navarra konnte entfliehen, trat wiederum zum reformierten Glauben über und wurde der ausgezeichnete und anerkannte Führer. Die Hugenotten hatten aber die Masse des Volkes nicht für sich. So wäre es wohl um sie geschehen gewesen, wenn nicht die Guise allzuoffen darnach getrachtet hätten, sich an die Stelle des Königs zu setzen. König Heinrich III. entledigte sich der unbequemen Vormünder durch Meuchelmord, fiel aber kurz nachher selber unter dem Stahl eines glaubenseifrigen Mönches. 3. Heinrich von Bourbon. Mit Heinrich III. starb das entartete Geschlecht der Valois aus, und Heinrich von Bourbon, ihr nächster Verwandter, war der Thronerbe. Die Katholiken, die weitaus die Mehrheit hatten, allen voran die Stadt Paris, wollten von dem verhaßten Hugenottenchef nichts wissen. Die französische Krone aber war mehr wert als Glaubensüberzeugung. Heinrich trat nochmals zum alten Glauben über. „Paris ist wohl eine Messe wert“, soll er ausgerufen haben. Damit war der Widerstand der Gegner gebrochen. Das Edikt von Nantes. Der neue König, Heinrich IV., versöhnte seine früheren Parteigänger durch das Edikt von Nantes (1598), in dem er ihnen religiöse Duldung verschaffte. Als Bürger erhielten sie Gleichstellung mit den Katholiken und damit Zutritt zu allen Würden und Ämtern des Reiches. Zudem bekam Südfrankreich, wo die Reformierten am zahlreichsten waren, eine Reihe von Festungen, sogenannte Sicherheitsplätze mit eigener Besatzung. Durch die 30 Kriegsjahre waren aber die 2000 reformierten Gemeinden auf einen Drittel zusammengeschmolzen. Seine Regierung. Mit Heinrich IV. bestieg das Geschlecht der Bourbon den französischen Thron. Er war ein guter Fürst und bestrebt, die Wunden zu heilen, die der Krieg geschlagen hatte. Den religiösen Haß suchte er zu überbrücken, indem er nach allen Seiten duldsam war. An seinem Hofe waren sogar die Jesuiten sehr einflußreich. Bei seinem Regierungsantritt fand er ein verwüstetes Land. Mit Hilfe seines ausgezeichneten Ministers, des calvinischen Sully, wußte er Frankreich zu gesunden. Da waren zerstörte Brücken herzustellen, verfallene Landstraßen gangbar zu machen, da mußte vor allem der Ackerbau gefördert werden. „Jeder 8 Geschichtslehrmittel. 114 Hauer sollte am Sonntag sein Huhn im Topfe haben.“ Der Gewerbe- fleiß vermehrte sich, für den Absatz der Waren wurde gesorgt. Man ermunterte zum Seidenbau, suchte Tuch- und Leinwandbereitung in Schwung zu bringen, damit die Waren nicht mehr aus dem Aus- land eingeführt werden mußten. Marseille begann, ein Mittelpunkt des Handels am Mittelmeer zu werden; in Kanada wurden Ansiedelungen gemacht. Die Städte, vor allem Paris, wurden mit prächtigen Bauten geschmückt. Seine Pläne. Heinrich führte die Bestrebungen der früheren Könige weiter, indem er die Großen des Reiches zum Gehorsam zwang und ihre Rechte beschnitt. Auch gegen das Ausland trug er große Pläne. In Verbindung mit den deutschen Protestanten sollte das habsburgische Kaiserhaus in Deutschland geschwächt werden. 4. Das Königtum wird unumschränkt. Mitten in einem arbeitsreichen Leben fiel Heinrich 1610 durch Mörderhand. Später führten die Kardinäle Richelieu und Mazarin die Zügel der Regierung. Sie wußten die königliche Macht planmäßig zu stärken. Die Selbständigkeit des Adels und der einzelnen Provinzen wurde gebrochen. Beamte führten überall den Willen der königlichen Regierung aus. Auch die freie Stellung der Hugenotten, die durch ihre Festungen gefährlich schienen, wurde durch Waffengewalt vernichtet, ohne daß man aber das Duldungsedikt aufhob. 5. Die Vernichtung der Reformierten. Aber schon dem dritten Bourbonen, Ludwig XIV., genügte es nicht, unumschränkter Herr Frankreichs zu sein: das Volk sollte auch denken und glauben wie er. 1685 hob er das Edikt von Nantes auf, befahl die Erziehung aller Kinder in der katholischen Religion und bekehrte die Hugenotten mit Gewalt. Trotz eines Auswanderungsverbotes gelang es 400,000 Reformierten, gewerbsfleißigen und regsamen Einwohnern, ins Ausland zu entkommen. Es war eine Auswanderung, die Frankreich in Bezug auf Handel, Gewerbe und Handwerk außerordentlich schädigte. — Mit großer Opferwilligkeit nahmen sich Zürich und eine Reihe von Orten seiner Landschaft, wie Winterthur, Eglisau, Elgg der durchreisenden, armen Flüchtlinge an. Ein Teil derselben blieb in Zürich. Geradezu gewaltige Summen wurden aufgewendet, um die größte Not zu lindern. Das amtliche Verzeichnis der in Zürich Angekommenen zeigt über 23,000 Namen. Aus Angst vor Frankreich mußten die Hülfeleistungen möglichst geheim gehalten werden. Damals entstand die französische Kirchgemeinde in Zürich. 115 Durch die Einführung der feineren Baumwollweberei (Mousseline und Indienne) von Seiten der Hugenotten trug die zürcherische Gewerbs- tätigkeit dauernden Gewinn davon. Resultat: Das Gottesgnadentum. Das Endresultat der französischen Religionskriege war die Vernichtung des reformierten Glaubens und die Aufrichtung der unumschränkten königlichen Regierung. Durch die Gnade Gottes habe der König seine Macht empfangen und zu ihm habe man mit Ehrfurcht und Verehrung aufzuschauen. Wie der Mensch sich ohne Murren und mit Ergebung in die Ratschlüsse Gottes zu fügen hatte, sollte auch der Wille des Königs Gesetz sein. Widerstreben gegen die Obrigkeit galt als Widerstand gegen Gott. Der hohe Adel und die hohe Geistlichkeit wurden durch reichbezahlte Ämter und hohe Ehren entschädigt. Die geringe Steuerbelastung und die Auspressung der Bauern erlaubten ihnen ein glänzendes Leben, und die Hoffeste ließen sie die verlorene Selbständigkeit vergessen. III. Der Zerfall des Deutschen Reiches im 30jährigen Krieg. 1. Das deutsche Reich, Das deutsche Reich zählte neben den sieben Kurfürsten noch etwa 80 fürstliche Landesherren (geistliche und weltliche), die im Laufe der Zeit von der Obergewalt des Kaisers sich beinahe unabhängig gemacht hatten. Daneben waren noch über 50 Reichsstädte, große und kleine, die sich ebenfalls selber regierten. Das mächtigste Herrschergeschlecht waren die Habsburger, die auch die Kaiserwürde inne hatten und in Wien residierten. 2. Die Folgen der deutschen Reformation. Ausbreitung der Reformation. Luthers Lehre breitete sich mächtig und unaufhaltsam aus. Die bedeutendsten Reichsglieder, wie Sachsen, Brandenburg, die Pfalz, Hessen etc. und die meisten Reichsstädte nahmen den neuen Glauben an. Viele Fürsten fielen ihm zu, um sich durch die Einziehung der Kirchengütei auf die bequemste Weise zu bereichern. An Stelle des Papstes und der Bischöfe wurden sie die Herren der Kirche. Die Geistlichen, ihre Diener, waren nun ein gefügiges Werkzeug, die Lehre von der Göttlichkeit der Fürstenmacht zu verbreiten. Der unbedingte Gehorsam gegenüber der Obrigkeit wurde zur religiösen Pflicht. Im Gegensatz zur zürcherischen Reformation, die im Einverständnis mit dem Landvolke durchgeführt wurde, hing die deutsche durchaus von den Fürsten ab; sie hatte einen monarchischen Charakter. 116 Der Augsburger Religionsfriede ( 1555 ). Die Reformation hatte den Unabhängigkeitssinn und die Macht der einzelnen Reichsglieder bedeutend verstärkt. Deshalb versuchten die Habsburger, die Fürsten der kaiserlichen Gewalt zu unterwerfen und den verhaßten neuen Glauben auszurotten. Die Fürsten erwiesen sich als die Stärkeren; im Jahre 1555 mußte sich der Kaiser zum Augsburger Religionsfrieden bequemen, der den Landesherren das Recht zusprach, den Glauben der Untertanen zu bestimmen. Nur die Fürsten hatten also Religionsfreiheit, und wenn es ihnen einfiel, den Glauben gleich einem Rock zu wechseln, so mußten die Untertanen darin nachfolgen. Wer sich weigerte, mußte auswandern. Da die reformierten Fürsten die Kirchenherren waren, richteten sie den Gottesdienst nach ihrem Gutdünken ein, so daß die Einheit des Glaubens gestört wurde. Wüstes Lehrgezänk lahmte die Kraft der Reformation und brachte Streit und Hader in die eigenen Reihen. Der größte Gegensatz bestand zwischen den Anhängern Luthers und Calvins, die sich auf den Tod haßten. Die Zusammenschlüsse. Der Religionsfriede wurde von niemandem ehrlich gehalten. Entartete Fürsten betrachteten die Religion nur als Mittel zur Vergrößerung des Landbesitzes. Die gegenseitigen Bedrohungen führten zu Zusammenschlüssen. So bildete sich die protestantische Union, die sich an den Hauptfeind der Habsburger, den Landesfeind Heinrich IV. von Frankreich, lehnte. Die Katholiken ihrerseits schlössen unter Bayerns Führung die Liga, die sich auch auf das Ausland, nämlich auf Spanien, stützte, wo ein Zweig der Habsburger regierte. 3. Der 30jährige Krieg. (1018—48.) Der böhmische Aufstand. Der große Krieg sollte sich im Königreich Böhmen, das den Habs- burgern gehörte, entzünden. Adel und Städte hatten sich dem neuen Glauben zugewandt und dem Könige im Majestätsbriefe Religionsfreiheit abgetrotzt. Als der streng-katholische, von den Jesuiten erzogene Ferdinand II. die reformierte Lehre schädigte, setzte ihn der böhmische Adel ab und wählte den calvinistischen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz zum Herrscher. Aber dessen Herrschaft dauerte nur kurze Zeit. Die Liga stellte sich sofort auf die Seite Ferdinands und rüstete unter ihrem Feldherrn Tilly ein Heer. Die uneinigen reformierten Fürsten ließen den böhmischen König im Stiche, ja, der mächtigste, der Kurfürst von Sachsen, machte mit dem Kaiser gemeinsame Sache. So verlor Friedrich V. die 117 Schlacht am Weißen Berge bei Prag. Ferdinand nahm blutige Rache. Die Häupter des Aufstandes mußten das Blutgerüst besteigen, ihre Güter waren eine willkommene Beute der Sieger. Der Majestätsbrief wurde vernichtet, der protestantische Gottesdienst geschlossen und das Volk mit größter Härte katholisch gemacht. 35,000 protestantische Familien verließen das verwüstete Land. Die Verwüstung der Pfalz. Der Kaiser gedachte, den Protestanten einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Das Stammland Friedrichs, die Pfalz, wurde furchtbar verwüstet. Land und Kurwürde des flüchtigen Fürsten gingen auf das Haupt der Liga, Maximilian von Bayern, über. Die zaghaften, und eigennützigen protestantischen Fürsten, vor allem die mächtigsten: Sachsen und Brandenburg, rührten für ihre Glaubensgenossen nicht einen Finger. Der dänische Krieg. Bereits kehrte der siegreiche Kaiser die Waffen gegen die Protestanten Norddeutschlands. So sehr war er im Besitze der Macht, daß das Ausland Angst bekam. Durch Geldlieferungen Englands und Hollands unterstützt, fiel der protestantische König Christian v. Dänemark, der als Herzog von Holstein zugleich deutscher Reichsfürst war, in Deutschland ein. Er wollte nicht nur den bedrohten Glauben retten, sondern auch Eroberungen machen. Nun stellte aber der Kaiser ein eigenes Heer auf unter dem Kommando des berühmten Generals Wallenstein. Dieser und Tilly besiegten die Protestanten in Norddeutschland und trieben den Dänenkönig auf seine Inseln zurück. Wallenstein. Wiederum stand der Kaiser auf der Höhe seiner Macht. Wallenstein verfolgte mit Eifer das Ziel, die Selbständigkeit der Fürsten zu brechen und den Kaiser zum unumschränkten Herrscher im Reiche zu machen. Ein einheitliches Deutschland war die beste Garantie, das auf Beute lauernde Ausland von sich abzuhalten. Dadurch wurde der große Feldherr, der auf seinen Kriegszügen protestantische und katholische Länder gleichmäßig schädigte, auch für die katholischen Fürsten eine Gefahr, und sie erzwängen vorn Kaiser dessen Absetzung. Gustav Adolf. Ursachen des Eingreifens. — Der Sturz Wallensteins kam niemandem gelegener als dem Auslande. Schon hatte der Schwedenkönig Gustav Adolf an der deutschen Küste gelandet. Als eifriger Protestant gedachte er, den bedrängten Glaubens- brüdern im Deutschen Reich Hilfe zu bringen. Wie früher die Dänen, wollten sich aber auch die Schweden auf Kosten Deutschlands ver- 118 großem. Die Ostsee sollte ein schwedisches Meer werden. Bereits hatte der nordische Eroberer den Polen und Russen die Küstenländer entrissen, und jetzt sollte die deutsche Küste an die Reihe kommen. Das arme Schweden hätte den Krieg mit Deutschland nie ertragen; aber Richelieu, der französische Minister, lieferte das Geld, jährlich 400,000 Taler. Eben hatte er die Macht der Hugenotten und des Adels gebrochen, und nun gedachte er, den Kaiser zu schwächen. Je geringer die Macht des Deutschen Reiches war, desto höher stieg der Einfluß Frankreichs. Das Religiöse fing allmählich an, in den Hintergrund zu treten. Sein Empfang. — Die protestantischen Fürsten Norddeutschlands sahen den Schwedenkönig nur mit Angst kommen; konnte er seine Pläne durchführen, so mußten sie darunter leiden. So entschloß sich der Kurfürst von Brandenburg erst zum Anschlüsse, [als die schwedischen Kanonen auf sein Schloß gerichtet wurden, und Kursachsen trat erst in Bündnis, als es sich entscheiden mußte, entweder für oder gegen die Schweden zu kämpfen. Das Land des altersschwachen Herzogs von Pommern, das so begehrte Küstenland, behandelte Gustav Adolf von Anfang an als schwedische Eroberung. — Ein furchtbares Ereignis sollte dem Könige zu Hilfe kommen. Tilly hatte schon lange Wochen die starke Elbefestung Magdeburg belagert. Dies war die Hauptburg des protestantischen Glaubens und eine der größten Städte Deutschlands. Nun fiel die Stadt und hatte ein schreckliches Schicksal. Fast die ganze Bevölkerung, 20—30,000 Seelen, büßte das Leben ein; die Stadt ging in Flammen auf, und nur zwei Kirchen und einige elende Fischerhütten blieben verschont. Seine Siege. — Voller Angst schlössen sich jetzt die protestantischen Fürsten Gustav Adolf an, der ihr Führer und Haupt wurde. Auf dem Breitenfelde bei Leipzig überwand er den bisher nie besiegten Tilly, der kurze Zeit nachher bei der Verteidigung Bayerns das Leben verlor. Ganz Mittel-, Süd- und Westdeutschland, selbst Bayern fiel dem siegreichen König in die Hand. Gustav Adolf war auf dem Gipfel seiner Macht. Nie war der Kaiser in so großer Gefahr, als da der Schwedenkönig von München aus gegen dessen Hauptstadt Wien zu marschieren sich anschickte. Gustav Adolf und Wallenstein. — In seiner großen Not gelangte der Kaiser an den mit Undank entlassenen General Wallenstein. In unglaublich kurzer Zeit hatte dieser ein treffliches Heer 119 beisammen, dessen Führung er aber erst übernahm, als der Kaiser schwere Bedingungen erfüllt hatte. Wallenstein wurde Oberbefehlshaber aller kaiserlichen Truppen; niemand durfte sich in sein Handeln mischen, ein Fürstentum sollte sein Lohn sein. Bei Lützen, in der Nähe von Leipzig, trafen die zwei gewaltigsten Feldherren des langen Krieges aufeinander (1632). Nach schwerem Kampfe behaupteten die Schweden das Feld, und dennoch hatten sie den größeren Verlust erlitten; denn ihr König war in der Schlacht gefallen. Wohl führten schwedische Generale den Krieg weiter; aber bald weigerten sich die protestantischen Fürsten, unter ihrer Führung zu kämpfen. Die Ermordung Wallensteins. Wallenstein hatte sich nach Böhmen zurückgezogen und blieb untätig. Die größte Gefahr war durch den Tod Gustav Adolfs beseitigt. Er hatte keinen Grund, die protestantischen Fürsten zu vernichten, um die katholischen, die ihn früher gestürzt hatten, allmächtig zu machen. Seine Pläne sollten auch gegen den Willen des Kaisers ausgeführt werden. Bereits unterhandelte er mit den protestantischen Kriegsführern. Da regten sich die Feinde Wallensteins am Hofe. Man warf ihm Verrat vor, der Kaiser setzte ihn ab und erklärte ihn in die Acht. Zugleich machte man ihm heimlich die Generäle und Obersten abwendig, und ehe er den Rest seines Heeres mit den Feinden des Kaisers vereinigen konnte, wurde er mit samt seinen Getreuen durch abgefallene Offiziere zu Eger ermordet. Die Mörder wurden mit hohen Ehren und Reichtümern aus Wallensteins Nachlaß belohnt. Die Franzosen und Schweden als Eroberer. Wallensteins Tod kam dem Auslande zu gute. Immer offener griff Frankreich in den Krieg ein, und auch Schweden wollte den Raub nicht fahren lassen. Die Religion spielte keine Rolle mehr. Nach dem Falle der zwei großen Feldherren tobte der Krieg in immer wüsterer Form noch Jahre lang weiter. Die meisten protestantischen Fürsten machten mit dem Kaiser Frieden, an ihre Stelle traten als Kriegführende dauernd Schweden und Franzosen. Keine Macht war stark genug, die andere niederzuwerfen. Jahrelang wurde über den Frieden verhandelt, während die Feldherren Schlachten schlugen, Dörfer und Städte leer wurden und wildes Unkraut auf den Ackern wucherte. Schließlich, als nichts mehr zu rauben übrig blieb, erlosch der Brand von selbst, weil ihm die Nahrung fehlte. Der westfälische Friede. Im Lande Westfalen, in den Städten Münster und Osnabrück, kam endlich der langersehnte 120 Friede zu stände. Er war für das Deutsche Reich vernichtend. Die lteichsfeinde mußten mit deutschen Gebieten gesättigt werden. Schweden erhielt den ersehnten Küstenstrich in Pommern, die Mündungsgebiete der großen deutschen Flüsse: Oder, Elbe und Weser (Handel). Frankreich faßte festen Fuß im Elsaß, das es sich kurz nachher ganz aneignete. Die Niederlande und die Schweiz, die nur noch dem Namen nach mit Deutschland zusammenhingen und keinen Anteil an dem großen Kriege genommen hatten, wurden als unabhängig erklärt. Folgen. Die Ländereinbuße war aber nicht das Schlimmste. Der letzte Versuch, die Fürstenmacht unter die Kaisermacht zu beugen und ein starkes und einheitliches Reich zu begründen, war kläglich gescheitert. Die Reichsstände: Kurfürsten, Fürsten und Reichsstädte wurden fast ganz selbständig, konnten Krieg führen und Bündnisse schließen mit wem sie wollten, nur nicht gegen Kaiser und Reich. Die Kaisermacht wurde zum bloßen Titel, und die Macht der österreichischen Habsburger war nur noch gebietend, weil sie reiche Landesherren waren. Das Reich zerfiel in eine Unzahl kleiner Staatswesen, die vielfach zum Gespött des Auslandes wurden. Deutschlands Macht war gebrochen, und Frankreichs Stern begann hell zu leuchten. 4. Die Ausbildung der unumschränkten Herrschaft. Beseitigung der Landstände. Im Laufe des großen Krieges, in dem Gewalt und Macht immer das erste Wort gesprochen, vollzog sich auch eine große Verstärkung der fürstlichen Rechte. Die Gelegenheit, unbequeme Einrichtungen zu entfernen, war außerordentlich günstig. Seit Jahrhunderten hatten die Landstände: Vertreter von Adel, Geistlichkeit und Städten, das Recht, bei wichtigen Regierungsmaßnahmen des Landesherrn mitzuwirken, vor allem hatten sie das Recht der Steuerbewilligung. Nach dem Krieg war vielenorts, besonders in Süddeutschland, diese ständische Vertretung verschwunden. Der Bauer verlor dabei allerdings nichts, da man ihn schon früher recht- und wehrlos gemacht hatte. Neue Steuern. Die stehenden Heere — die Fürsten mieteten die Regimenter dauernd —, die prunkvolle Hofhaltung, die allgemeine Verschwendungssucht kosteten schwere Summen, und nun fingen die Landesherren an, auf alle Verbrauchsgegenstände des täglichen Lebens, auf Mehl, Brot, Fleisch, Kaffee, Tabak, Bier etc. bisher unbekannte Abgaben zu legen. Diese mußte der Verkäufer 121 sofort an die Steuerbehörde abliefern und durfte dann die Waren um das Betreffnis teurer verkaufen. Es sind dies die indirekten Steuern. An der Grenze des oft kleinen Landbesitzes, an Brücken, vor dem Stadttore etc. bezog der Landesherr Warenzölle, die besonders den gemeinen Mann schwer drückten. Bald folgte die direkte Kopfsteuer: Jeder Kopf der Familie wurde mit einer jährlichen Abgabe belegt. Allgemein geltend wurde der Grundsatz, daß der Landesherr alles nach seinem Gutdünken erledige: Die unumschränkte oder absolute Herrschaft war damit auch in Deutschland eingeführt. IV. Die Spaltung der Schweiz in eine katholische und eine reformierte Eidgenossenschaft. Der zweite Kappelerkrieg hatte die Reformation in der Schweiz zum Stillstand gebracht. Die Sieger nützten den Erfolg aus, um möglichst viele wieder zum alten Glauben zurückzubringen. Das konnten sie besonders in den Gemeinen Herrschaften, da sie auf der Tagsatzung die Stimmenmehrheit hatten. Sie legten den Kappeler- frieden so aus, daß in diesen Gegenden Reformierte wohl katholisch, Katholische aber nicht reformiert werden durften. 1. Die Austreibung der Locarner (1555). In Locarno hatte sich eine reformierte Gemeinde gebildet. Die katholischen Orte erklärten die Abgefallenen als Verbrecher und Rebellen, und da die Reformierten nicht für sie einzutreten wagten, verlangte man von ihnen, daß sie den Glauben abschwören oder auswandern. Die meisten wählten das letztere. Etwa sechzig Familien wandten sich nach Zürich. Es waren tätige und gewerbsame Leute. Sie brachten die Seidenindustrie, die für Zürich so wichtig wurde, zu großer Blüte. Noch heute erinnern die Familiennamen Orelli und Murab an jene Zeiten. 2. Erzbischof Karl Borromäus von Mailand. Der Eifer, die katholische Kirche zu befestigen, wurde von Italien aus geschürt. Der Mailänder Erzbischof Karl Borromäus, ein feuriger Glaubenseiferer und Sittenprediger, durchreiste die Gebirgstäler der Schweiz, überall helfend, mahnend, predigend, zum Gehorsam gegen den Papst und zum Haß gegen die Reformierten auffordernd. In Luzern und Freiburg wurden Jesuitenschulen gegründet und die Kapuziner ins Land gerufen. In Mailand gründete Borromäus eine Schule, worin Schweizerjünglinge unentgeltlich Pflege und Unterricht fanden. 122 Auf diese Weise erhielt das Papsttum eine glaubenseifrige Priesterschaft. In Luzern nahm ein ständiger Gesandter des Papstes, der Nuntius, Wohnung, der Regierungen und Volk der katholischen Kantone nach dessen Willen lenkte. 3. Der Borromäische Bund (1586). Die Folge war ein steigender Haß gegen die reformierten Miteidgenossen. 1586 taten sich die sieben katholischen Orte zu einem besonderen Bunde zusammen, der später zu Ehren des Mailändischen Erzbischofs der Borromäische Bund genannt wurde. Darin versprachen sie einander, beim alten Glauben zu bleiben, die Abfallenden zu züchtigen und gegenseitige Hilfe zu leisten bei Angriffen durch die Reformierten. Der neue Bund wurde über die bisherigen, eidgenössischen Bünde gestellt. — Da die Katholiken sich den Reformierten gegenüber nicht sicher fühlten, schlössen sie (ohne Solothurn) auch einen Bund mit dem König von Spanien, der als Beherrscher Mailands und Burgunds ihr Nachbar war. Jede Glaubenspartei hielt eigene Tagsatzungen und ohne die Gemeinsamen Herrschaften hätte jeder Verkehr unter den feindlichen Brüdern aufgehört. 4. Die Trennung Appenzells (1597). In die Zeit des Glaubenshasses fällt die Trennung Appenzells in zwei Haibkantone. Nachdem dort die zwei Glaubensarten lange Zeit in den Gemeinden verträglich nebeneinander gewohnt hatten, wurde das friedliche Verhältnis durch die glaubenseifrigen Kapuziner gestört. Den Reformierten der Kirchgemeinde Appenzell stellte man die Wahl, katholisch zu werden oder auszuwandern. Die Folge war bittere Feindschaft durch den ganzen Kanton, so daß der Bürgerkrieg auszubrechen drohte. Auf das Betreiben der andern Eidgenossen einigte man sich schließlich darauf, daß die Reformierten der inneren Bezirke in die äußeren und die dortigen Katholiken in die innern Rhoden zogen. Von nun an gab es einen reformierten Halbkanton Außerrhoden und einen katholischen Innerrhoden mit eigener Landsgemeinde und eigener Regierung. Der katholische Teil schloß sich sofort dem spanischen und dem Borromäischen Bunde an. 5. Der erste Villmergerkrieg (1656). Die gegenseitige Erbitterung zwischen den zwei Glaubensparteien der Schweiz war so groß, daß man in ewiger Kriegsangst lebte und daß geringfügige Geschehnisse zum Bürgerkriege führten. In Arth, im Kanton Schwyz, hatte sich im Verborgenen eine reformierte Gemeinde gebildet. Als der Glaubensabfall entdeckt wurde, flüchteten sieben Familien mit acht- 123 unddreißig Personen nach Zürich. Die Stadt verlangte von Schwyz die Herausgabe des Vermögens der Flüchtlinge. Schwyz schlug die Forderung ab und bestand auf der Auslieferung der Ketzer. Gegen die zurückgebliebenen Verwandten und Glaubensbrüder ging es mit barbarischer Härte vor. Männer und Frauen wurden ins Gefängnis geworfen und gefoltert, eine Reihe von Personen hingerichtet. Sofort nahmen die übrigen Orte, je nach dem Glauben, Partei. Wie im zweiten Kappelerkriege waren auch diesmal die Reformierten uneinig. Während die Zürcher das Städtchen Rappers- wil belagerten, rückten die Berner ins Freiamt. Da ihre Ordnung und Kriegszucht mangelhaft waren, gelang es einem viel kleineren Heere der Katholiken, ihnen bei Villmergen eine schwere Niederlage beizubringen. Weil auch die Zürcher vor Rapperswil unglücklich kämpften, mußten die Reformierten Frieden schließen. Dieser neue Sieg befestigte und stärkte das Übergewicht der Katholiken; bei den unterlegenen Reformierten aber sann man auf Rache und Vergeltung. 6. Der zweite Villmergerkrieg (1712), Als ums Jahr 1700 die ausländischen Staaten, auf die sich die Katholiken jeweilen stützten, miteinander im Kriege lagen, benutzten die Zürcher und Berner die günstige Gelegenheit, das Übergewicht der Katholiken zu brechen. Der Toggenburger Streit. Nach dem zweiten Kappeler- frieden hatte man dem Doggen bürg Religionsfreiheit zugesichert. Das hinderte aber den Landesherrn, den Abt von St. Gallen, und dessen katholische Landvögte nicht, den reformierten Untertanen das Leben zu verbittern und ihren Gottesdienst zu hemmen. In den unsicheren Zeiten wollten sich die Katholiken vorsehen. Bei Kriegsausbruch wurde ihnen von Zürich und Bern der Markt gesperrt. Nun verabredeten Schwyz und der Abt von St. Gallen den Bau einer Straße über den Riken im Doggenburg, damit die innern Orte jederzeit vorn Bodensee her Getreide einführen könnten. Nachdem Schwyz seinen Deil der Straße erbaut hatte, befahl der Abt den toggenburgischen Gemeinden die Wetterführung. Diese sahen in dem Befehl die Rückkehr zu den alten Frondiensten, von denen sie sich losgekauft hatten und verweigerten den Gehorsam. Zürich und Bern unterstützten eifrig die Doggenburger, während die Katholiken die Partei des Abtes ergriffen. Kriegserfolge der Reformierten. Nach jahrelangem Zank griffen die Reformierten zur Waffengewalt. Sie besetzten das äb- 124 tische Gebiet; die Schätze des Klosters St. Gallen galten als gute Beute; die Zürcher führten viele hundert Fuder Wein, sogar die Glocken und einen Teil der wertvollen Klosterbibliothek weg. Mittlerweile suchten die katholischen Orte die Verbindung zwischen Zürich und Bern zu zerstören, indem sie die Freien Ämter und die Grafschaft Baden besetzten. Die zwei Städte bemächtigten sich aber der Gegend, und die Berner schlugen das katholische Heer. Hütten und Villmergen. Die Erfolge der Gegner veranlaßten die katholischen Orte zu Friedensverhandlungen. Die Mehrheit des Volkes wollte aber nichts von einem schimpflichen Frieden wissen. Priesterschaft, Jesuiten, Kapuziner und Nuntius hielten es in größter Aufregung. Aufs neue wurde der Kampf eröffnet. 2000 Schwyzer und Zuger griffen die von 500 Ziirchern besetzten Schanzen bei Hütten an, wurden aber nach siebenstündigem Kampfe zurückgeschlagen. Zu gleicher Zeit erfolgte ein Vorstoß ins Freiamt. Wiederum bei Villmergen trafen die katholischen Kriegsscharen auf die Berner. Nach langem, unentschiedenem Ringen fiel diesen der Sieg zu. Es war die blutigste der schweizerischen Religionsschlachten ; über 3000 Tote bedeckten das Schlachtfeld. Übergewicht der Reformierten. Die Reformierten nützten nun ihrerseits den Sieg aus, um sich das Übergewicht zu sichern. Die Grafschaft Baden und die unteren Freien Ämter mit Mellingen und Bremgarten kamen an Zürich, Bern und Glarus; das gleiche geschah mit Rapperswil. In den Gemeinen Herrschaften bekamen die Reformierten mit den Katholiken gleiche Rechte. Das Toggen- burg erhielt zwar nicht die erhoffte Freiheit, aber Glaubensfreiheit und Schutz vor den Übergriffen des Abtes. J. Der Trücklibund (1715). Die erlittene Niederlage erfüllte die katholischen Orte mit bitterem Grimme. Sie konnten den Verlust ihrer führenden Stellung nicht verschmerzen. Mit fremder Hilfe erhofften sie eine Änderung. Sie schlössen mit Frankreich einen Sonderbund, der sie ganz in dessen Hände gab. In einem geheimen Beibriefe, der in einer Blechbüchse elffach versiegelt aufbewahrt wurde, versprach hingegen Frankreich, ihnen zur Herstellung ihrer alten Macht mit allen Mitteln behilflich zu sein. Obgleich es zu keinem Kriege mit Frankreich kam, war dieser „Trücklibund“ doch für die Reformierten eine Quelle steter Besorgnis und Angst. Von einem Verständnis und von gemeinsamer Arbeit unter den Kantonen konnte nun erst recht nicht mehr die Rede sein. 125 V. Die Aristokratien (Familienherrschaften) in der Schweiz. 1. Die Entstehung der Aristokratie. Herren und Untertanen. In den ersten Zeiten der Eidgenossenschaft waren die Angehörigen eines Ortes unter sich ziemlich gleichberechtigt. Mit der Zeit erwarben sich die Bundesglieder einzeln oder gemeinsam Herrschaften und traten in die Rechte der früheren Besitzer. Die durch Geld oder Krieg gewonnenen Leute wurden nicht als Miteidgenossen anerkannt; man betrachtete sie als tieferstehende Untertanen. So gab es Leute minderen Rechtes; der Anfang einer Klassenschei- dung war gemacht. Die Abschließung der Bürger. In den älteren Zeiten war es leicht, Bürger zu werden; jeder arbeitskräftige, tapfere Marin war willkommen und erhielt um wenig Geld das Bürgerrecht. Nach und nach wurde man mit den Aufnahmen zurückhaltender; denn das Bürgerrecht stellte einen Wert dar; es berechtigte zur Teilnahme am Bürgernutzen, an Pensionsgeldern, Ämtern und Offiziersstellen etc. Je weniger Anteilhaber da waren, desto mehr bekam der einzelne. Darum erschwerte man durch immer größere Einkaufssummen die Vermehrung der Bürgerschaft. Schließlich wurden die Bürgeraufnahmen gänzlich eingestellt. So entstanden die zwei scharfgetrennten Klassen der Bürger und der bloßen Ansäßen. Auch auf dem Lande unterschied man zwischen Dorfbürgern und rechtlosen „Hintersäßen“. Das Aufkommen der Geschlechter. Zu gleicher Zeit schieden sich in den Städtekantonen aus den früher gleichberechtigten Bürgern eine Anzahl hervorragender Familien. Besonders die älteren Bürgergeschlechter sonderten sich als vornehmer von den „Neubürgern“ ab, erklärten sich als allein „regimentsfähig“ und beanspruchten die Leitung der Staatsverwaltung. Das Geld wurde eine immer größere Macht im Staatsleben. Es floß aus dem blühenden Handel, besonders aber aus dem Fremdendienst. Der Besitz erlaubte die Aneignung einer besseren Bildung und feinerer Umgangsformen, so daß diese Leute sich von der Masse unterschieden. Da die Staatsbeamten entweder gar nicht oder doch ungenügend besoldet waren, wurde es Sitte, nur Reiche auf die Sessel zu erheben. Die Patriziate. Einmal im Besitze der Macht, suchte man sich dieselbe zu sichern. Die Regierungsstellen wurden an den meisten Orten lebenslänglich. Die Räte ergänzten sich fast überall selber, und gewöhnlich wurden die gleichen Geschlechter oder deren 126 Verwandte berücksichtigt. 15 Beruerfamilien zählten einst in ihrem Kreise 141 Ratsherren. Ja, die Ratsstellen konnten erblich werden. Es bildete sich an manchen Orten eine strengeschlossene Klasse bevorrechteter Familien, die sich Patrizier (Landesväter) nannten, so daß wiederum nur ein Teil der Regimentsfähigen — in Bern etwa ein Viertel — zu den „ wirklich Regierenden“ zählte. Der Staat Bern war ein großes Landgut dieser Patrizier. Sie verteilten unter sich die 68 Landvogteistellen, deren Einkünfte ein Vermögen einbrachten. Den Kern dieser Patriziate bildete einerseits der alte Geburtsadel, anderseits ein neuer Adel, der besonders aus dem Söldnerdienst hervorgegangen war und bei fremden Fürsten Titel und Würden geschenkt erhalten oder erkauft hatte. Auch diese Leute nannten sich Junker und legten sich das Adelszeichen „von“ bei. Scharf ausgeprägt war die Patrizierherrschaft in Bern, Frei- burg, Solothurn und Luzern. In den Zunftstädten Zürich, Basel, Schaffhausen und St. Gallen war eine reine Familienherrschaft nicht möglich, da dort von alters her die Handwerker die Staatsgewalt inne hatten. Aber auch hier gab es bevorzugte Familien, hauptsächlich aus der reichen Kaufmannschaft. Selbst in den Länderkantonen, wo doch in der Landsgemeinde die Volksherrschaft ausgeübt wurde, wußten einzelne Geschlechter die Gewalt an sich zu reißen. So bekleideten einst drei Brüder aus dem Geschlecht der Lussi in Nidwalden die drei obersten Landesämter. Die unumschränkte Regierungsweise. Die Reformation hatte den reformierten Orten eine große Machterweiterung gebracht, indem alle kirchliche Gewalt auf sie überging. Sie bestimmten den Glauben und beaufsichtigten die Sitten. Auch bei uns kam die Ansicht auf, daß sie die Obrigkeit „von Gottes Gnaden“ und darum heilig und unantastbar sei. In den Predigten der Pfarrer wurden dem Volke diese Lehren immer und immer wieder eingeprägt. „Den Göttern sollst du nicht fluchen und den Obersten in deinem Volk nicht lästern.“ Diese Anschauung führte zur Bevormundung des Landvolkes. Die Anfragen unterblieben; denn „Deß vielköpfigen Pöbels unbe- scheidner, fräffler Gewalt ist ein übel. Der Gewalt gehört den Weisen und nicht den ungezempten Büfflen“. Im Kanton Zürich ließ man die Zeugen einer freieren Zeit verschwinden, indem man den Gemeinden die früher verliehenen Urkunden heimlich wegnahm. Am meisten spürte der Bauer die veränderte Zeit. Zu den 127 alten Lasten kamen neue. Das Volk kannte nur noch Pflichten, aber keine Rechte und war erbittert über alles, was von der Regierung kam. Diese suchte immer neue Geldquellen. Eine allgemeine Landessteuer, besonders für Verteidigungszwecke in der Zeit des SO jährigen Krieges, kam auf. Der Salz- und Pulververkauf wurde Staatssache (Monopol). Wer Vieh verkaufte, zahlte das Trattengeld, vorn Volke ingrimmig das Ratten- oder Krottengeld genannt. Nicht selten revoltierte die Landschaft gegen die neuen Auflagen. So weigerte sich 1646 Wädenswil, die Kriegssteuer zu zahlen. Zürich aber besetzte das Dorf und ließ vier Anführer hinrichten. Das Volk sollte eingeschüchtert und an unbedingten Gehorsam gewöhnt werden. 2. Der Bauernkrieg von 1653. Ursachen. Während in Deutschland der 30jährige Krieg tobte, erfreute sich die Schweiz eines dauernden Friedens. In Scharen kamen deshalb deutsche Flüchtlinge in unser Land. Hiedurch entstand eine größere Nachfrage nach Lebensrnitteln. Getreide, Schlachtvieh, Wein etc. stiegen rasch im Preise, desgleichen die Wohnungen und Güter. Die Söldner waren sehr gesucht und wurden gut bezahlt. Viele Bauern gaben das leichterworbene Geld mit vollen Händen aus und huldigten dem Luxus. Nach dem Kriege aber folgte eine empfindliche Krisis. Die Flüchtlinge kehrten in ihre Heimat zurück und rasch sanken alle Preise. Der Preis des Mütts Korn ging von 40 Batzen auf 8 hinunter. Der Kriegsdienst geriet ins Stocken. Überall waren Geldnot und Mißbehagen. Die Regierungen kümmerten sich nicht im geringsten um die schlimmen Zustände; im Gegenteil, sie gaben den direkten Anstoß zu einer gewaltigen Volkserhebung. Während des Krieges war das Geld begehrt und stieg im Werte. Darum fingen verschiedene Orte an, die Münzen schlechter zu prägen. Nach dem Friedensschlüsse ging das Geld auf den alten Wert zurück. Überall wurden nun die zu gering geprägten Münzen abgewiesen. Eine neue Münzordnung war nicht zu umgehen. Da setzte Bern plötzlich den Wert seiner Batzen um die Hälfte herunter und gab für die Auswechslung zum vollen Werte nur drei Tage Zeit. Andere Orte folgten nach. Es waren hauptsächlich die Bauern, die darunter litten: Manche versäumten die Frist, und nachher brauchte es die doppelte Anzahl Batzen, um eine Schuld zu tilgen. Die Mißstimmung erreichte den höchsten Grad. 128 Der Aufstand im Entlebuch. Der Aufstand nahm seinen Anfang im Entlebuch, einer luzernischen Herrschaft, die eine bevorrechtete Stellung einnahm. Sie besaß ein eigenes Siegel und ernannte ihre Unterbeamten und Richter selber. Eine Abordnung der Talleute verlangte nun, es sei den Bauern zu gestatten, in Zukunft die Zinsen statt in barem Gelde, in Naturerzeugnissen abzuliefern. Sie fand üblen Empfang. Ein Ratsherr soll die Äußerung getan haben: „Ihr werdet nicht ruhig, bis man euch 4—500 hieb- und schußfeste Wälsche auf den Hals schickt.“ Die Entlebucher blieben die Antwort nicht schuldig; sie bewaffneten sich unter der Führung des Landesbannerherrn Emmenegger und der drei Teilen, welche die Stifter des Rütlibundes darstellten. Der Aufstand verbreitete sich mit Windeseile. Die Luzernen Bauern schlössen sich zusammen, um die Regierung zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Luzern verlangte, gestützt auf das Stanserverkommnis, Hilfe aus den Waldstätten, durch die es der Stadt denn auch gelang, sich zu halten. Durch Vermittlung kam ein Friede zustande, der den Bauern einige Erleichterungen zusicherte, aber auch ihren Bund auflöste. Der Bauernbund. Inzwischen hatte aber der Aufstand die beimischen, solothumischen und baselschen Gebiete ergriffen. Die Tagsatzung bezeichnete die Erhebung als „sträfliche Rebellion“, nannte die Forderungen „nichtige Verwände verschuldeter Leute“ und bot Truppen auf. Christen Schybi aus dem Entlebuch, ein Soldat von riesiger Körperkraft, schürte den Aufstand. In Sumis- wald und Hutwil stellte man dem Herrenbund einen Volksbund entgegen. Luzernen, Berner, Solothurner, Freiämtler versprachen sich gegenseitig Hilfe. Zwar lag ihnen ferne, Anteil an der Regierung zu verlangen; was sie wollten, war lediglich Abschaffung der „unguten Aufsätze“, also der neuen Abgaben. Alle zehn Jahre sollte der Bund erneuert werden. Die Entscheidung. Unter dem Obmann Nikiaus Leuen- berger, einem angesehenen Berner Bauern, organisierte sich die Bauernschaft. Sie ergriff die Waffen, um die Herren zur Erfüllung der Forderungen zu zwingen. Allein schon im Anfang schlug eine ihrer Haupthoffnungen fehl: die Zürcherbauern, die sich des traurigen Ausganges der Erhebung Wädenswils erinnerten, blieben ruhig. Anfänglich waren die Bauern im Vorteil. Mit 20,000 Mann erzwäng sich Leuenberger nach der Einschließung der Stadt Bern einen günstigen Frieden. Er wurde aber auf keiner Seite ehrlich 129 gehalten. — Nun rückten die Zürcher Truppen ins aufständische Freiamt. Unter Leuenberger traten ihnen die Bauern bei Wohlen- schwil entgegen. Trotz ihrer Tapferkeit konnte er keinen Sieg erringen, weil seine Scharen durch die feindliche Artillerie furchtbar litten. Dem Bürgermeister Waser von Zürich gelang es, einen Frieden zu vermitteln. Die Bauern mußten den Kampf aufgeben und nach Hause zurückkehren. Dem fügte sich aber Schybi mit seinen Ent- iebuchern nicht. Nach einem unentschiedenen Gefecht bei Gisli- kon gegen ein zweites eidgenössisches Heer wurden auch die Luzernerbauern kampfesmüde und gingen auseinander. Die noch im Felde stehenden Berner Landleute unter Leuenberger erlitten durch die Regierungstruppen ebenfalls eine Niederlage. — Die Herren hatten über die Bauern einen vollständigen Sieg davongetragen. Die Rache. Grausam war die Rache an den Unterlegenen. Die Tagsatzung stellte die Strafe den einzelnen Orten anheim, sorgte aber dafür, daß nicht zu milde vorgegangen wurde. Schybi wurde gräßlich gefoltert und enthauptet. Leuenberger erlitt dasselbe Schicksal, nachdem man ihn zuvor in Bern verhöhnt hatte. Mit einem Strohkranz angetan, ein hölzernes Schwert zur Seite, führte man den „Bauernkönig“, vor dem noch vor wenig Wochen die stolze Aarestadt gezittert, zum Gespött der Gaffer durch die Straßen Berns. Im ganzen wurden 48 Bauern hingerichtet, hunderten schlitzte der Henker Ohren und Zunge, andere verbannte man oder beraubte sie des Vermögens. Am längsten verharrte das Entlebuch im Widerstand. Als der Schultheiß die Huldigung des Tales entgegennehmen wollte, wurde er in einem Hohlweg von den drei Teilen angegriffen und entkam nur mit knapper Not. Jetzt wurde die Herrschaft mit Truppen besetzt und gezwungen, zum Gehorsam zurückzukehren. 3. Die Entartung des Herrentums. Weit empfindlicher. lastete nach diesem Siege der Druck des Herrentums auf dem Volke. Kleiderpracht und Titelsucht. Schon äußerlich erkannte man die „gnädigen“ Landesherren. Sie äfften, wie es damals in fast ganz Europa Sitte war, französisches Wesen nach. In Perücken und feinen Halskrausen, die sich wie Teller um den Hals legten, in pelzverbrämten Mänteln, engen Kniehosen, zierlichen Schnallenschuhen, geschmückt mit Degen und goldenen Halsketten, stolzierten sie einher. Lange, überschwängliche Titel bekräftigten die Heiligkeit ihrer Stellung. So wurde die Zürcherregierung in Briefen angeredet mit: „Gnädiger Herr Bürgermeister, Hochgeachtete, Wohledle, Ge- Geschichtslehrinittei. 9 130 strenge, Ehr- und Notfeste, Wohlvornehme, Fromme und Hochweise, Allergnädigste Herren und Vater“, und der Schluß der Schreiben lautete: „Euer Gnaden gehorsamster und mit Leib und Blut ergebenster, untertäniger Knecht“. Hochfahrendes Wesen. Eine hochfahrende, beleidigende Behandlung der abhängigen Klassen wurde Sitte. In Bern durfte kein Ansäße ein Haus besitzen, einen Grabstein haben oder vor 11 Uhr den Markt besuchen; den Frauen war es verboten, unter den Arkaden Körbe zu tragen, damit die Reifröcke der Vornehmen keinen Schaden litten. Der geringste Zürcherbürger fühlte sich hoch erhaben über den reichen Kaufmann von Winterthur. Mandatunwesen. In kleinlicher Weise wurde das Volkswesen eingeengt. In Mandaten verbot man Kirchweihfeste, Fastnachtfeuer, Tanz und Kegelspiel, das „Böggen“, „das lausten uff den Hüttliberg anUffahrtstagen“. Gegen Kaffee-und „Tabaktrinken“ und das Schnupfen wurde ein langer, wenn auch erfolgloser Krieg geführt. Weit-. läufige Kleiderordnungen befaßten sich mit Vorschriften über Farbe, Stoff, Form und Verzierung der Kleider beider Geschlechter. Verfolgungssucht. In religiösen Dingen waren Reformierte wie Katholiken unduldsam und verfolgungssüchtig. Jede freie Meinungsäußerung galt als Empörung. Jede Schrift wurde genau geprüft, ob sie eine Gefahr für Staat und Kirche bedeute (Zensur); alles Mißliebige darin wurde unterdrückt und verboten. Die Unwissenheit und Roheit zeigte sich in den barbarischen Strafen (Folter) und besonders in den schrecklichen Hexenprozessen. Noch 1701 wurden acht Personen aus Wasterkingen hingerichtet, weil sie mit dem Teufel verkehrt hätten; immerhin muß gesagt werden, daß der Hexenwahn im Kanton Zürich, im Vergleich zu anderen Gegenden, verhältnismäßig wenig Opfer gefordert hat. Zurücksetzung der Landschaft. In den Zunftstädten beanspruchten die Bürger das Recht der Warenerzeugung für sich, der Bauer sollte das Land bebauen. Von dem Landvolke dachte und redete man sehr gering. „Ein Bauer ist wie ein Rind, nur daß ihm die Hörner fehlen“. Die mächtigen Festungsmauern waren ein Sinnbild der unübersteigbaren Kluft zwischen Stadt und Land. Der Wohlstand auf dem Lande war vielenorts so gering, daß eine halbe Mißernte die Hälfte der Bewohner zum Betteln zwang. Heimatlose und Vaganten, die oft, wilden Tieren gleich, von Dorf zu Dorf gejagt wurden, bildeten eine wahre Landplage. 131 Mißstände in den Gemeinen Herrschaften. Ein Schandfleck für die Eidgenossenschaft waren die Gemeinen Herrschaften. In verschiedenen Orten wurden die Landvogteistellen an den Meistbietenden verkauft, der sich dann an seinen Untertanen schadlos hielt. Man erließ alle möglichen Verbote, um bei den selbstverständlichen Übertretungen schwere Bußen verhängen zu können. Verbrecher ließ man oft laufen, wenn sie ein tüchtiges Stück Geld zahlten. Die Prozeßsucht des Volkes wurde künstlich genährt, weil der Gerichtsherr daraus seine Vorteile zog. Immerhin hatten die Gemeinen Herrschaften das Gute, die religiös auseinanderstrebende Eidgenossenschaft dürftig zusammenzuhalten. Lichtseiten. Es ist nicht zu vergessen, daß ähnliche, oft noch weit schlimmere Verhältnisse im übrigen Europa herrschten. Sie lagen im Geiste der damaligen Zeit. Zwar hatte die aristokratische Regierungsweise auch ihre Verdienste. Das Verwaltungswesen zeigte bemerkenswerte Fortschritte. Die Regierungen trafen mehr als früher Vorsorge gegen Hungersnot und Teurung, indem sie in Kornhäusern Vorräte ansammelten. Der Landwirtschaft, dem Gewerbe und Handel wurden große Aufmerksamkeit gewidmet. Damals wurde auch das Postwesen bei uns eingeführt. Bern besonders galt als Muster eines gut und sparsam regierten Standes. Die Überschüsse des Staatshaushaltes flössen in den berühmten Berner Staatsschatz, der den Neid des Auslandes herausforderte, oder sie wurden 'zu nützlichen Zwecken verwendet. Man leitete, um das Umgelände vor Versumpfung zu bewahren, die wilde Kander in den Thunersee und baute durch den ganzen Kanton wundervolle, breite Straßen. Schöne Dörfer und stolze Bauernhäuser verrieten den Wohlstand der Bevölkerung. In den Städten, den Zentren der Verwaltung, erhoben sich stattliche Staatsgebäude: Zeughäuser, Kornspeicher, Waisenanstalten, Zunft- und Rathäuser. Der geschmackvolle Renaissancebau des Zürcher Rathauses entstand in den Jahren 1694—1698. In Zürich hatten die Kirchenämter von Zeit zu Zeit Verzeichnisse der ihnen zugehörigen Familien anzufertigen, so daß schon damals eine Art Volkszählung stattfand. 4. Die Schweiz unter dem Einflüsse Frankreichs. Während dieser ganzen Epoche war die Schweiz in drückender Abhängigkeit von Frankreich. Da der Boden nur einen Teil der Bevölkerung zu ernähren vermochte, und die Industrie viel zu wenig entwickelt 132 war, um den übrigen Teil zu ernähren, war das Söldnerwesen ein notwendiges Übel. Fast ununterbrochen bestand zwischen den beiden Ländern ein Sold- und Pensionenvertrag. Selbst Zürich, das sich durch Zwinglis Einfluß fast 100 Jahre lang des Reislaufens enthalten hatte, konnte den Lockungen des französischen Geldes nicht widerstehen. Zwar mußte Frankreich mannigfache Handelsvorteile zugestehen, und es war ein guter Abnehmer der schweizerischen Industrieprodukte. Doch war es der Bund eines Stärkeren mit einem Schwächeren. Viele Demütigungen mußten hingenommen werden; aber man ertrug sie, des Geldes wegen. Verächtlich sagte einst der französische Gesandte; „Die Schweizer würden selbst die Luft verkaufen, die sie einatmen“. Ungeheure Summen, die man an einflußreiche Personen verteilte, machten alle Regierungen gefügig. Bestechlichkeit war überall zu Hause. Ums Jahr 1700 kämpften 30,000 Schweizer unter Frankreichs Fahnen. Daneben erlaubte man auch anderen Ländern Werbungen, natürlich gegen schweres Geld. Ums Jahr 1750 standen 70,000—80,000 Mann in fremden Diensten und zwar über fast alle Länder Europas verstreut. K. Der Sturz der alten Staatsform. I. Die alte Ordnung (Frankreich). (L’ancien Regime.) Das unumschränkte Herrschertum, dessen Grundlagen im 16. Jahrhundert gelegt worden waren, hatte im 17. Jahrhundert seine höchste Ausbildung erreicht; im 18. ging es seiner Entartung und Auflösung entgegen. Am ausgeprägtesten war die absolute Monarchie in Frankreich, wo sie durch Ludwig XIV. am schärfsten durchgeführt worden war. Dieses mächtige Land war für fast alle Staaten Europas vorbildlich und seine Einrichtungen wurden rasch nachgeahmt. 1. Der König. Der Landesherr betrachtete den Staat mit all seinen Einnahmen: Steuern, Abgaben, Zöllen, Bußen u. s. w. als Privateigentum. Mit vollen Händen schöpfte er aus der Staatskasse, vor allem, um sich das Leben möglichst angenehm zu gestalten. In Versailles stand das großartige königliche Schloß. Hier residierte der Herrscher, und um ihn sammelte sich die vornehme Welt Frankreichs. Palast reihte sich an Palast; davon standen Hunderte 133 im Dienste des erhabenen Königs. In den Straßen wimmelte es von Kutschen und Reitern, da glänzten Uniformen und Livreen. Ein rauschendes Fest löste das andere ab, eine Unterhaltung jagte die andere. 9000 Mann Garden sorgten für die Sicherheit und erhöhten durch den unerläßlichen militärischen Pomp den Glanz des Hofhaltes. Tausende von Pferden und Hunderte von Wagen mit 500 Mann Bedienung standen immerwährend zur Verfügung. Da waren Stallmeister, Bereiter, Reitlehrer, Pferdeärzte, Zahlmeister, Schmiede, Wagner, Sattler etc. Für die Jagd gab es 300 Extrapferde und besondere Meuten für Eber-, Wolfs- und Hirschjagden. Für Hundefutter allein waren *50,000 Er. nötig. Zur Küche des Königs gehörten 400 Köche und Pastetenbäcker, 100 Küchenjungen und eine große Anzahl von Aufsehern, Verwaltern über Tisch, Brot, Wein, Vorschneidern, Bratenwendern, Tafelinspektoren, Mundschenken etc. Für die persönliche Bedienung des Königs sorgte der Oberkammerherr und der Vorsteher der Kleiderkammer, ein jeder mit etwa 100 Untergebenen und Kammerherren, Mantelträgern, Stockhaltern, Krawattenbindern, Kofferträgern etc. Für das leibliche und seelische Wohl sorgten 75 Kapläne, Beichtvater, Vorbeter und 50 Leibärzte, Apotheker und Chirurgen. Die Schatzkammern enthielten Edelsteine der verschiedensten Art und Größe, Gold- und Silbergeschirre und eine Menge Kunstgegenstände. Außer Versailles hatte der König noch ein Dutzend Residenzen mit Bedienung und Bewachung. In seinem Dienste standen 15,000 Personen, und der Hofhält allein verschlang 40 Millionen Franken und mehr, das heißt l /io, aber auch bis l U der Staatseinnahmen, Von seiner Höhe herab, die allen Niederen unzugänglich war. zwang der Monarch dem Volke seinen Willen auf. Er duldete keinen Widerspruch, keine Mahnung. Die feuchten Mauern der Bastille, des gefürchteten Staatsgefängnisses, nahmen den Kühnen auf, der seine Maßregeln zu tadeln wagte. Mit den Worten: „Tel est mon plaisir“, verkündete der König jeweilen seine Gesetze. Sie entsprangen nicht immer seiner Überlegung und Einsicht, sondern sehr oft seiner Willkür und Laune oder schlechten Ratgebern. 2. Die bevorrechteten Stände. Die Bevölkerung Frankreichs zerfiel in eine kleine Zahl Bedrücker und in eine große Zahl * Um den heutigen Geldwert zu erhalten, sind die Zahlen mit fünf zu multiplizieren. 134 Unterdrückter; denn der Staat sorgte nicht für die Wohlfahrt aller, sondern für die Interessen weniger. Unter den zirka 25 Millionen Einwohnern waren etwas mehr als */* Million Bevorrechteter, also etwa l°/o. Sie zerfielen in die Geistlichkeit und den Adel, die an Zahl ziemlich gleich stark waren. Der „1. Stand“, die Geistlichkeit, besaß wohl */a des Bodens. Die hohen Stellen: Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte, genossen fürstliche Einkommen. Da war der Kardinal Rohan, Erzbischof von Straßburg, der jährlich eine Million verzehren konnte, dort ein Kloster, das ebensoviel einnahm, ein anderes mit doppelt oder dreimal so großem Einkommen. Wie die übrigen vornehmen Herren huldigten viele hohe Geistlichen dem Luxus; sie lebten vergnügungssüchtig und unsittlich am Hofe. An ihrer Statt amteten diebische Verwalter, schlecht bezahlte Vikare. Die 60,000 armen Dorfgeistlichen, die aus dem Volke stammten, kämpften mit dem Hunger und sahen in der hohen Geistlichkeit ihre Gegner und Bedrücker. Trotz der Verweltlichung der Spitzen der Geistlichkeit und ihrer geringen Religiosität war sie Andersgläubigen gegenüber außerordentlich verfolgungssüchtig. Die Vertreibung der Hugenotten war die größte Schädigung des Nationalvermögens gewesen. Und der Geist Ludwigs XIV. wirkte weiter. Die Reformierten waren nicht nur von allen Staatsstellen ausgeschlossen, sie durften auch gewisse Berufe nicht ausüben (Arzt, Apotheker). Ihr Gottesdienst wurde durch Militär gestört. Man legte ihnen Soldaten ins Haus, zog ihre Güter ein, brachte ihre Kinder in Klöster, wo sie in der katholischen Religion erzogen wurden. Der „2. Stand“, der Adel, besaß einen zweiten Drittel des Landes. Da gab es Familien, die aus ihrem Grundbesitz riesige Summen zogen. Jagd und Fischfang, ein Teil der Gerichtsbarkeit und eine Menge Gebühren und Zölle lagen in der Hand der Adeligen. Die Vornehmsten lebten mit Vorliebe in Versailles und vergeudeten ihren Besitz in Spiel und Prasserei. Sie besuchten ihre Güter nur, um einige Wochen zu jagen und sich von den Strapazen der Ausschweifungen zu erholen. Der Grundbesitz wurde Pächtern und Verwaltern überlassen, die sich an den abhängigen Bauern bereicherten; die Gerichtsstellen wurden verkauft und dienten zur Ausbeutung des Volkes, da das Recht sich kaufen ließ. Der Adel, vor allem der vornehme, war Inhaber aller einträglichen, hohen Kirchen- und Staatsämter, Hof- und Offiziersstellen. 135 Der größte Teil wurde nicht nach Verdienst, sondern nach Laune und Willkür vergeben, andere wurden verkauft. Es waren meist Scheinämter. Arbeit wurde gewöhnlich keine geleistet oder dann unteren Angestellten überlassen. Die Besoldungen dagegen waren übermäßig hoch, 20,000, 50,000, 100,000 Er., ja das Doppelte und Dreifache. Auch diese vornehmen Herren führten ein großes Haus mit einer hundertköpflgen Dienerschaft in Küche, Garderobe usw., eine besondere Leibgarde war Ehrensache; überhaupt galt es fast als Pflicht, den König nachzuahmen. Auch sie trugen Kleider, deren Knopflöcher mit Diamanten besetzt waren. Ihre Einnahmen genügten daher dem riesigen Aufwande nicht; sie stürzten sich in tiefe Schulden. Da mußte die Staatskasse wieder herhalten. Jahrgelder, Ruhegehalte, Extrageschenke flössen in reicher Fülle und bei jeder Gelegenheit. Von 1783 — 87 wurden auf diese Art im Durchschnitt per Jahr weit mehr als 100 Millionen verteilt. Die Briider des Königs standen als Empfänger mit Dutzenden von Millionen in erster Linie. Ein Marquis bezog vier Pensionen, eine für die Verdienste seines verstorbenen Vaters, eine für denselben Gegenstand, eine dritte aus dem nämlichen Grunde und eine vierte „wegen derselben Ursachen 1 *. So plünderten diese Müßiggänger den Staat, für dessen Erhaltung und Aufgaben sie sozusagen nichts beitrugen, da die Bevorrechteten fast steuerfrei waren. Hof und Adel verzehrten weit mehr, als das Land aufzubringen vermochte und stürzten den Staat in immer größere Schulden. 3. Der 3. Stand: Das Volk. Bürger und Bauer leisteten die Arbeit. Sie lieferten den Vornehmen das nötige Geld; sie waren der Schwamm, den man nach Belieben auspreßte. a) Die Städte. Die städtische Aristokratie. In der Stadt hatten Handel, Gewerbe und Handwerk ihren Sitz. Die französische Industrie behauptete in allen Dingen, die Geschmack und feine Ausführung verlangten, den Markt. Paris mit seinen 700,000 Einwohnern war der Mittelpunkt. Es versorgte die elegante Gesellschaft Europas mit allen Artikeln des Kunstgewerbes. Die Hafenplätze Marseille, Bordeaux und Nantes trieben einen blühenden Seehandel. Obgleich hemmende Vorschriften, schwere Zölle und Abgaben Handel und Fabrikation einengten, obgleich elende Verkehrswege den Umsatz der Waren erschwerten, entstand aus diesen Kreisen ein wohlhabender Bürgerstand, die Bourgeoisie, die allerdings gegenüber der Stadt- 136 bevölkerung eine starke Minderheit darstellte. Sie verfügte über das flüssige Geld und lieferte zum Teil die Geldmittel für die Anleihen des Staates und der vornehmen Welt. Durch Kauf brachte sie die städtischen Ämter in ihre Hand. Siebenmal innerhalb 80 Jahren hatte der König den Städten die Selbstverwaltung weggenommen, und siebenmal hatten sie diese zurückgekauft. Die Städte zahlten durchwegs weniger Steuern als das Land. Diese waren aber ungleich verteilt. Die Inhaber der Ämter wußten alle Lasten auf die Wenigerbemittelten abzuschieben. Der Zunftzwang. Die Handwerker waren schlimmer dran, obgleich auch sie Vorrechte genossen. Geschäft und Handwerk vererbten sich oder wurden von der Zunft vergeben. Der Zunftzwang hemmte die Entwicklung. Er verunmöglichte die Wahl des Berufes nach Fähigkeit und Neigung. Der Sohn des Schlossers mußte wieder Schlosser, der des Schusters wieder Schuster werden. Bei Änderungen in den Meisterstellen wurden schwere Abgaben erhoben. Gunst und Geld spielten auch hier die Hauptrolle; der fleißigste und fähigste Geselle konnte nicht selbständig werden, wenn er nicht über Hülfsmittel verfügte. Es gab eine Menge zurückgesetzter, unzufriedener Gesellen. — Aus Geldnot griff der Staat immer wieder in die Verhältnisse der Zünfte ein und hemmte den Erwerb. Fortwährend wurden neue Arbeitszweige zu Zünften erhoben, um neue Geldquellen aufzutun. Neben den Brotbäcker kam der Pasteten- bäcker, neben den Schneider der Trödler. Selbst die Blumenmädchen von Paris bildeten eine eigene Zunft, zu der der Eintritt 200 Er. kostete. Der wunderlichen Zunftabgrenzung wegen lagen sich die verwandten Zünfte immer in den Haaren. Der Messerschmied durfte keine Messerheften, der Schlosser keine Nagel verfertigen, der Sattler keinen Schuh flicken. Mußte ein zerrissener Schuh mehr als zu zwei Drittel neu gemacht werden, so gehörte er nicht an den Schuh- flicker, sondern an den Schuster. Getragene Kleider besserte der Trödler aus; er durfte auch damit handeln; neue gehörten dem Schneider zu. Armut. Die unteren städtischen Schichten lieferten viel Volk an die Straßen, an die Bettler und Vaganten, die das Land unsicher machten. Die Armut war in die Augen springend, da für Armenwesen, öffentliche Bauten, Pflasterung und Beleuchtung nie Geld übrig blieb. Die Straßen starrten vor Schmutz, die Rinnsteine liefen voll Unrat. Zwischen den städtischgebauten Häusern standen oft 137 noch die mit Schindeln und Stroh bedeckten Wohnungen der ackerbautreibenden Bevölkerung. Manchenorts lagen mitten in der Stadt unangebaute Plätze oder sumpfartige Stellen, deren Ausdünstung die Umgebung ungesund und unwohnlich machten. b) Die Bauern. Die bäuerliche Bevölkerung zählte etwa 21 Millionen Köpfe. Sie besaß in kleinen Stücken den letzten Drittel des Bodens oder nahm einen Teil der Güter der Bevorrechteten in Pacht oder lebte hörig auf deren Besitzungen. Die Steuerlast. Diese bäuerlichen Landbesitzer trugen beinahe alle Staatslasten. Sie gaben an direkten Steuern durchschnittlich 53% des Einkommens dem Könige. Die Art des Bezuges bedeutete eine unbarmherzige Härte. Der Staat verpachtete gegen eine bestimmte Summe die Steuererhebung an reiche Leute. Die Steuerpächter schössen der in ewigen Geldnöten steckenden Regierung gegen große Begünstigungen die Steuerbeträge des nächsten, ja des zweitnächsten Jahres vor. Durch ein Heer von Steuerein- treibern preßten sie dafür dem Volke das Doppelte und Dreifache des Betrages ab. Der Steuerbezug wurde durch Leute aus dem Volke selber vorgenommen, Sie hafteten für die volle Summe. Mit unnachsichtlicher Strenge trieben sie darum den Anteil eines jeden ein. Der Unglückliche, der die Steuer nicht bezahlen konnte, mußte zusehen, wie man Tische und Stühle aus der Stube, die Betten aus der Kammer, die Riegel von der Türe, die Ziegel vorn Dache verkaufte. Dazu verlangte der Gutsherr von dem Bauern, der nicht eigenen Grund und Boden besaß, eine Anzahl Hühner oder ein bestimmtes Maß Korn als Erbzins, von dem Pächter den halben Jahresertrag. Beim Verkauf des Ackers ging ein Viertel, manchmal ein Drittel des Kaufpreises in die Tasche des Herrn. Die Übertragung des Pachtgutes an einen neuen Pächter nahm den ganzen ersten Jahresertrag für den Herrn weg. Außerdem zahlte der Bauer noch Straßen- und Brückenzölle und manche andere kleinere Abgabe, so daß die Leistungen an den Herrn durchschnittlich 14°/o ausmachten. Und endlich kam noch die Kirche und bezog den Zehnten, der sich aber nicht bloß auf 10°/«, sondern auf 14°/» heiles. Alle Steuern zusammen nahmen dem Bauern von 100 Fr. Einkommen 81 Fr. weg, so daß für seinen Unterhalt nu> noch 19 Fr. übrig blieben. Indirekte Steuern. Aber noch dieser kleine Rest wurde durch eine Menge versteckter Abgaben belastet. Am drückendsten waren die Salz- und Weinsteuer, weil sie allerlei Plackereien mit sich brachten. Auch diese Abgaben wurden an den Meistbietenden verpachtet, der nicht bloß seine Ausgaben, sondern noch einen erklecklichen Gewinn daraus ziehen wollte. Der Preis des Salzes stand daher überall sehr hoch. Im Kleinverkauf galt das Pfund von 85 Rp. bis Fr. 1.50. Auf jedes Familienglied, das über sieben Jahre alt war, mußten sieben Pfund gekauft werden. Wehe dem Bauer, der den Überschuß für andere Zwecke, z. B. für die Viehfütterung verwendete. Der Salzwächter nahm ihm das Vieh weg und büßte ihn obendrein sehr hart. Diese „Salzspitzel“ hatten das Recht, zu jeder Zeit, bei Tag oder Nacht, das Haus von oben bis unten zu durchstöbern, mit ihren Händen Kästen und Truhen abzutasten, Kammern und Betten zu durchwühlen, Keller und Stall auszuschnüffeln. Schmuggelsalz oder aus Meerwasser gewonnenes Salz war bei hoher Strafe verboten; man durfte nicht einmal das Vieh an salzhaltigem Gewässer zur Tränke führen. Unerhört für dieses große Weinland waren die Abgaben beim Weinhandel: 5 °/o Lagergebühr, je 12V- °/o für Verkäufer und Käufer — 30 °/o. Wehe dem, der ohne Anzeige ein paar Liter mehr verkaufte oder aus Mitleid an einen Kranken verschenkte. Die verkauften Waren mußten vorgeschriebenen Zollinien folgen. Der Wein aus dem südlichen Rhone tal mußte die Rhone hinauf, die Loire hinunter und durch den Kanal von Briare geführt werden, um nach Paris zu gelangen. Unterwegs zahlte er 30—40 verschiedene Abgaben. Das verteuerte ihn so, daß der Verbrauch zurückging und „Weinbauer“ und „Elend“ gleichbedeutend wurden. Die Frondienste. Das Volk war auch zur Fron gezwungen. Sie lastete auf den untersten Klassen, den Bauern und Handwerkern. Die Fröner bauten die Landstraßen, selbst 12jährige Knaben mußten mithelfen. Die Gutsherren, weltliche und geistliche, nahmen den Bauern ein, zwei und drei Tage per Woche für sich in Anspruch. Er brachte seines Herrn Ernte vor dem Ausbruch eines Gewitters in die Scheune, während seine eigene auf dem Felde liegen blieb. Es kam vor, daß er auf der Fron bleiben mußte, auch wenn daheim sein Haus in Flammen stand. Land bau. Jagd. Der Bauer durfte seine Güter nicht nach Gutdünken bestellen. Der Acker mußte Acker bleiben, weil sonst der Zehnten für die Geistlichkeit verloren gegangen wäre. Besonders drückend waren für ihn die Jagdgesetze. Die adeligen Herren 189 waren leidenschaftliche Jäger, die das Wild sorgsam hegten und pflegten. In Scharen durchstreiften Hasen, Rehe, Hirsche und Wildschweine die Fluren, zerstampften die Saaten, wühlten die Erde auf, fraßen das Gemüse und das Getreide. Mehr als einmal war Hungersnot die Folge. Aber wehe dem Bauer, wenn er sich dieser Plage mit bewaffneter Hand oder durch das Stellen von Fallen zu erwehren suchte. Im Gefängnis, auf der Galeere, ja selbst mit dem Tode büßte er sein Verbrechen. Nicht einmal einzäunen durfte er sein Feld, um es gegen den Wildschaden zu schützen. Nur dem Adel war erlaubt, Tauben zu halten.^ Am Taubenschlag erkannte man den Herrenhof. Der Bauer mußte es dulden, daß 200—300 Tauben im Garten und auf dem Saatfelde Nahrung suchten. Wollte er den Lohn seiner Arbeit sichern, blieb ihm nichts übrig, als mit seinen Nachbarn die Fluren zu bewachen und nächtelang die andrängenden Tiere mit Geschrei, Händeklatschen und Trommelwirbel zu verscheuchen. Was Wunder, wenn der Bauer seiner nutzlosen Arbeit müde wurde und nur soviel bebaute, als absolut nötig war. Große Flächen, besonders der Herrengüter, verödeten und deckten sich allmählich mit Unkraut und Gestrüpp; der vierte Teil des Bodens war unbebaut. Not und Elend. Unter solchen Umständen befand sich das Volk in erbarmungswürdiger Lage. Die Häuser waren äußerst ärmlich. Der Zimmerboden bestand aus festgetretener Erde, die Wände waren nackt, ohne Bewurf, die Dächer verwahrlost, mit hängenden Sparren und voller Löcher. Viele hatten überhaupt keine Öffnung als die Türe. In Notzeiten verbrannten die Leute im Winter ihre Stühle und Tische, oft ihre Bettstellen. In ganz guten Jahren reichte der Getreidevorrat kümmerlich bis zur nächsten Ernte aus. Wenn aber das Wild etwas größeren Schaden anrichtete und der Winter lange dauerte, so fehlte es an Brot. Der Hunger trieb den Bauern, das unreife Korn zu schneiden; es wurde im Ofen getrocknet und verbacken. Kamen Frost und Hagelschläge hinzu, so aß der arme Mann Brot aus billigem,, verdorbenem Mehl, das hart, schwarz und von erdigem Geschmack und so ungesund war, daß es schwere Hals- und Magenentzündungen verursachte. Der Taglöhner stillte dann seinen Hunger mit gesottenen Nesseln, mit Baumrinde und Wurzeln, die er unter dem Schnee hervorsuchte. Die Arbeit und die Not gruben früh tiefe Furchen in das Antlitz der Frauen und Männer, so daß sie vorzeitig alterten. Ein reisender Engländer traf eine auf dem Felde arbeitende Mutter, die er auf 60 Jahre schätzte, ob- 140 wohl sie erst 28 zählte. Die Sterblichkeit war außerordentlich groß. Der Hunger würgte die Menschen massenhaft dahin. Während man an einem Hoffeste in Versailles in einer einzigen Feuergarbe 30,000 Fr. verpuffte, streckte der Tod in zwei kleinen Provinzen Südfrankreichs 40,000 Menschen auf die Bahre. Bettler und Landstreicher. Ganze Dörfer begaben sich auf den Bettel. Große, herumschweifende Bettlerbanden machten das Land unsicher. Die Regierung veranstaltete förmliche Jagden, um sie mit Flinten und Bajonetten zusammenzutreiben und in die Gefängnisse zu sperren; aber an vielen Orten genügten diese nicht mehr. Die Bauern, müde der trostlosen Arbeit, die ihnen nichts als den Hunger eintrug, verließen ihre Hütten und zogen als Wilderer in die großen Forste, wo sie aus dem herrschaftlichen Gewilde besser leben konnten. Sie durchstreiften als Räuber das Land, indem sie den bleibenden Bauern die Ernte zerstörten und ihm das Wenige nahmen, das ihm noch geblieben war. Die Folge war, daß Teuerung und Hunger noch weiter überhandnahmen und neue Bauern von den Gütern trieben. So füllte sich allmählich das Land mit Hunderttausenden von verzweifelten Existenzen. II. Die Aufklärung und ihre Folgen. 1. Rousseau und Voltaire. (Zirka 1750.) Vielen gelehrten Leuten und Menschenfreunden ging das Elend des Volkes zu Herzen und ungeachtet aller Verfolgungen gingen sie daran, Sturm zu laufen gegen die falschen Lehren des „Gottesgnadentums“. Obgleich ihre Schriften verboten und durch den Henker verbrannt wurden, fanden sie doch die größte Verbreitung. Die bekanntesten und berühmtesten dieser Aufklärer waren Voltaire und Rousseau aus Genf. Bei beiden machte sich der Einfluß Englands geltend, wo das Volk sich an den Staatsgeschäften beteiligen konnte und deshalb ein großes Maß von Freiheit genoß. Hier konnte das freie Denken, unbeengt von Verfolgungen durch Staat und Kirche, einen gewaltigen Aufschwung nehmen. Während Voltaire vor allem die kirchliche und staatliche Unduldsamkeit und Verfolgungssucht geißelte und mit ätzendem Spotte übergoß, machten Rousseaus Lehren vorn Staat ungeheures Aufsehen. Er vertrat folgende Ansichten: Einst waren alle Menschen gleich, und es gab noch keine Reichen und keine Armen. Das Land: Flur und Wald, See und Strom gehörte allen, alle konnten darauf finden, was das Leben erforderte. 141 Dann nahmen die Starken und Listigen irgend ein Bodenstück als Eigentum an sich und schlössen die übrigen von seiner Benutzung aus. Von nun an strebte ein jeder nach so viel Eigentum, als er irgend erwerben konnte. Es bildete sich der Unterschied zwischen reich und arm. Der Arme, der die Freiheit des Erwerbes verloren hatte, mußte, um seinen und der Seinigen Lebensunterhalt zu erwerben, in den Dienst des Reichen treten. Es kam der Unterschied zwischen Herr und Knecht; die Folgen waren die Leibeigenschaft und die Sklaverei. Rousseau lehrte weiter: Die einst gleichberechtigten Menschen schlössen unter sich einen Vertrag, als Volksfamilie zu leben. Wo aber eine größere Zahl von Menschen beisammen lebt, muß sich jeder gewissen Anordnungen und Vorschriften fügen. Das was alle wollten, sollte geschehen und Gültigkeit haben, also Gesetz sein. Das Volk wurde so zum Staat. Die Gesetze enthalten die Vorschriften, welche das Volk zu seinem Wohle fordert; darum macht das Volk die Gesetze; es ist der Gesetzgeber. Es wählt vertrauenswürdige Männer, die darüber wachen, daß die Gesetze gehalten und ausgeführt werden. Diese Männer bilden die Regierung; sie ist gleichsam der Diener des Staates, das Volk aber der Meister (Souverän). Damit die Regierung imstande sei, ihre Aufgabe zu erfüllen, gibt ihr das Volk die nötigen Mittel; es liefert ihr Steuern; sich selbst stellt es der Regierung als Landesheer zur Verfügung, wenn Feinde den Staat bedrohen. Mißbraucht aber die Regierung diese Machtmittel, oder will sie gar ihren eigenen Willen dem ganzen Volke aufzwingen, dann mißbraucht der Diener das Vertrauen des Meisters, und er wird entlassen. Die Regierung muß daher in ihrem Tun und Handeln durch das Volk überwacht und nötigenfalls entsetzt werden. Als beste Staatsform betrachtete also Rousseau die Republik, in der das Volk allein maßgebend sein sollte (Demokratische Republik). 2. Der aufgeklärte Despotismus. Die Schriften der Aufklärer verfehlten ihre Wirkung sogar Fürsten gegenüber nicht. Eine Gruppe von Gelehrten, worunter auch Voltaire, betrachteten die aufgeklärte Selbstherrschaft als die beste Staatsform. Dem selbstsüchtigen Ansprüche Ludwigs XIV.: „Der Staat bin ich“, stellte König Friedrich II. (der Große) von Preußen den Wahlspruch entgegen: „Der König ist der erste Diener des Volkes.“ Wenn die alte, unumschränkte Monarchie nur Rechte des Fürsten kannte, so stellte er dadurch die Pflicht des Fürsten, für das Wohl des 142 Volkes zu sorgen, in den Vordergrund. Friedrich II. pflegte deshalb an seinem Hofe eine große Sparsamkeit. In religiösen Dingen war er durchaus duldsam. So gewährte er den Verfolgten der verschiedenen religiösen Bekenntnisse Aufnahme in seinem Lande. „In meinem Staate“ sagte er, „hat jeder das Recht, nach eigener Fasson , selig zu werden.“ Der Rechtsgang wurde einfacher und rascher, die Folter abgeschafft. Er förderte den Schulunterricht. Große Ent- sumpfungen dienten der Landwirtschaft, auch unterstützte er den Ackerbau. Der König stand mit französischen Gelehrten im Verkehr; Voltaire lebte einige Zeit an seinem Hofe. Aber Zwang und Druck waren dem „aufgeklärten“ Herrscher nicht fremd. Er regierte in seiner Weise so unumschränkt wie die französischen Könige, nach dem Grundsatz: „Alles für das Volk, nichts durch das Volk.“ Wo seine Erkenntnis nicht ausreichte, war sein Wirken nichts weniger als aufgeklärt. Das Volk litt unter großem Steuerdruck; unpraktische Gesetze verhinderten eine Blüte von Handel und Gewerbe. Die Lehrstellen galten als Versorgung für ausgediente Unteroffiziere und Soldaten. Den Adel begünstigte er auf jede Weise, die Leibeigenschaft ließ er bestehen. So war er im ganzen „mehr gefürchtet als geliebt.“ — Auch der hochbegabte Kaiser Joseph II., ein Habsburger, wirkte in seinen Erblanden als aufgeklärter Fürst. Er erließ ein religiöses Duldungsgesetz, hob die Klöster, die nicht irgend eine nützliche Tätigkeit ausübten, auf und gründete Schulen und wohltätige Anstalten. Er schaffte die Leibeigenschaft ab und beseitigte die Steuervorrechte des Adels. Er gewährte Preßfreiheit und verbot die Todesstrafe. — Aber auch er war durchaus selbstherrlich und lehnte jeden Rat ab. Seine oft wenig überlegten Maßregeln fanden erbitterten Widerstand, und vor seinem Tode mußte er die meisten Änderungen widerrufen. Der „aufgeklärte Despotismus“, der jede Mitwirkung der Staatsglieder ausschloß, konnte unmöglich eine dauernde Wohlfahrt des Volkes herbeiführen. 3. Der nordamerikanische Freiheitskrieg. Die Erklärung der Menschenrechte. Die Ideen Rousseaus fielen auf fruchtbaren Boden. 1776 rissen sich die englischen Kolonien in Nordamerika mit folgender Erklärung, die ganz auf Rousseaus Lehren aufbaute, vorn Mutterlande los: „Wir erachten diese Wahrheit für unbestritten, daß alle Menschen gleich erschaffen sind; daß ihnen ihr Schöpfer gewisse angeborene und unveräußerliche Rechte verliehen hat, darunter: 143 Leben, Freiheit und Streben nach Glück; um diese Rechte zu sichern, sind unter den Menschen Regierungen eingesetzt, welche ihre gerechte Macht von dem Willen der Regierten ableiten; daß, so oft irgend eine Regierungsform jene Zwecke zerstört, es das Recht des Volkes ist, diese Regierung zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen“ etc. etc. Die Neuenglandstaaten. Unter den dreizehn Kolonien waren die sechs „Neuenglandstaaten“ am freiesten. Religiöse und staatliche Verfolgungen hatten ihre Gründer einst aus der Heimat getrieben, und nun errichteten sie Staatswesen, die ihnen ein glückliches Leben ermöglichten. Da war keine erbliche Fürstengewalt, kein Adel; alle waren vor den Gesetzen gleich, und selbstgewählte Behörden überwachten deren Handhabung. Die wirtschaftliche Abhängigkeit. In den Erwerbsverhältnissen waren alle Kolonien unfrei. Auf Betreiben der englischen Kau Heute und Fabrikanten wurde ihnen aller Handel mit fremden Völkern und unter sich selber und jede Industrie, die gröbsten Gewerbe ausgenommen, verboten. Alle Kleider, Möbel und Geräte, bis auf die Birkenbesen hinab, mußten aus England bezogen werden. Der Steuerstreit. Nun sollten die Kolonien, entgegen der bisherigen Gepflogenheit, auch noch besteuert werden. — Im Missi- sippibecken und in Kanada hatten sich die Franzosen niedergelassen und versucht, die englischen Kolonien vorn Westen abzuschnüren. In einem langen Krieg (um 1760) besiegten die Engländer ihre Nebenbuhler und nahmen ihnen Kanada weg. Zur Deckung der gewaltigen Kriegskosten sollten auch die Nordamerikaner herangezogen werden, indem man ihnen eine Stempelsteuer, und als diese verweigert wurde, eine Teesteuer, auferlegte. Hiebei fragte man die Kolonisten keineswegs um ihre Einwilligung, und dies weckte den Trotz. Englische Waren wurden gemieden, man trank Tee aus Himbeerblättern, und im Hafen von Boston warfen Jünglinge, die als Indianer verkleidet waren, drei Schiffsladungen Tee ins Meer (1774). Die Losreißung. (1783.) Die Stadt wurde von englischen Truppen besetzt, und der Krieg begann. Die Abgeordneten der Kolonien schlössen sich in Philadelphia zusammen und erließen am 4. Juli 1776 die eingangs erwähnte Unabhängigkeitserklärung. Unter der ausgezeichneten Führung Georg Washingtons konnten sich die Amerikaner gegenüber den besser bewaffneten und besser geübten Feinden halten. Während die deutschen Fürsten ihre Landes- 144 kinder an die Unterdrücker als Soldaten verkauften, gelang es Benjamin Franklin, die Hilfe Frankreichs zu gewinnen. Nach jahrelangem Kriege mußte England 1783 die Unabhängigkeit der 13 Kolonien zugestehen, die sich nun zu einem republikanischen Bundesstaate zusammenschlössen. So sahen die Aufklärer ihre Ideale an einem Orte verwirklicht; warum sollte deren Durchführung nicht auch in Frankreich möglich sein? III. Die französische Revolution. 1. Die französischen Herrscher. Ludwig XV., der Nachfolger Ludwigs XIV., regierte länger als ein halbes Jahrhundert. Er war ein Verschwender, der Frankreich völlig ruinierte. Durch seine Sittenlosigkeit bedeckte er sich mit Schande und machte das unumschränkte Königtum verächtlich. Seine Kriege brachten nur Niederlagen (Verlust von Kanada); der alte Waffenruhm ging verloren. Die Ungerechtigkeiten überstiegen alles Maß. Durch erkaufte oder geschenkte Verhaftsbefehle konnte man irgend eine Ferson ohne Gerichtsurteil in der Bastille verschwinden lassen. Die Unzufriedenen, die gegen die unmenschlichen Steuern revoltierten, wurden zusammengeschossen. — Als der Elende 1774 starb, lasteten auf dem Lande vier Milliarden Schulden. Ludwig XVI., sein 20 jähriger Nachfolger, war persönlich achtenswert und hatte den innigsten Wunsch, sein Volk glücklich zu machen; aber es fehlte ihm die nötige Willenskraft. Seine Gemahlin, die schöne Marie Antoinette, eine österreichische Prinzessin, liebte den Glanz und das Vergnügen. Die Minister, welche die unteren Stände entlasten, die oberen aber belasten wollten, fielen den vereinigten Anstrengungen der Königin und der Bevorrechteten zum Opfer und wurden entlassen. Die Schulden wuchsen in zehn Jahren wieder um mehr als eine Milliarde; sie nahmen zu wie eine Lawine im Abwärtsrollen. 2. Die beginnende Gesetzlosigkeit. In den Jahren 1788 und 1789 herrschte im ganzen Reiche eine schreckliche Hungersnot. Dürre und Hagelschlag hatten im Sommer 1788 zwei Drittelte der gesamten Ernte zu Grunde gerichtet. Dazu kam, daß die eisige Kälte des folgenden Winters, des kältesten seit 80 Jahren, die neue Aussaat vernichtete. Eine allgemeine Arbeitslosigkeit lastete auf den Städten. Mit dem besten Willen konnten die Steuern nicht mehr entrichtet werden. Verzweiflung ergriff das unglückliche Volk. 145 Der Hunger gab den unterstreichenden Banden neuen Zulauf. Die Schmuggler, die Vaganten, das Gesindel plünderten die Bauernhöfe, die Kornspeicher. Man drang in die Bäckereien, auf die Märkte, und jeder nahm mit oder ohne Bezahlung, soviel er konnte. Die Händler wurden mit Steinen, Stöcken und Messern gezwungen, billiger zu verkaufen. Die Bauern verweigerten die Zehnten, die herrschaftlichen Abgaben und die Staatssteuern. Hunderte von Aufständen verletzten die gesetzliche Ordnung. Die Kopflosigkeit der Behörden vergrößerte das Unheil. Alles ging aus Rand und Band. 3. Die Berufung der Reichsstände. Die unerträgliche Geldnot zwang den König, bei den Reichsständen Hilfe zu suchen. Es waren dies die Vertreter der drei Stände, welche in früheren Zeiten bei wichtigen Reichsgeschäften befragt worden waren. Seit 1614 hatte sie das unumschränkte Königtum nicht mehr besammelt. Den Abgeordneten sollten nach alter Sitte in Gablers die Klagen und Wünsche der Wähler mitgegeben werden. Während Geistlichkeit und Adel je 300 Vertreter erhielten, durfte der dritte Stand 600 wählen. Zum ersten Male konnte sich das geplagte Volk frei aussprechen, und eine Flut von Wünschen wurde geäußert, die alle auf eine Verbesserung seiner Lage abzielten: Abschaffung der Lasten, gleiche Verteilung der Steuern etc. etc. Am 5. Mai 1789 wurden in Versailles die Reichsstände unter dem Zulauf einer jubelnden, ungeheuren Menschenmenge feierlich eröffnet. Aber gleich beim Beginn der Arbeit brach unter ihnen Streit aus. Adel und Geistlichkeit verlangten, daß die drei Stände getrennt tagen sollten; die Vertreter des dritten Standes dagegen forderten die Vereinigung aller Stände zu gemeinsamer Beratung und Abstimmung, da sie sonst die Vorteile ihrer doppelten Mitgliederzahl verloren hätten. Wochenlang stritt man her und hin. 4. Der dritte Stand erklärt sich als Nationalversammlung', Nun erklärten sich die Vertreter des dritten Standes als Vertreter der ganzen Nation, als Nationalversammlung. Als auf königlichen Befehl ihr Sitzungssaal geschlossen wurde, traten sie im benachbarten Ballhause zusammen und schwuren unter dem jubelnden Beifall der zusammengeströmten Volksmenge, nicht auseinander zu gehen, bis sie Frankreich eine neue Ordnung und Verfassung gegeben hätten. Die niedere Geistlichkeit schloß sich der Nationalversammlung an. Da versammelte der König auf Betreiben des bestürzten Hofes alle Abgeordneten. Mit scharfen Worten erklärte Ueschichtslehrmittel 10 146 er die Beschlüsse des dritten Standes für null und nichtig und befahl die Räumung des Saales und die Beratung nach Ständen. Dann entfernte er sich. In dumpfem Schweigen verharrten die Anhänger der Nationalversammlung im truppenumstellten Saale. Als der Zere- monienmeister des Königs sie an dessen Befehle erinnerte, fertigte ihn ihr bester Redner Mirabeau mit den berühmten Worten ab: „Wenn Sie beauftragt sind, uns von hier fortzuschaffen, so lassen Sie sich Befehle zur Anwendung von Gewalt geben; denn nur vor der Gewalt der Bajonette werden wir vorn Platze weichen!“. — Diese Festigkeit machte Eindruck. Der König wagte nicht, Gewalt anzuwenden, und weitere Teile der zwei ersten Stände schlössen sich der Versammlung an. Zuletzt befahl der König den übrigen, ihr ebenfalls beizutreten. Die schwankende Haltung schädigte das Ansehen des Königs. Ein rechtzeitiger, entgegenkommender Entschluß hätte Ludwig XVI. die Herzen der Volksvertreter im Sturm erobert; jetzt betrachtete man ihn als eine unterlegene, feindliche Macht. 5. Die Einnahme der Bastille. (14. Juli 1789). Der König Waiden schweren Zeiten nicht gewachsen. Er lieh sein Ohr den Einflüsterungen der vornehmen Umgebung. Der Minister Necker, der die Berufung der Reichsstände angeraten hatte und deshalb des Volkes Liebling war, wurde entlassen. Eine wilde Erregung herrschte in der Stadt Paris, die immer mehr das Haupt der Revolution wurde. Sie war mit einer arbeitslosen, hungernden Menge gefüllt. Die schlimmsten Elemente des ganzes Landes waren hieher geströmt. Bereits schlössen sich die französischen Garden den Unzufriedenen an. Kühne Männer, wie Camille Desmoulins, forderten offen zum Umsturz und zu Gewalttaten auf. Zeughäuser und Waffenläden wurden geleert. Dann marschierte das Volk gegen die Bastille, die verhaßte Zwingburg. Die Festung wurde nach ungenügender Verteidigung übergeben, die Besatzung zum Teil niedergemacht. In schrecklichem Triumphzuge trug man auf Piken die Köpfe der Getöteten durch die Straßen der Stadt. Man veröffentlichte ferner eine Liste von Personen, deren Tod man forderte. Obenan stand der Name des verhaßten jüngeren Bruders des Königs. Die Bedrohten flohen ins Ausland, und damit begann die große Auswanderung (Emigration) des Adels. 6. Der Bauernaufstand. Dem Beispiel der Hauptstadt folgten die Provinzen. War nicht jedes Schloß und jedes Kloster eine kleine Bastille? Eine allgemeine Zerstörungswut und ein furchtbarer Haß 147 gegen alles, was bisher bestanden und Geltung gehabt hatte, bemächtigten sich des Volkes. Es drang in die Wälder, die es abschlug und niederbrannte; massenhaft wurde das Wild zusammen- geknallt. Dann zogen die mit Sensen und Sicheln, alten Gewehren und Pistolen bewaffneten Bürgerwehren gegen die Schlösser. Sie verlangten von den Herren die Urkunden und Zinsbücher, um sie mit dem Schloß in Flammen aufgehen zu lassen. Unter grausamen Qualen wurden die Besitzer getötet, wenn sie bewaffneten Widerstand leisteten. Unter diesen Unglücklichen befanden sich selbst solche, die in Zeiten der Teuerung und Not’ das Elend ihrer Bauern nach Kräften gemildert hatten. Nur selten konnte einer durch schriftlichen Verzicht auf seine Güter und alle Vorrechte das Leben retten. Das Volk setzte sich in den Besitz der Äcker und Wiesen, die unter die Dorfgenossen verteilt wurden. In den Städten sah es nicht besser aus. Jede Stadt wollte ihren Bastillesturm haben. In Scharen flüchteten die Adeligen bei Nacht auf einsamen Pfaden nach Spanien, England, Deutschland, Italien und der Schweiz, wo die Mietpreise für die Wohnungen plötzlich auf das Doppelte und Dreifache stiegen. 7. Das neue Frankreich. Abschaffung der Vorrechte. Die Nationalversammlung kleidete die Änderungen, die sich ohne ihr Zutun vollzogen hatten, in rechtliche Form. Sie beseitigte die drückendsten Abgaben, die auf der Bauersame lasteten: Gebühren der Leibeigenschaft, Frondienst, Wegzölle etc. und hob alle Vorrechte auf. Der Adel und die Klöster wurden abgeschafft; die Geistlichen wurden Beamte des Staates; es fielen auch Zunftzwang, Jagdgesetze und Ämterkauf. Was im Laufe von Jahrhunderten sorgsam aufgebaut worden war, stürzte in einer Nacht, am 4. August 1789, zusammen. Die Neuerungen: Frankreich wurde neu eingeteilt. Die alten Provinzen mit ihren verschiedenen Rechten (z. B. Burgund, Champagne, Normandie, Provence etc.), aus denen der Staat im Laufe der Zeit entstanden war, verschwanden, und an ihre Stelle traten 83 ungefähr gleich große Departements, die nach Flüssen oder Gebirgen benannt wurden. Alle zerfielen in Distrikte, diese in Kantone und diese endlich in Gemeinden, deren es zirka 44,000 hatte. Die Verwaltung aller Departemente war gleich geordnet. Die gesamte Staatsordnung sollte auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (liberte, egalite, fraternite) beruhen. Die Bürger erhielten Glaubens-, Gewerbe- und Vereinsfreiheit; sie wählten ihre 148 Behörden, auch die Geistlichen, sogar die Bischöfe selber. Neben dem stehenden Heer gab es eine Bürgerwehr, die Nationalgarde. Die Nationalversammlung sollte über Gesetze, Steuern, Krieg und Frieden beschließen, so daß sich Volk und König in die Leitung des Staates teilten: Frankreich war nun eine konstitutionelle, d. h. durch eine Verfassung beschränkte Monarchie. Die Einziehung der Kirchengüter. Der Staat besoldete jetzt die Geistlichen. Dafür nahm er den reichen Besitz der Kirche zu seinen Handen, um damit einen Teil der Schulden zu decken. Die Güter wurden an die Bauern verkauft. Der Großgrundbesitz war nun zerstückelt; es bildete sich ein freies Kleinbauern- tum. Mit dieser Änderung waren die meisten Geistlichen nicht einverstanden; sie wurden zu Gegnern der Revolution. Das Verbrüderungsfest. (14. Juli 1790.) Am Jahrestag des Bastillesturms feierte man in Paris ein rauschendes Freuden- und Verbrüderungsfest, an dem 400,000 Menschen, darunter 100,000 Abgeordnete aus den Departementen, die Armee, die Nationalversammlung und der König, den Eid der Treue auf die neue Verfassung ablegten. Einzig die große Mehrheit der Geistlichkeit verweigerte ihn. 8. Der Sturz des Königtums. (10. August 1792.) Die Parteien. Anfänglich gab es drei Richtungen innerhalb der Nationalversammlung. Der größere Teil der Bevorrechteten war gegen jede Neuerung. Infolge der Bedrohung und Beschimpfung von Seite des Pöbels und der immer schärfer hervortretenden Revolution nahmen fast alle den Austritt, so daß diese Partei bei der Erneuerung der Nationalversammlung ganz verschwand. Die Mehrheit der Abgeordneten war Freund der verfassungsmäßigen Monarchie; sie zählte aber viele Zaghafte und Unentschlossene, die dem revolutionären Volke gegenüber, das immer die Galerien besetzt hielt und jeden Vertreter bedrohte, der nicht in seinem Sinne sprach und stimmte, zu wenig Festigkeit zeigten. Eine dritte, kleinere Partei wollte das Königtum abschaffen und durch die Republik ersetzen; sie war die Wortführerin der revolutionären Hauptstadt. Ihre Mitglieder vereinigten sich zu einem Klub, der später nach seinem Versammlungsorte, einem ehemaligen Jakobinerkloster, der Jakobinerklub genannt wurde. Auch Nichtabgeordnete hatten Zutritt. Bald führte der Advokat Robespierre darin das große Wort. In den Provinzen entstanden ähnliche Vereinigungen der 149 Revolutionäre, die mit dem Muttervereine in Paris in enger Fühlung standen. Die Überführung des Königs nach Paris. Die Hauptstadt wollte König und Nationalversammlung in ihren Mauern haben, um sie überwachen und noch besser nach ihrem Willen lenken zu können. Ein vieltausendköpfiger Haufen von Weibern und Männern zog bewaffnet nach Versailles und zwang den König, nach Paris überzusiedeln. Wenige Tage nachher folgte die Nationalversammlung. Die Flucht des Königs. Der König wurde in den Tuilerien, seinem Schlosse, wie ein Gefangener behandelt und bewacht. Dieser unwürdigen Lage suchte er sich durch die Flucht zu entziehen. Vor der Abreise widerrief er in einem Schreiben alle seit 1789 erlassenen Änderungen. In der Nähe der Grenze wurde er aber aufgehalten und inmitten einer großen Truppen macht nach Paris zurückgeführt. Jedes Vertrauen in seine Aufrichtigkeit war nun dahin. Der Tuileriensturm. (10. August 1792.) Die Jakobiner arbeiteten auf die Absetzung des Königs hin. — Im April des Jahres 1792 hatte Frankreich dem Deutschen Kaiser den Krieg erklärt, da es durch einen solchen eine Befestigung der Freiheit erwartete. Aber er verlief anfangs sehr ungünstig, und schon rückten die Österreicher und Preußen über die französische Grenze. Ihr Sieg hätte wieder die alten Zustände gebracht. Eine ungeheure Erregung bemächtigte sich des Landes. Das Volk beschuldigte den König des geheimen Einverständnisses mit den Feinden des Vaterlandes. Am 10. August 1792 rückten die Volkshaufen zum Sturm gegen das Königsschloß vor, das von den Schweizergarden, die ihrem Fahneneide treu blieben, tapfer und erfolgreich verteidigt wurde. Aber jetzt fehlte dem König jede Kraft zu einem energischen Handeln. Um Blutvergießen zu verhindern, begab er sich mit seiner Familie in den Schutz der Volksvertretung und schickte von dort aus den Schweizern den schriftlichen Befehl, das Feuer einzustellen. Diese gehorchten als gute Soldaten, obgleich sie wußten, daß dies ihren Untergang bedeutete. Sie wurden auch wirklich größtenteils von der Menge niedergemacht. — Unter dem Toben der wütenden Volkshaufen enthob die Volksvertretung den König seines Amtes. Er wurde durch die Pariser in einem finsteren Staatsgebäude gefangen gehalten. Revolutionäre Führer, unter ihnen Danton, der Haupturheber des Sturmes, übernahmen die Regierung. Eine neuzuwählende Versammlung, der Konvent, sollte den Staat umgestalten. 150 Die Septembermorde. Während der Wahlzeit ließ Danton bei nächtlichen Hausdurchsuchungen eine große Anzahl Gegner verhaften. Sie wurden in den ersten Tagen des Septembers hingemetzelt. Mehr als tausend Männer, Frauen und Kinder fielen unter den Streichen gedungener Mörder. Die erschreckte, eingeschüchterte Hauptstadt wählte nur Jakobiner in den Konvent. 9. Die ersten Zeiten der Republik. Der Tod des Königs. Am 21. September 1792 trat der Konvent zusammen. Sofort erklärte er Frankreich als Republik. Auf das Betreiben der Jakobiner wurde der König zum Tode verurteilt. So schwach er sich der revolutionären Bewegung gegenüber gezeigt hatte, so unerschrocken bestieg Ludwig XVI. das Blutgerüst. Auch die Königin wurde später hingerichtet. Die Gesetzgebung. Der Konvent zeigte das Bestreben, mit allem aufzuräumen, was an die alte Zeit erinnerte. Eine Neuerung folgte der andern. Viele neue Gesetze und Einrichtungen konnten sich nicht lange halten und verschwanden bald wieder; andere dagegen erwiesen sich als praktisch und haben noch heute Geltung. Man führte einen neuen Kalender ein; das Jahr I der neuen Zeitrechnung begann mit dem 22. September 1792; die Monate erhielten neue Namen, die meist nach Naturerscheinungen der verschiedenen Jahreszeiten ausgewählt wurden: z. B. Nebel-, Reif-, Schnee-, Regen-, Wind-, Keim-, Wiesenmonat (Brumaire, Fri- maire, Nivose, Pluviose, Ventose, Germinal, Prairial). Die Woche hatte zehn Tage, deren letzter als Fest- und Feiertag bestimmt wurde. Im ganzen Lande führte man das metrische Maß- und Gewichtsystem durch. Die bisher üblichen Anredeformen „Monsieur“ und „Madame“ wurden durch die Ausdrücke „Citoyen“ und „Citoyenne“ (Bürger, Bürgerin) ersetzt. Die Führung der Register über Heiraten, Geburten und Todesfälle gingen von der Geistlichkeit auf den Staat über. Während einiger Zeit war die christliche Religion abgeschafft. Die Schreckensherrschaft. Die Jakobiner wußten sich völlig der Gewalt zu bemächtigen. Sie besetzten die höchsten Staatsstellen und entledigten sich aller Gegner, die als Feinde des Vaterlandes das Schafott besteigen mußten. Wer durch Worte, Taten oder Herkunft der Freiheit gefährlich schien, wurde angeklagt und verurteilt. Durch „den Schrecken“ wollten sie ihre Widersacher bändigen. Gegen die Städte und Provinzen, die sich der Tyrannei nicht fügten, marschierten die Revolutionsheere. Lyon, Marseille, Bordeaux, die auf- ständische Vendee wurden unter furchtbaren Greueln bestraft. Männer, Frauen und Kinder wurden zu Hunderten zusammengeschossen oder ebenso massenhaft ertränkt. Die rebellischen Städte sollten vorn Erdboden verschwinden. In Lyon warfen 14,000 Arbeiter ganze Häuserreihen nieder; auf den Trümmern der Stadt sollte eine Säule errichtet werden mit der Inschrift: „Lyon führte Krieg mit der Freiheit, Lyon ist nicht mehr“. „Der Schrecken“ artete in Wahnsinn aus. Die Notlage. Der Zustand des Landes war trostlos. Aus Mangel an Metallgeld hatte die Regierung Banknoten ausgegeben, für welchen das Staatsvermögen haftete; aber sie verloren ihren Wert, weil das Zutrauen zum Staate fehlte. Der Handel stockte. Die Bauern arbeiteten nicht mehr, da sie alles Getreide und Futter an das Heer abzuliefern hatten. Die Lebensmittelpreise stiegen auf eine unerhörte Höhe. Das Brot war „seltener als Diamanten“. Es wurde den einzelnen Personen durch die Behörden zugemessen, zuerst ein halbes Pfund, dann ein Viertelpfund, dann noch weniger auf den Tag. Scharenweise flohen die Leute aus dem Lande. Ganze Gegenden waren unbewohnt. In einer der ersten Vorstädte von Paris überwucherte das Gras die öden Straßen. Das Ende „des Schreckens“. „Der Schrecken“ flößte zuletzt selbst einem Teil der jakobinischen Führer Grauen ein. Camille Desmoulins und Danton forderten Mäßigung. Robespierre, den Neid auf Danton und Herrschsucht verzehrten, ließ die beiden Männer und ihre Anhänger als Verräter an der Nation hinrichten. Von nun an fühlte sich niemand mehr seines Lebens sicher. Als Robespierre noch andere Mitglieder des Konvents zu beseitigen suchte, kamen ihm diese zuvor und veranlaßten seine Verhaftung. Ohne Richterspruch, ohne Verteidigung verfielen er und seine Anhänger dem Fallbeil (Guillotine); das Schicksal, das sie Unzähligen bereitet, hatte auch sie ereilt. — Das Land wachte wie aus einem wüsten Traume auf. Die Gefängnisse öffneten sich und Hunderttausende erhielten die Freiheit. Die Jakobinerklubs wurden geschlossen. Trotz des Sturzes Robespierres blieb der Konvent der Republik treu. Aber in der Einsicht, daß eine Versammlung allzuleicht durch hervorragende Persönlichkeiten zu verderblichen Beschlüssen und Handlungen verleitet werden könnte, errichtete er zwei getrennte Versammlungen der Volksvertreter, die in Zukunft die ^Gesetze des Landes geben sollten. An Stelle des Königs führte ein Direktorium von fünf Männern die Gesetze aus. 152 ( 10. Die Bedeutung der Revolution. Trotz all des Leidens und Schreckens, das die Revolution mit sich brachte, gereichte sie Frankreich zum Segen. In dankbarer Erinnerung daran feiern die Franzosen heute noch den 14. Juli, den Tag des Bastillesturms, als größtes Nationalfest. Erst durch die Revolution wurde das Land geeinigt; sie prägte dem Volke den Gedanken der Republik tief in die Seele; sie errang ihm das Recht, an den Staatsgeschäften teilzunehmen. Ihr Blutstrom spülte die Unterschiede der Stände weg, setzte die bürgerliche Gleichheit an deren Stelle und brachte für das Verhältnis zwischen Bürger und Staat den wichtigen Grundsatz zu Ehren: „Bei gleichen Pflichten gleiche Rechte“. Sie verschaffte die persönliche Freiheit in Berufswahl, Handel, Gewerbe, Niederlassung; auch schlugen Glaubensfreiheit und Preßfreiheit in ihrem Boden starke Wurzeln. — Bald sollten französische Waffen diese Ideen in die übrigen Länder Europas tragen. IV. Die junge Republik im Kampfe mit dem alten Europa. 1. Das neue französische Heer. Noch immer lag Frankreich im Krieg mit Österreich und Preußen. Mit diesen beiden Mächten verbanden sich in kurzer Zeit fast alle Fürsten Europas, aus Furcht, daß ihre Völker von der Revolution angesteckt werden könnten. Dies Bündnis heißt die erste Koalition. Von Belgien, vorn Rhein, von Italien und Spanien her marschierten die verbündeten Heere gegen die junge Republik, der es in dieser schwierigen Lage am Notwendigsten, an einem kriegstüchtigen Heere mangelte. Durch die Emigration hatte die Armee ihre Führer, durch die Revolution viele Soldaten verloren; Unordnung und Zuchtlosigkeit hatten darin überhand genommen. Schwere Niederlagen waren die Folgen dieser Zustände. Da führte der Kriegsminister Carnot die allgemeine Wehrpflicht ein: Die gesamte waffenfähige Jugend von 18 bis 25 Jahren wurde unter die Waffen gerufen. In opferfreudiger Begeisterung brachte das Volk Gut und Blut dar zur Rettung des Vaterlandes. Jünglinge und Männer eilten unter den Klängen der Marseillaise todesmutig dem Feind entgegen, um die Rechte und Freiheiten, welche die Revolution ihnen gebracht, zu verteidigen. Das Söldnerheer verwandelte sich in ein Volksheer, wo jedem tapfern und tüchtigen Soldaten der Weg zu den höchsten Militärstellen offen stand. Willig und vertrauensvoll folgten sie Führern, die vor Monaten noch als einfache Soldaten in ihren Reihen 153 gekämpft hatten. — Nun änderte sich die Lage rasch. Die Spanier wurden über die Pyrenäen zurückgedrängt, Loche schlug die Preußen über den Rhein zurück, Jourdan besiegte die Österreicher in Belgien und Pichegru führte seine in Lumpen gehüllte Soldaten über die eisbedeckten Ströme nach Holland. Belgien wurde zu Frankreich geschlagen und Holland nach französischem Muster in eine Republik verwandelt. — Preußen und Spanien schlössen 1795 mit Frankreich Frieden, nur England und Österreich verharrten noch im Kriege. 2. Der Feldzug in Italien (1796—97). An der italienischen Grenze aber waren die Bemühungen der Franzosen erfolglos. Das änderte sich, als hier Napoleon Bonaparte (geb. 1769 zu Ajaccio auf Korsika) die Leitung übernahm. Der junge, ruhmgierige Mann hatte sich als Revolutionär an Robespierre und dessen Bruder angeschlossen, die seinen großen Verstand, seine unermüdliche Tatkraft und sein außerordentliches Talent, neue Dinge zu schaffen und zu gestalten, bewunderten und zu verwerten wußten. Zum Artillerieobersten befördert, brachte er die Hafenstadt Toulon, deren Einwohner sich den Engländern ergeben hatten, wieder in die Hände der Franzosen. Später schlug er in Paris einen Aufstand der Royalisten gegen den Konvent blutig nieder; zum Dank dafür ernannte ihn das Direktorium, die kurz darauf neu gewählte Regierung, zum Obergeneral der „italienischen Armee“. Er traf diese in einem jämmerlichen Zustand an. Der junge Feldherr wurde von den Offizieren, die meist älter waren und länger im Felde standen als er, mit Mißtrauen und Neid empfangem. Aber er erwarb sich durch seine klaren und bestimmten Befehle und durch seine Anordnungen, die in kurzer Zeit aus den verwahrlosten Truppen ein kampftüchtiges Heer schufen, Gehorsam, Achtung und Bewunderung. Bonaparte erkämpfte sich den Weg über die Seealpen und den Apennin. In wenigen Wochen warf er die Österreicher aus Norditalien; dann führte er sein Heer unaufhaltsam bis nach Steiermark und zwang die Feinde zum Frieden. Diese glänzenden Erfolge machten Bonaparte mit einem Schlage zum berühmten Feldherrn. Schon fühlte er sich mächtiger als das Direktorium und verhandelte selbstherrlich mit den fremden Regierungen. Bald nachher besetzten die Franzosen auch das übrige Italien. Republiken, die alle von Frankreich abhängig waren, ersetzten überall die Monarchien. Aber das Land, dem man die Freiheit versprochen 154 hatte, wurde schändlich ausgeplündert. Gemälde, Bücher, Instrumente, Kleiderstoffe, vor allem aber Bargeld wurden nach Paris geschafft. 3. Der Feldzug: nach Ägypten (1799). England war jetzt die einzige Macht, die noch gegen Frankreich im Felde lag. Seine Insellage machte es unangreifbar, und aus seinem Kolonialreich Indien flössen ihm große Reichtümer zu, die es zum Bau einer mächtigen Flotte und zur Unterstützung der Feinde der Revolution verwendete. Um diese Quelle zu verstopfen, bereitete Bonaparte einen Zug nach Ägypten vor, von wo er nach Indien vordringen wollte. Das Direktorium, das vor dem mächtig gewordenen General heimliche Angst empfand, ließ ihn nicht ungern in die Fremde abreisen, obwohl niemand an einen Erfolg des abenteuerlichen Planes dachte. Einen Teil des Geldes, dessen Bonaparte zu diesem Feldzug bedurfte, verschaffte die Eroberung der Schweiz, die wie Italien auf räuberische Weise ausgeplündert wurde. Das Nilland stand damals unter der Herrschaft des türkischen Sultans. In der Schlacht bei den Pyramiden besiegte Bonaparte das Reiterheer der Mamelucken und eroberte die Hauptstadt Kairo. Aber fast zu gleicher Zeit vernichtete Nelson, der Befehlshaber der englischen Flotte, die französischen Schiffe, die in der Bucht von Abukir lagen. Bonaparte war damit von Frankreich abgeschnitten. Nun wandte er sich gegen ein türkisches Heer, das ihn von Syrien her bedrohte. Aber aufr reibende Wüstenmärsche, verlustreiche Kämpfe und die Pest rissen große Lücken in sein Heer. Er erkannte, daß seine Unternehmung mißlungen war und führte die Truppen nach Ägypten zurück. 4. Die erste Schlacht von Zürich (4. Juni 1799). England, Österreich und Rußland benutzten die Abwesenheit des besten französischen Generals zu einem neuen Versuche, die verhaßte Republik zu stürzen (zweiter Koalitionskrieg). Von der Mündung des Rheins, über die Alpen hin, bis an den Vesuv entzündete sich die Kriegsfackel. Der Hauptschlag sollte in der Mitte fallen. Der Russe Su- woroff vertrieb die Franzosen aus der Lombardei, und Erzherzog Karl, ein Bruder des deutschen Kaisers und Herrn der österreichischen Länder, besiegte sie in Süddeutschland. Nun sollte noch die Schweiz den Franzosen entrissen und die alte Ordnung dort wieder eingeführt werden. — Der Kampf begann mit der Vertreibung der Franzosen aus Graubünden; die siegreichen Österreicher' drangen über die Oberalp und die Furka bis ins Oberwallis vor. Erzherzog Karl überschritt zwischen Stein und Schaffhausen den Rhein, und gleichzeitig rückte General Hotze, der von Richterswil stammte, vorn Vorarlberg aus in die Schweiz ein. Vor den beiden Heeren wich der französische General Massena unter beständigen Kämpfen gegen Zürich zurück. Die Stadt wurde vorn Burghölzli aus über den Zürichberg bis zum Käferberg durch starke Schanzen und Verhaue befestigt, an denen sich die Anstürme der Österreicher brachen. Aber Massena, erkennend, daß er der Übermacht nicht gewachsen sei, zog sich über die Limmat hinter den Ütliberg zurück. Nach dieser ersten Schlacht bei Zürich war die östliche Schweiz in den Händen der Österreicher, während die Franzosen die Lande jenseits der Reuß und der unteren Aare besetzt hielten. 5. Die zweite Schlacht bei Zürich (25. September 1799). Nach Massenas Rückzug herrschte fast drei Monate Waffenruhe. Zwischen den Österreichern und den Russen, die sich ihre Erfolge gegenseitig mißgönnten, kam es wegen der Fortsetzung des Krieges zn streitigen Meinungen. Erzherzog Karl mußte wieder nach Deutschland zurück; dagegen erschien ein russisches Heer unter Korsakoff in Zürich. Suworoff bekam Befehl, sein siegreiches Heer über die Alpen zu führen und sich mit seinem Landsmann zu verbinden; beiden sollte Hotze, der das Gaster- und Glarnerland besetzt hielt, die Hand reichen. So hoffte man, den tüchtigen Massena vollends aus der Schweiz zu jagen. Aber er kam seinen Gegnern zuvor. Durch seinen berg- kundigen Unterführer Lecourbe ließ er die Österreicher aus dem Wallis und dem ganzen Reuß- und Gotthardgebiete werfen, noch ehe Suworoff, dem er den Weg zu verrammeln suchte, seinen Alpenmarsch angetreten hatte. Dann holte er zu einem Hauptschlag gegen die Russen aus. An einem nebligen Herbstmorgen führte Massena bei Wollishofen einen Scheinangriff auf Korsakoff aus, der dessen Hauptmacht dorthin zog. Inzwischen brachte er durch den Nebel begünstigt, den größten Teil seines Heeres bei Dietikon über die Limmat und kam fast unangefochten bis in die Nähe der Stadt, wo sich ein tobender Kampf entwickelte, der für die Russen zu einer schweren Niederlage wurde. Korsakoff, der seinen Fehler zu spät erkannte, konnte nur mit Mühe sich und die Hälfte seines Heeres über den Rhein nach Deutschland retten. Gleichzeitig war der Kampf auch bei Kaltbrunn und Schännis losgebrochen, wo Hotze den feindlichen Kugeln erlag. 6. Suworoffs Alpenzug. Endlich kam Suworoff in die Schweiz. Unter beständigen, schweren Kämpfen stieg er über den Gotthard 156 ins Reußtal hinunter, die Franzosen vor sich her treibend, die sich über den Urnersee nach Schwyz zurückzogen. Da die Straße bei Flüelen keine Fortsetzung hatte und alle Schiffe weggebracht worden waren, führte Suworoff sein Heer über den Kinzigkulm ins Muottatal. Aber auch dort stieß er auf Franzosen, und zugleich vernahm er die Niederlage Korsakoffs bei Zürich. Nun wandte er sich über den Pragelpaß ins Glarnerland und von da unter unsagbaren Mühsalen über den schneebedeckten Panixerpaß nach Graubünden und über die Schweizergrenze. — Massena hatte durch seine Erfolge Frankreich gerettet; die zweite Koalition aber löste sich auf, da die Russen sich vorn Kriege zurückzogen. V. Kaiser Napoleon l. 1. Der Übergang zur Monarchie. Die Niederlagen der französischen Heere in Deutschland und Italien, Teuerung und Geldnot riefen in Frankreich einer großen Unzufriedenheit gegen das Direktorium. Bonaparte, von der Stimmung des Volkes unterrichtet, fühlte, daß für ihn die Zeit gekommen sei, noch höher zu steigen. Er ließ sein Heer in Ägypten im Stiche und schiffte sich heimlich nach Frankreich ein. Von der Menge und besonders den Soldaten als siegreicher Feldherr gefeiert, gelang es ihm, das Direktorium mit Waffengewalt zu stürzen und sich der Regierung zu bemächtigen (Ende 1799). Erst wurde er auf zehn Jahre als Konsul gewählt, nach zwei Jahren ließ er sich das Konsulat schon auf Lebenszeit übertragen, und wieder nach zwei Jahren wurde er zum Kaiser der Franzosen erklärt (1804). Wie war dieser schnelle Übergang von der Republik zur Monarchie möglich? Die Bevölkerung Frankreichs sehnte sich seit langem nach Ordnung und Ruhe. Während der Jahre seines Konsulats eroberte Napoleon Italien wieder zurück und nötigte Österreich zum Frieden. Er räumte Ägypten und machte dadurch auch England geneigt, Frieden zu schließen. In Frankreich führte er wieder die katholische Religion ein und stellte damit die Geistlichen und ihre Anhänger zufrieden. So wurde er überall als Friedensbringer betrachtet, und bei der Wiederherstellung der Monarchie setzte man ihm fast keinen Widerstand entgegen. Der Papst kam eigens nach Paris, um ihn bei der Krönung zu salben und ihm damit in den Augen des allgemeinen Volkes eine höhere Weihe zu geben. Napoleon richtete einen glänzenden Hofhält ein. Aber er dachte 157 gar nicht daran, die alte Ständeordnung und ihre Folgen zurückzuführen ; er ließ die Bauern und neuen Grundbesitzer ruhig bei dem, was sie durch die Revolution gewonnen hatten; er anerkannte die bürgerliche Gleichberechtigung, und nicht umsonst trugen anfänglich die von ihm geprägten Münzen auf der einen Seite die Aufschrift: „Republique Fran^aise“ und auf der andern die Worte: „Napoleon, Empereur“. Die Fürsten „von Gottes Gnaden“ fühlten wohl, daß in der Erhebung Napoleons zum Herrscher Frankreichs etwas Revolutionäres liege. Sein Beispiel konnte nachgeahmt werden. Sie haßten ihn darum als Emporkömmling (Parvenu). 2. Napoleon als Eroberer. Die III. Koalition (1805). Kaum hatte sich Napoleon die Kaiserkrone aufs Haupt gesetzt, als England, Rußland und Österreich sich neuerdings zusammentaten, um seine Übermacht zu brechen. (Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts.) Aber durch den glänzenden Sieg in der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz (östlich von Brünn in Mähren) sprengte er diesen Bund. Österreich aber mußte neben anderen Gebieten Tirol abtreten, das an Bayern kam. In denselben Tagen vernichteten freilich die Engländer unter Nelson die französische und spanische Flottenmacht bei Trafalgar (zwischen Cadix und Gibraltar). Der Rheinbund (1806). Schon als Konsul hatte Napoleon in die Verhältnisse des ohnmächtigen Deutschen Reiches eingegriffen und Besitzungen vieler geistlichen und weltlichen Herren sowie die meisten Reichsstädte nach Gutdünken verschiedenen Fürsten zugeteilt. Besonders bedachte er die ihm ergebenen Herrscher von Baden, Württemberg und Bayern, deren Rang er auch erhöhte. Nachdem Österreich wiederum niedergeworfen worden war, vereinigte Napoleon die meisten deutschen Staaten zudem „Rheinbund“, dessen Protektor er war. (Ende des alten Deutschen Reiches.) Die Niederwerfung Preußens (1806/07), Die Neugestaltung, die halb Deutschland in Napoleons Hände gab, erschreckte Preußen und trieb es zum Kriege. Alsbald rückte der französische Kaiser mit seinen schon bereitstehenden Truppen in Thüringen ein und schlug die Preußen in der Doppelschlacht bei Jena und Auer- städt im Saaletal. Eine Festung nach der andern fiel in die Hände des Siegers, welcher dem preußischen König die Hälfte seines Landes wegnahm. Kurze Zeit nachher brachte Napoleon auch Portugal und Spanien in seine Gewalt, 3 Die Vasallenstaaten. Napoleon stand jetzt auf der Höhe 158 seiner Macht. Er schickte seine Befehle durch ein ganzes Weltreich, das die Apenninen- und Pyrenäenhalbinsel, Frankreich, Belgien, Holland, die Schweiz, den Rheinbund und Preußen westlich der Elbe umfaßte. Er verwandelte die früher errichteten Republiken und die neueroberten Länder in Fürstentümer für seine Geschwister, Verwandten, Generale und Freunde. Seinen Bruder Ludwig setzte er zum König über Holland ein, dem Bruder Joseph übertrug er die Krone von Spanien, dem jüngsten, Jerome, verschaffte er aus eroberten preußischen und benachbarten andern Gebieten das Königreich Westfalen; sein Schwager Murat wurde König von Neapel, sein Stiefsohn Eugen König von Italien, sein Freund Berthier Fürst von Neuenburg. Alle diese Fürsten waren von ihm abhängig und mußten ihn in seinen Kriegen mit ihren Truppen unterstützen. Er verlangte von ihnen die genaueste Befolgung seiner Befehle und zögerte nicht, sie abzusetzen, wenn sie sich selbständig geberdeten. Das mußte selbst sein Bruder Ludwig erfahren. 4. Die Kontinentalsperre. Nur das flottenstarke England stand noch unbesiegt da. Ein ungeheurer Haß erfüllte den Kaiser Napoleon gegen diesen mächtigen Feind; daher kam er auf den Gedanken, das Inselreich durch Vernichtung seines Handels zu bezwingen. Allen Völkern Europas wurde jeglicher Verkehr mit England untersagt. Kein Hafen durfte englische Schiffe aufnehmen. Mit tyrannischer Gewalt setzte er diese Maßregel in allen Ländern durch, selbst Rußland mußte sich ihr fügen. Wie einst vor der Revolution Salzwächter und Weinaufseher in die Häuser eindrangen, so machten jetzt Soldaten und Zollbeamte Hausdurchsuchungen nach verbotenen, englischen Waren. Wehe dem, der solche einschmuggelte! Kerker oder der Tod durch Erschießen war sein Los; Handel und Gewerbe stockten; zahllose Kaufleute und Fabrikunternehmer wurden zu Bettlern; die Lebensmittelpreise stiegen auf unerschwingliche Höhe. Ein allgemeiner Haß entzündete sich gegen Napoleon. Der Niedergang Napoleons. 5. Der spanische Aufstand. Die stolzen Spanier ertrugen nur mit grollendem Widerwillen die neue, aufgezwungene Fremdherrschaft. Sie wurden von den Engländern, die in Portugal landeten, kräftig unterstützt. An dem englischen Feldherrn Wellington erhielten sie einen tatkräftigen Berater und Anführer. Einer großen Feldschlacht wichen sie aus; aber in vereinzelten Auf ständen überfielen sie die französischen Truppen, die bisweilen auf grausame 159 Weise hingeschlachtet wurden. Ein jahrelanger Krieg wütete im Lande; Napoleon konnte es trotz gewaltiger Anstrengungen nicht zur Ruhe zwingen. 6. Neuer Krieg gegen Österreich. Die spanischen Erfolge weckten in Österreich die Hoffnung, das Joch Napoleons abzuschütteln und das verlorengegangene Tirol wieder zu gewinnen. Allein, nachdem sie zunächst bei Aspern gesiegt hatten, erlitten die Österreicher bei Wagram (beide Orte bei Wien) eine entscheidende Niederlage; jetzt wurde auch der von Andreas Hof er geleitete Aufstand der Tiroler, der anfangs von Erfolg begleitet war, unterdrückt. Aber nur mit größter Mühe hatte Napoleon in diesem Kriege die Oberhand behaupten können. 7. Der russische Feldzug (1812). Der russische Kaiser hatte sich zwar der Kontinentalsperre gefügt; aber um Napoleons willen konnte er sein Volk nicht aushungern lassen; deshalb handhabte er sie sehr milde. Zwischen den beiden Kaisern trat eine Spannung ein, die schließlich zum Kriege führte. Der Herr des Abendlandes rüstete ein aus Italienern, Spaniern, Portugiesen, Franzosen, Schweizern und Deutschen bestehendes Heer von einer halben Million Kriegern, das 180,000 Pferde und 1300 Kanonen mit sich führte. Ein unabsehbarer Zug wälzte sich aus Deutschland gegen die ungeheuren Ebenen des Zarenreiches. Die Russen, bei Smolensk und in der furchtbaren Schlacht bei Borodino zurückgeworfen, verwüsteten auf dem Rückweg die Felder und verbrannten Dörfer und Städte. Den Franzosen folgten Hungersnot und schwere Seuchen, die Menschen und Tiere zu Tausenden dahinrafften. Napoleon kam nach Moskau, als eben der Winter hereinbrach. Um dem Feinde die Quartiere zu vernichten, legten die Russen die Stadt in Asche. Bei grimmiger Winterkälte trat das Heer unter grauenhaften Entbehrungen und Leiden den Rückweg an. Auf den weiten Schneefeldern und besonders beim Übergang über die Beresina fand die „Große Armee“ bis auf wenige Überreste einen grausigen Untergang. Napoleon aber flüchtete mit nur einem Begleiter nach Paris, um neue Streitkräfte zu sammeln. Der Fall Napoleons. 8. Die Schlacht bei Leipzig (1813). Längst schon hatte sich Preußen auf eine Erhebung vorbereitet. Verwaltung und Heer waren den neuen Verhältnissen angepaßt worden. Als daher der König nach kurzem Schwanken sein Volk zum Kriege gegen Napoleon auf- 160 rief, folgte es in heller Begeisterung. Zugleich schlössen sich die Feinde Frankreichs zu einem Bunde zusammen (Allianz). i Zum Erstaunen Europas brachte Napoleon in kurzer Zeit ■wieder ein großes Heer zusammen. Er brach in Deutschland ein und schlug seine Gegner in mehreren Schlachten. Aber deren Generale hatten nach und nach seine Kriegskunst begriffen und wendeten sie gegen ihn an. Die verbündeten Heere drängten ihn bis nach Leipzig zurück, wo es zu einer fürchterlichen, dreitägigen Schlacht kam. Fast alle Völker des Erdteils kämpften hier für oder gegen Napoleon. Mit nur 150,000 Mann hielt er zwei Tage lang gegen 200,000 Mann stand, die von Blücher und Schwarzenberg geführt wurden. Als diesen aber am dritten Tage noch 100,000 Mann zu Hilfe kamen, mußte sich Napoleon zurückziehen. Sofort brach seine Macht in Deutschland in Trümmer; der Rheinbund fiel von ihm ab und schloß sich seinen Feinden an. Die verbündeten Heere griffen ihn in seinem eigenen Lande an. Vergeblich suchte der Kaiser den von Basel, vorn Moseltal, von Holland und von Spanien herandrängenden Sturm abzuhalten. Er wurde zur Abdankung gezwungen und nach der kleinen Insel Elba verbannt. 9. Die Herrschaft der Hundert Tage (1815). Während die Fürsten sich in Wien über die Neugestaltung Europas zankten, entwich Napoleon von Elba und kehrte nach Frankreich zurück, um seinen Thron wieder einzunehmen. Die französischen Truppen, die man ihm entgegensandte, traten samt ihren Führern zu dem kleinen Heere über, das ihm geblieben war. Nach zwanzig Tagen stand er wieder als Kaiser in Paris. Als jedoch die Kunde von seiner Landung bekannt geworden war, ächteten ihn die Fürsten und sandten große Truppenmassen gegen ihn. Bei Waterloo (unweit Brüssel) kam es zu einer furchtbaren Schlacht. Wellington und Blücher, die Führer der vereinigten Engländer und Deutschen, zersprengten sein Heer. Zum zweiten Male dankte Napoleon ab. Kaum entging er den Verfolgern, und als er sich nach Amerika einschiffen wollte, fiel er seinen Todfeinden, den Engländern, in die Hände. Im Einverständnis mit den Verbündeten wurde er als Kriegsgefangener nach der einsamen Insel St. Helena verbannt, wo er nach sechs Jahren schlimmer Kränkung starb. Zusammenfassung. Was die Französische Revolution für Frankreich, das bedeutete Napoleon für Europa. Wenn auch der gewaltige Mann von grenzenloser Selbstsucht und entsetzlicher Men- 161 schenverachtung erfüllt war, so fühlte er sich doch berufen, die guten und heilsamen Ideen der Revolution durchzuführen, soweit sein Einfluß reichte. Durch seinen Willen und seine Tatkraft, die alle Fürsten beugte, und durch die Siege seiner Heere minderte er das Ansehen der Herrscher von „Gottes Gnaden“ und erhöhte dasjenige der Völker. Durch seine Kriege verteidigte er den neuen, • bürgerlichen Gesellschaftszustand in Frankreich, und seine Soldaten trugen die neuen Ideen der „Freiheit und Gleichheit“ in andere Länder. Die früheren Söldnerheere machten .Volksheeren Platz, und die allgemeine Wehrpflicht wurde eine Ehrenpflicht für die Bürger der meisten Länder. Auch in den monarchischen Staaten fand der Gedanke, daß das Volk einen bescheidenen Anteil an der Gesetzgebung haben sollte, Eingang. Gewerbe- und Handelsfreiheit brachen sich nach und nach in ganz Europa Bahn. VI. Die Schweiz als Vasallenstaat Frankreichs (1798-1813). 1. Einflüsse der französischen Revolution auf die Schweiz. Die SchweizerSöldner. Die französische Revolution hatte auch auf die Schweiz einen tiefgehenden Einfluß. Zuerst äußerte er sich bei den Schweizerregimentern, die in französischen Diensten standen. Viele dieser Söldner waren den neuen Ideen zugetan und stellten sich auf die Seite der Revolutionäre. Ein Regiment mußte sogar wegen Meuterei hart bestraft werden. Andere, wie die Schweizergarde in Paris, blieben ihrem Kriegseide treu; dafür wurde gerade diese Truppe beim Tuileriensturm und später bei den Septembermorden auf grauenvolle Weise hingeschlachtet. Nach dem Sturz des Königtums wurden die übrigen Regimenter schmählich und ohne Sold entlassen. Ein Schrei der Entrüstung ging durch das Schweizerland: die Tagsatzung erwog die Frage, ob sich die Eidgenossenschaft nicht der ersten Koalition anschließen sollte; aber niemand konnte sich zu tatkräftigem Handeln aufraffen. Die Emigranten. In der Schweiz hielt sich eine große Zahl französischer Flüchtlinge auf, die mit allen Mitteln unser Land zum Kriege gegen das revolutionäre Frankreich zu bewegen suchten. Wenn auch ihre Mühe erfolglos war, so machten doch diese starke Ansammlung von Emigranten und die Geneigtheit mancher Kantonsregierung, die Gegenrevolution zu unterstützen, die Schweiz bei der französischen Regierung verhaßt. Der Schweizerklub in Paris. Dieser Haß wurde noch gell Gcschichtslehrmittel. — , 162 schürt durch den Schweizerklub in Paris, der meist aus einflußreichen Flüchtlingen der Westschweiz bestand. Sie hatten die Absicht, den Umsturz auch im Heimatlande anzubahnen. Zu diesem Zwecke schmuggelten sie Bücher und Zeitungen unter das Landvolk, dem sie so die neue Lehre von der „Freiheit und Gleichheit“ ver- • kündeten. Umsonst machten die Regierungen Jagd auf diese Schriften und ließen sie sogar durch Henkershand verbrennen, wie dies in Uri geschah. An verschiedenen Orten, z. B. im Waadtland und Wallis, brachen Aufstände aus, die gewaltsam, teilweise blutig unterdrückt wurden. Die Verluste der westlichen Grenzgebiete. — Genf. — In Genf gelang es den Sendlingen des Schweizerklubs, eine Revolution herbeizuführen, die blutig verlief; ein Revolutionsgericht verbreitete „den Schrecken“, wie dasjenige in Paris. Die genfe- rischen Revolutionäre brachten es schließlich dahin, daß französische Truppen die Stadt besetzten, die dann mit Frankreich vereinigt wurde. Bistum Basel. — Damals stand der ganze Berner Jura samt Biel unter der Botmäßigkeit des Bischofs von Basel. (Residenz Pruntrut.) Sendboten des Schweizerklubs wiegelten auch hier das Volk gegen seinen Herrn auf. Dieser rief die Österreicher zu Hilfe, welche eben den ersten Koalitionskrieg eröffneten. Aber die Franzosen verdrängten sie und nahmen dieses Gebiet in Besitz. Grenzbesetzung. — In diesen Kriegszeiten hielten eidgenössische 'Truppen die Grenze besetzt, um einen Einbruch der Franzosen abzuwehren. Von ihren Wachtposten aus sahen die Schweizer die freiheitsstolzen Franzosen und hörten ihr begeistertes Feldgeschrei: „Freiheit und Gleichheit“. Nach der Grenzbesetzung fand man in allen Gegenden Männer, die für eine neue Ordnung eintraten. Der Stäfnerhandel (1795). Das geschah auch am Zürichsee. Hier bildeten sich Lesegesellschaften, in welchen revolutionäre Zeitungen und Flugschriften von Mitglied zu Mitglied gingen. In Zusammenkünften verglich man die heimatlichen Zustände mit der neugeschaffenen Lage des französischen Volkes. Der Hafner Nee- racher von Stäfa schrieb eine Denkschrift, ein „Memorial zur Be- herzigung an die teuern Landesväter“. Darin wurde geklagt über die Ungleichheit in den Rechten der Stadt- und Landbürger, über die Einschränkung des Landvolks in Handel und Gewerbe und dessen Ausschließung vorn hohem Studium und den hohem Militärstellen. Die Regierung wurde gebeten, „Freiheit und Gleichheit“ einzuführen. 163 Aber sie verurteilte den Verfasser des Memorials und seine Freunde Pfenninger und Staub zu mehreren Jahren Verbannung. Diese Härte empörte das Volk und bewirkte, daß man nach alten Freiheitsbriefen suchte, die im Waldmannhandel und nach dem zweiten Kappelerkrieg den Leuten am See gegeben worden waren. Als man solche im Archiv zu Küsnaeht fand, verbreitete man sie durch Abschrift und fragte die Regierung an, ob die Urkunden noch Gültigkeit hätten. Aber statt aller Antwort verbot die Regierung jede öffentliche Besprechung derselben. Als die Gemeinde Stäfa beschloß, eine solche trotzdem vorzunehmen, schickte die Regierung 1700 Mann ab, welche die „Rebellen“ entwaffneten und schwer bestraften. Über dem Haupte eines Hauptführers, des greisen Bodmer, wurde das Schwert gezückt und er, nebst einigen andern zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt; viele wurden hart gebüßt. Noch einmal hatte die alte Ordnung gesiegt. Cäsar Laharpe und Peter Ochs, Zwei Männer arbeiteten mit aller Kraft auf den Umsturz hin: Cäsar Laharpe von Rolle und Peter Ochs von Basel. Beide standen in enger Verbindung mit der französischen Regierung und mit Bonaparte. Jener forderte das Direktorium geradezu auf, die Waadtländer in seinen Schutz zu nehmen und die Aristokratien in der Schweiz zu stürzen; dieser verhandelte mit einigen Direktoren bereits über eine Neuordnung der Eidgenossenschaft und verfaßte ein dazu passendes Grundgesetz (Verfassung). Sie fanden beide geneigtes Gehör; denn Frankreich bedurfte der Alpenpässe zur Sicherung der eroberten Lombardei und der schweizerischen Staatskassen und Waffenvorräte für den ägyptischen Feldzug. Immer deutlicher enthüllten sich die Pläne der Franzosenfreunde, der sogenannten „Patrioten“ - Aber die schweizerischen Regierungen erkannten die Gefahr nicht; sie mißachteten die Ratschläge einsichtiger Männer, und in ihrer Unentschlossenheit taten sie nichts zur Abwendung des nahenden Verderbens. 2. Der Untergang der Alten Eidgenossenschaft (1708). Die Eroberung der Waadt. Gemäß den Ratschlägen Laharpes stellte das französische Direktorium an der waadtländischen Grenze ein Heer bereit. Sofort erhoben sich die Waadtländer und schüttelten die Herrschaft Berns ab, indem sie die „Lemanische Republik“ verkündeten. Zu ihrem Schutze riefen sie die Franzosen herbei, die nicht zögerten, das Land beinahe vollständig zu besetzen. Nach französischem Vorbild wurde eine neue Ordnung der Dinge eingeführt. 164 Der allgemeine Zusammenbruch. Diese Ereignisse gaben das Zeichen zum Aulstand aller Untertanengebiete; überall fielen die Vorrechte und Standesunterschiede. Im Kanton Zürich verlangte man die Loslassung der gefangenen Stäfner, die nach einigem Zaudern der Regierung endlich erfolgte. Aber schon begnügte man sich mit dieser Nachgiebigkeit der Regierung, die nur Schwäche verriet, nicht mehr. Man erzwäng die Anbahnung einer neuen Staatseinrichtung, die auf „Freiheit und Gleichheit“ beruhen sollte. Die Bauern von Baselland ahmten das Vorgehen der französischen Landbevölkerung nach, indem sie mehrere Landvogteischlösser in Asche legten. Eine Nationalversammlung wurde einberufen, welche die von Peter Ochs entworfene Neuordnung einführte. Ähnliche Aufstände und Neuerungen vollzogen sich in andern Kantonen und in den Gemeinen Herrschaften; die Untertanenländer wurden freigegeben. Der Fall Berns — General Brune. — Endlich erfolgte der Hauptschlag gegen die alte Eidgenossenschaft. Brune, der Anführer der französichen Truppen im Waadtland, vergaß sein Hauptziel, die Eroberung Berns, nicht. Um zur bessern Ausrüstung seines Heeres Zeit zu gewinnen und die Berner vor einem Angriff zurückzuhalten, trat er in Unterhandlungen mit der beimischen Regierung, die er zu täuschen wußte. Unterdessen zog der General Schauen- burg heran, der durch den Jura nach Biel vorrückte. Jetzt verlangte Brune, daß die aristokratische Berner Regierung abdanke und einer neuen Platz mache. Als diese Forderung nicht sofort erfüllt wurde, erklärte er Bern den Krieg. Verwirrung in Bern. — In der stolzen Aarestadt erzeugte Brunes Begehren Verwirrung und Ratlosigkeit. Zwei Parteien bekämpften sich in der Regierung. Die eine, geführt von dem bejahrten Schultheißen Steiger, verlangte einen Waffenentscheid, die andere, unter Frisching, suchte das Heil im Frieden. Umsonst riet Steiger, mit Tränen in den Augen, zu raschem Angriff. Die Regierung schwankte; Befehle wurden gegeben und widerrufen. Das machte die einberufenen Truppen, die anfänglich außerordentlich kampflustig gewesen waren und dringend verlangt hatten, vor den Feind geführt zu werden, argwöhnisch und störrig; ganze Bataillone versagten den Gehorsam; Tausende kehrten voll Ingrimm nach Hause zurück; die Anführer wurden der Verräterei beschuldigt und mit dem Tode bedroht, einzelne fielen der Wut des Volkes zum Opfer. Die Truppen der übrigen Kantone, die Bern um Hilfe ge- 165 mahnt hatte, erschienen entweder gar nicht oder kehrten auf halbem Wege um: In der Stunde der Gefahr ging der alte eidgenössische Bund aus den Fugen. Die Ausschließung des Volkes von den Staatsgeschäften hatte sich bitter gerächt. Neuenegg und Grauholz. — Brune befahl einen doppelten Angriff auf Bern. Während er von Süden anmarschierte, rückte Schauenburg von Norden vor. Auf dem Marsche nahm jener Frei- burg, dieser Solothurn mit leichter Mühe ein; so waren sie im Rücken gedeckt. Die bernische Regierung hatte Ludwig von Er- lach zum Oberbefehlshaber ernannt, der mit seinen Truppen, einigen Auszügerbataillonen und ungeordneten Landstürmerhaufen die Übergänge an der Aare, der Saane und Sense deckte. Im Süden, bei Neuenegg kam es zu einem hitzigen Gefecht, in welchem die sieggewohnten .Truppen Brunes schließlich in raschem Anlaufe mit Bajonett und Kolben wuchtig geworfen wurden. Aber dieser Sieg sollte wenig nützen; denn im Norden ging alles verloren. Bei Fraubrunnen und im Grauholz wurden die Berner trotz tapferer Gegenwehr geschlagen. In wilder Flucht wälzten sie sich der Stadt zu, wo General Erlach sie noch einmal zum Widerstand sammeln wollte. Aber die Stadt verzichtete auf jede Verteidigung und ergab sich an Schauenburg. Verzweiflung erfaßte die Soldaten; sie schrien über Verrat und ermordeten ihre Obersten; selbst Erlach fiel ihrer Wut zum Opfer, und der greise Steiger konnte sich nur mit Mühe ins Aus- land retten. Der Fall Berns zog auch den Sturz der Alten Eidgenossenschaft nach sich; denn kein Ort wagte, den Franzosen entgegenzutreten. Die Plünderung. — Schwer mußte Bern den Widerstand büßen. Brune bemächtigte sich gewaltsam des Staatsschatzes. Alle Kassen wurden geplündert, die Magazine und Zeughäuser ihres Inhaltes beraubt. Auf elf mit je vier Pferden bespannten Leiterwagen gingen die bernischen Gelder nach Frankreich. Über 400 Geschütze und 43,000 Gewehre fielen den Franzosen in die Hände. Selbst die drei „Mutzen“ aus dem Bärengraben wurden als Siegespreis nach Paris geführt. Die Räubereien kamen die Stadt Bern insgesamt auf etwa 24 Millionen Fr. zu stehen. In Freiburg und Solothurn und später in Zürich, Luzern und anderwärts machten es die Franzosen nicht viel besser. 3. Der Einheitsstaat. Die Franzosen behandelten die Schweiz als erobertes Gebiet, auf das sie die Verhältnisse ihres eigenen Landes übertrugen, indem sie eine neue Verfassung einführten, die von Peter Ochs vorbereitet worden war. 166 Die eine und unteilbare Helvetische Republik. — Umfang. — Die „Helvetische Revolution“ hatte für die Schweiz bedeutende Gebietsverluste zur Folge. Genf und das Bistum Basel waren an Frankreich übergegangen, und das preußische Neuenburg löste seine Stellung als zugewandter Ort. Birs, Bieler- und Neuen- burgersee bildeten ungefähr die Nordwestgrenze. Die bündnerischen Vogteien verblieben bei Norditalien. Einteilung. — Zur bessern Verwaltung wurde „die Helvetische Republik“ in 19 Kreise eingeteilt, die man Kantone nannte. Diese besaßen keine eigene Regierung; sie waren also nicht selbständig; auch stimmten ihre Namen und Grenzen z. T. nicht mit den frühem Orten überein (z. B. Kantone Linth, Sentis, Lugano, Bellinzona). Behörden. — Die neue Republik sollte eins und unteilbar sein; ein Recht, ein Gesetz, eine Regierung wurde für das ganze Land eingeführt. Zwei Versammlungen von Volksabgeordneten, der Große Rat und der Senat, machten die Gesetze. Für deren Durchführung sorgte ein Direktorium von fünf Mitgliedern, dem noch vier Minister beigegeben waren. Es übersandte Gesetze und Befehle den Statthaltern in den einzelnen Kantonen, und diese Übermächten sie den Bezirksstatthaltern, welche sie dann den Bürgern in den Gemeinden zur Kenntnis brachten. Für die ganze Schweiz bestand auch ein besonderes Obergericht. Volksrechte. — Im neuen Staat gab es keine Untertanen mehr; alle Vorrechte und Titel wurden abgeschafft. Wie in Frankreich sollten auch hier „Freiheit und Gleichheit“ herrschen. Jeder unbescholtene Bürger war stimm- und wahlberechtigt, alle waren wehrund steuerpflichtig; die Steuer sollte nach der Größe des Vermögens und des Einkommens entrichtet werden. Jedem Schweizer wurde gestattet, sich niederzulassen, wo er wollte, und nach seiner Wahl einen Beruf zu betreiben; jedem ward erlaubt, eine Zeitung, ein Memorial oder ein Buch zu schreiben und drucken zu lassen; niemand durfte zur Teilnahme an religiösen Handlungen gezwungen oder an der Ausübung von solchen verhindert werden. Hauptort. — Als Hauptort der neuen Republik wurde Luzern bestimmt; aber die neuen Behörden versammelten sich zunächst in Aarau, weil jene Stadt durch die Waldstädte bedroht war, die sich gegen die neue Ordnung auflehnten. Nationalfarben. — Als Nationalfarben wurden festgestellt: Grün, Gelb, Rot. Jeder Bürger hatte die dreifarbige Kokarde zu tragen. 167 Der Widerstand der Urkantone. — Ursachen. — Seit vielen Jahrhunderten hatten sich die Länderkantone in den Landsgemeinden nach eigenen Gesetzen und Gebräuchen selbst regiert. Durch die Helvetische Republik wurde das Volk von allen wichtigern Staatsgeschäften ausgeschlossen; eine ferne, unbekannte Regierung gab ihm Weisungen und Befehle. Das machte böses Blut. Unduldsame Geistliche erklärten, daß Vaterland und Religion in Gefahr seien; daher griffen die Waldstätte nebst Zug und Glarus zu den Waffen. Der Schwyzer Alois Reding, ein trefflicher Offizier, übernahm den Oberbefehl. Der Kampf. — Das helvetische Direktorium beauftragte den General Schauenburg, die widerspenstigen Orte zu unterwerfen. Dieser eröffnete von verschiedenen Seiten den Angriff auf den Hauptherd des Widerstandes, auf den Kanton Schwyz. Ein Teil seiner Truppen marschierte vorn Zürichsee gegen den Etzel und Schind eile gi vor. Dort verließ der kommandierende Pfarrer Marianus Herzog, der geprahlt hatte, daß er den Berg bis auf den letzten Mann verteidigen werde, feige seine Stellung, und die Franzosen drangen nach Einsiedeln. Was nützte es, daß Reding bei Schindellegi den Feind zwei Stunden lang abwehrte? Um nicht umgangen zu werden, mußte er sich zurückziehen. Unterdessen war eine andere Abteilung Schauenburgs vorn Ägerisee über Morgarten gegen Rotenturm vorgedrungen. Hier wurden sie von den Schwyzern in heldenmütigem Kampfe zurückgeworfen. Doch sah Reding die Nutzlosigkeit eines längern Widerstandes ein. Auf seinen Rat nahmen die Schwyzer die neue Verfassung an, worauf auch die übrigen Orte sich unterwarfen. Die Schreckenstage in Nidwalden. Aber die Ruhe dauerte nur kurze Zeit. Bald hernach erklärte das Direktorium die Klostergüter als Staatseigentum, was in den katholischen Ländern einer großen Erbitterung rief. Diese wuchs, als die Staatsverfassung beschworen werden sollte. Wiederum, besonders in Nidwalden, reizten glaubenseifrige Priester das Volk zum Aufstand, indem sie ihm die Hilfe der Österreicher in Aussicht stellten, die eben damals die zweite Koalition abgeschlossen hatten. Das glaubensschwärme- rische, verleitete Volk verwarf alle friedlichen Ratschläge. Aber nach einem heldenmütigen Kampfe wurde es von den Truppen Schauenburgs vollständig geschlagen und das Ländchen furchtbar verwüstet: 25 Kinder, 102 Frauen, 289 Männer hatte das Schwert 168 gewürgt, das Feuer 712 Gebäude zerstört; das ganze Tal war eine Grab- und Brandstätte. Der elternlosen Kinder nahm sich in aufopfernder Liebe Heinrich Pestalozzi an. Not und Elend. Noch fand unser unglückliches Land keine Ruhe. Im folgenden Jahre (1799) tobte auf seinem Gebiete der zweite Koalitionskrieg, der Not und Elend aufs höchste steigerte. Franzosen, Österreicher und Russen brandschatzten abwechselnd die Bewohner. Unerhört waren die Kriegslieferungen; denn die fremden Heere wollten ernährt werden. Massena nahm an privaten und öffentlichen Gelder, so viel er konnte. Schlachtvieh, Brot, Wein. Branntwein, Salz, Hafer, Heu, Kleidungsstücke, Betten, Brennholz, Fuhrwerke, alles mußte geliefert werden. Die immerwährenden Einquartierungen machten die Leute vollends zu Bettlern. Dazu kamen die Kriegsschäden. In manchen Gegenden, wie um Zürich, waren die Weinberge zerstört, die Waldungen abgeschlagen. Der Kanton Zürich allein erlitt Verluste im Betrage von 16 Millionen Franken. Besonders schwer wurden die Berggegenden betroffen. Viele Dörfer lagen in Schutt und Asche oder waren kahl ausgeraubt. Die Wohnungen hatten keine Türen, Fenster, Dächer und Fußböden mehr. Im Oberwallis traf man sieben Stunden weit kein Dorf. Die abziehenden Heere hinterließen Hungersnot. Tausende von Kindern ■wanderten aus den Bergen in die ebene Schweiz, um dort von den Gaben mildtätiger Leute zu leben. Kein Wunder, wenn die Zahl derer, die die alten Verhältnisse zurückwünschten, sich stetig vermehrte. Rengger und Stapfer. Die schlimmen Kriegszeiten hinderten eine ersprießliche Tätigkeit der helvetischen Behörden; aber guter Wille war entschieden da. Am meisten zeichneten sich Rengger, der Minister des Innern und Stapfer, der Minister der Künste und Wissenschaften, aus. Beide stammten aus dem ehemals beimischen Städtchen Brugg im Aargau. Rengger arbeitete unermüdlich daran, die neuen Grundsätze praktisch durchzuführen; wahrhaft Großes tat er für die vorn Kriege heimgesuchten Gegenden (z. B. Nidwalden). Stapfer erstrebte für die ganze Schweiz ein mustergültiges Bildungswesen, da er erkannte, daß das Glück eines Volkes vor allem von einer guten Schulbildung abhängt. In seinem Unterrichtsgesetze verlangte er den Schulzwang. Ein schweizerisches Seminar sollte gute Lehrer heranbilden. Den Volksschulen sollten sich höhere Lehranstalten anschließen, und zur Krönung des Ganzen wünschte er eine schweizerische Hochschule. Er regte auch die 169 Gründung einer Nationalbibliothek und eines Nationalmuseums an. — Leider vermochten diese großen Männer ihre Pläne nicht zu verwirklichen, da vor allem die nötigen Mittel fehlten. 4. Die Vermittlung zwischen dem Alten und dem Neuen. Der Sturz der Helvetik. Das Volk hatte einen ingrimmigen Haß gegen die Helvetische Republik, die ihm so viel Unheil brachte, und nur die Anwesenheit des französischen Heeres hielt es von einer Empörung ab. Da zog Bonaparte (1802) nach Beendigung des zweiten Koalitionskrieges das Heer zurück, und sofort brachen überall Aufstände los. Vergeblich suchte das Helvetische Direktorium, mit Waffengewalt ihrer Meister zu werden. Es war schon seit dem Einbruch der Österreicher von Luzern nach Bern übergesiedelt; aber auch da von knüppelbewaffneten Volkshaufen bedroht, floh es nach Lausanne. Alles ging aus Rand und Band. Die Vermittlungsakte (Mediation) (1803—1813). In diese Wirren brachte der Konsul Bonaparte Ruhe und Ordnung, da er die Schweiz als ein von Frankreich abhängiges Land betrachtete. Er diktierte ihr eine neue Verfassung, die zwischen den zwei großen Parteien vermittelte, von denen die eine die alten Zustände wieder einführen, die andere den Einheitsstaat fortbestehen lassen wollte. Beide mußten in gewissen Punkten nachgeben, so daß die Änderung als ein Ausgleich zwischen alt und neu erscheint. Bundesverhältnisse. — Die neue Verfassung gab der Schweiz wohl ihren alten Namen, nicht aber den früheren Umfang zurück. Genf, Neuenburg und das Bistum Basel blieben auch jetzt noch in Frankreichs Händen; das Wallis aber trennte Bonaparte als besondere Republik ab und fügte es schließlich seinem Kaiserreich an (Sim- plonstraße). Das übrige Gebiet, der Schweizerische Bund, bestand aus 19 Kantonen. Zu den 13 alten Orten, die mit Ausschluß der Untertanengebiete ihre früheren Grenzen wieder erhielten, kamen St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Dessin und die Waadt als neue Kantone hinzu. — Als eidgenössische Behörde wurde die Tagsatzung wieder ins Leben gerufen. Jeder Kanton schickte wie ehemals einen Abgeordneten, der nur nach den Weisungen seiner Regierung stimmen durfte. Die volkreichsten Kantone erhielten je zwei Stimmen. Sie konnte über Krieg, Frieden und Bündnisse entscheiden und hielt im Innern Ordnung und Ruhe aufrecht. Sie versammelte sich wechselweise von einem Jahr zum andern in den .Vororten: Freiburg, Bern, Solothurn. Basel, Zürich und 170 Euzern. Der Bürgermeister oder Schultheiß des jeweiligen Versammlungsortes war ihr Vorsitzender. Er war zugleich Land- ammann der Schweiz, der die Aufsicht über das Land zu führen hatte, Streitigkeiten unter den Kantonen schlichtete und die Bundestruppen aufbot. Die Vermittlungsakte hielt an der Rechtsgleichheit fest und duldete weder Untertanengebiete noch Vorrechte der Orte, Personen oder Familien; sie gewährleistete jedem Schweizer freie Ausübung seines Berufes und freie Niederlassung, sowie freien Verkehr für Lebensrnittel und Handelswaren. Kantonale Verhältnisse. — Der Einheitsstaat wurde preisgegeben; denn die einzelnen Kantone erhielten ihre Selbständigkeit zurück. In den Ländern wurden die Landsgemeinden wieder eingeführt; in den übrigen Kantonen schickte das Volk seine Stellvertreter (Repräsentanten) in die Regierung. Die Hauptstädte bekamen allerdings deren mehr, als ihnen nach der Volkszahl gebührte, so daß die Landschaft im Nachteil war. Auch wurden die ärmern Klassen vorn Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen, da es nur denen zukam, die ein gewisses Vermögen versteuerten (Zensus). Die kantonalen Regierungen bestimmten wieder die Münzen, das Postwesen, selbst das Glaubensbekenntnis, das innerhalb ihres Gebietes ausgeübt werden dürfe. Überall forderte man wieder Brücken- und Weggelder, und die Zünfte lebten neuerdings auf. Friedenswerke. Doch war die Mediationszeit für die Schweiz verhältnismäßig glücklich. Während ringsum die Kriegsstürme tobten, genoß sie der Ruhe und baute Werke des Friedens. Pestalozzi gründete seine Erziehungsanstalten in Burgdorf und Yverdon, die europäischen Ruf hatten; er wurde der Schöpfer der neuen Erziehungsmethode. Man suchte das Volkswohl durch zweckmäßige Pflege des Waldes, der Landwirtschaft, und durch Einführung der Feuerversicherung zu heben. Konrad Escher von Zürich begann den Bau des Linthkanals (1807—22), durch den die Ebene zwischen Walen- und Zürichsee, die zu einem unbewohnbaren Sumpf geworden war, dem Anbau und der Fruchtbarkeit zurückgewonnen wurde. Abhängigkeit von Frankreich. Einen trüben Schatten aber warf der Umstand, daß Napoleon die Schweiz wie einen Teil seines gewaltigen Reiches behandelte. Sie litt schwer unter der Kontinentalsperre. Da der Zoll auf Baumwolle von 6 auf 240 Fr. Der Zentner stieg, wurden allein in der Ostschweiz 20,000 Weber- 171 familien brotlos. Beständig hatte die Schweiz Napoleon vier Regimenter Soldaten zu stellen, 14,000 Mann, die fortwährend durch rücksichtslose Werbungen auf dieser Höhe erhalten werden mußten. Sie fochten in fast allen napoleonischen Kriegen mit, und viel Unglück und Leid kam dadurch über Tausende von Familien. Das Land trug diese Bürde, bis Napoleons Sturz es davon befreite. Rückblick. Von 1798—1813 war die Schweiz in Wirklichkeit kein freies und unabhängiges Land. Fünf Jahre stand sie mit und zehn Jahre ohne Okkupation unter französischer Oberherrschaft und mußte sich den Forderungen Frankreichs widerstandslos fügen. Und dennoch legte diese Zeit den Grundstein zu unseren jetzigen staatlichen Verhältnissen. L. Die Restauration (Wiederherstellung). 1. Die Wiederherstellung des alten Europa. ' Nach dem Falle Napoleons versammelten sich auf dem „Wiener Kongreß“ Kaiser, Könige, Fürsten und Gesandte, um den Zustand vor 1789 möglichst wieder herzustellen und die Mächte, die den Befreiungskrieg geführt hatten, auf Kosten der Kleinen zu belohnen. Beinahe hätte der Länderhunger die Sieger selber entzweit. Da brachte Napoleons Flucht von Elba eine rasche Einigung. Die preußische und die österreichische Monarchie, die durch Napoleon so schwer geschädigt worden waren, wurden mit einigen Änderungen wieder hergestellt; Frankreich dagegen wurde auf die frühere Größe zurückgeführt. An seiner Ostgrenze errichtete man drei sogenannte Pufferstaaten: im Süden Sardinien, im Norden die Niederlande (Holland und Belgien) und in der Mitte die Schweiz. Auch die Verhältnisse der Schweiz wurden durch den Machtspruch des Wienerkongresses geordnet. Sie hatte ihre Bundesabgeordneten in Wien; doch wirkten ihnen Kantonale Sondergesandte vielfach entgegen. Alte Kantone, wie Bern und Freiburg, verlangten ihre Untertanenländer zurück, die neuen, wie Waadt, Aargau etc., wehrten sich dagegen. Das Resultat der Verhandlungen fiel besser aus, als bei der Uneinigkeit der Schweiz zu erwarten war. — Zu den 19 Kantonen der Mediationszeit kamen Wallis, Neuenburg (als Fürstentum unter dem König von Preußen) und Genf neu hinzu. Dieser letztere Kanton wurde durch savoyisches und fran- 172 zösisches Gebiet vergrößert und mit der Waadt in Verbindung gebracht. Als Entschädigung für den Verlust seiner Untertanengebiete wurde dem Kanton Bern das frühere Bistum Basel zugeteilt. Die ehemaligen bündnerischen Untertanenländer (Veltlin etc. > gingen an Österreich verloren; auch Konstanz konnte nicht gewonnen werden. Bei Kriegen ihrer Nachbarn sollte die Schweiz neutral bleiben, d. h. keiner Partei helfen und ihre Grenzen gegen fremde Heere sicher stellen. 2. Die Rückkehr zum Alten (Reaktion). Auf die Stürme der Revolutionszeit folgte eine Zeit allgemeiner Ermattung. Nach den verzehrenden Kriegsjahren bedurfte man des Friedens und der Ruhe, In kluger Berechnung benutzten die Regenten diese Stimmung, um ihre alten Herrschaftsrechte zu retten. Die Ideen der „Freiheit und Gleichheit“, der Aufklärung und Volkswohlfahrt kamen in Verruf. Für alle Fehler der Revolution, für alles Unglück der napoleonischen Zeit wurden die Lehren der Revolution verantwortlich gemacht. Die Fürstenrechte erdrückten wieder die Menschen- und Völkerrechte. Die Freunde der neuen Lehren wurden als Volksverführer, als Jakobiner, verschrieen und verfolgt. Einen mächtigen Bundesgenossen fanden die Fürsten in der Kirche, die ihren einstigen Einfluß zurückgewinnen wollte. Sie vertrat im Dienste der Regierungen aufs neue die Lehre vorn „Gottesgnadentum“, das vorn Volke unbedingten Gehorsam verlangte. Was an Napoleon oder die Revolution erinnerte, wurde abgeschafft; dagegen lebten da und dort Leibeigenschaft, Folter und Inquisition wieder auf. In Österreich führte der Minister Fürst Metternich, das Haupt der Gegenrevolution, sein strenges Regiment. Damit „der Freiheitschwindel“ nicht Wurzel fasse, wurden die Ausländer ferngehalten und durch die Pohzei aufs schärfste überwacht. Es war eine Lieblingsbeschäftigung des österreichischen Kaisers, Briefe zu erbrechen, also das Postgeheimnis zu verletzen. Harmlose Bücher und Zeitungen wurden verboten und den Untertanen der Besuch fremder Universitäten und Bäder untersagt. Metternichs unheilvoller Einfluß beherrschte ganz Deutschland. Die Studenten vereine wurden untersagt, freiheitlich gesinnte Professoren bestraft und die Turnplätze als Revolutionsherde geschlossen. Der Preußenkönig, der zur Zeit der Befreiungskriege feierlich die Einberufung einer Volksvertretung versprochen hatte, wurde zu einem elenden Wortbruche bewogen. 173 Der Haß gegen die Franzosenzeit führte zu kindischen Maßregeln. In Sardinien hob man alle neuen Gesetze auf und führte die Verordnungen von 1770 wieder ein. Die Straße über den Mont- Cenis ließ man zerfallen; in Turin wurde der schöne botanische Garten zerstört und die Beleuchtungseinrichtung im Theater ent- entfernt — nur weil diese Werke von den Franzosen stammten. Rom beseitigte die Straßenbeleuchtung und verbot die Pockenimpfung als revolutionäre Erfindung. Dafür blühte das Räuberwesen mächtig auf. Jm Königreiche Neapel allein schätzte man die Zahl der Briganten auf 30,000. In Frankreich regierten wiederum die Bourbonen. (Ludwig XVIII., ein Bruder des hingerichteten Königs). Die alte Adelspartei ging darauf aus, die ungeheure Umwälzung der letzten 25 Jahre ungeschehen zu machen. Wohl besaß Frankreich eine Verfassung; aber das Wahlrecht durften nur die Reichsten ausüben. Die Trikolore, die Fahne der Revolution, mußte dem weißen Lilienbanner der Bourbonen weichen. In den Tuilerien übernahmen wie früher Schweizersöldner die Bewachung des Königs. Die Rachelust der zurückgekehrten Emigranten, die ihre alten Besitzungen und Rechte wieder ansprachen, kannte keine Grenzen und wurde selbst dem König lästig. Obgleich er Straflosigkeit für alles Geschehene versprochen hatte, konnte er wilde Verfolgungen nicht hindern. Die napoleonischen Beamten und Offiziere wurden entfernt und durch Angehörige des alten Adels ersetzt. Im Süden erging eine regelrechte, blutige Jagd auf die ehemaligen Revolutionäre. Binnen wenigen Wochen saßen 70,000 Personen im Gefängnis. So war überall der gleiche Geist tätig. In einem Bunde, in der „heiligen Allianz“, reichten sich die Monarchen Europas brüderlich die Hand, um die Freiheit der Völker zu ersticken. Auf Kongressen verfügten sie über die Geschicke der europäischen Staaten. Jeder Widerstand gegen den Rückschritt und die Tyrannei wurde durch den Fürstenbund erdrückt. In Neapel warfen 1821 österreichische Truppen einen Aufstand nieder, während zwei Jahre später ein französisches Heer die spanische Revolution im Blut erstickte. 3. Die Schweiz unter dem Bundesvertrag von 1815. Napoleons Sturz brachte auch den Zusammenbrach seines Werkes in der Schweiz. Die Mediationsverfassung wurde durch den Bundesvertrag abgelöst (1815). Wie vor der Revolution bedeutete der Bund fast nichts, die Kantone waren alles. Sie durften auf eigene Faust 174 mit dem Ausland Verträge abschließen, und bald gab es in Frankreich, Holland, Rom und Neapel wieder Schweizerregimenter. Die Kantone konnten uneingeschränkt Zölle erheben und eigene Münzen schlagen; sie besaßen ihre besonderen Posten, und in Handel und Verkehr erhoben sich die alten Schranken. Auf der Tagsatzung übten alle Kantone, ob groß oder klein, dasselbe Stimmrecht aus. Nur im Wehrwesen machte man einige Fortschritte. Aus den kantonalen Truppen wurde ein größeres Bundesheer aufgestellt und von der Tagsatzung geleitet. Eine Zentralschule in Thun sorgte für die Ausbildung tüchtiger Offiziere. (Dufour.) Noch stärker war die Reaktion in den Kantonen. In den ehemaligen Städtekantonen hielt man das Landvolk so viel als möglich von der Regierung fern. Zürich Bern Freiburg Einwohner Gr. Räte Einwohner Gr. Räte Einwohner Gr. Räte Stadt 10,000 130 20,000 200 9,000 108 Land 200,000 82 400,000 99 86,000 36 Im Kanton Zürich waren von 13 Oberrichtern 10, von 16 Obersten 13, von 160 Geistlichen nicht weniger als 140 Stadtbürger. Fast alle Beamtungen, vorn höheren Offizier, Richter oder Pfarrer bis hinunter zum Zollaufseher und Kanzleigehilfen wurden beinahe ausschließlich von Stadtbürgern besetzt. Im Gerichtswesen fanden Hungerkost und Prügelstrafe noch Anwendung. Zeitungen und Bücher durften erst nach obrigkeitlicher Genehmigung erscheinen (Zensur). — Da der Staat für Schulen, Spitäler usw. fast nichts ausgab, waren die Steuern klein; aber sie waren ungerecht verteilt. Auf dem durch Notjahre schwer mitgenommenen Bauernstande lag noch immer die Last des Zehntens und der Grundzinse. Das Gewerbe war durch die Zünfte eingeschränkt, Handel und Verkehr wurden durch schlechte Straßen, Zölle, Brückengelder und die Stadtbefestigung erschwert, die Schule, insbesondere auf dem Lande, war ganz ungenügend, der Lehrer war der „Handlanger“ des Pfarrers. M. Neue Kämpfe um die Volksherrschaft. Die „heilige Allianz“ wollte die Menschen wieder in die frühere Abhängigkeit von Thron und Altar zurückführen; allein die Erinnerung an „Freiheit und Gleichheit“ konnte mit allen Gewaltmitteln nicht ausgetilgt werden. 175 I. Die Julirevolution (1830). Gegen die Fürstentyrannei eröffnete wiederum Paris den Sturm. Auf Ludwig XVIII. war sein Bruder Karl X., ein ausgesprochener Freund des Alten, gefolgt. Er begünstigte die Kirche, gab ihr zum Teil den alten Besitz und die früheren Rechte wieder und entschädigte den alten Adel für die erlittenen Verluste mit einer Milliarde Franken. Die Unzufriedenheit darüber äußerte sich in Spottliedern und scharfen Zeitungsartikeln; selbst die Abgeordneten, die doch nur aus den Reihen der Reichsten stammten, traten der Reaktion entgegen. Im Juli 1830 sollte ein Hauptschlag gegen das Volk geführt werden. Der König löste die Kammer auf und schränkte das Wahlrecht und die Presse noch mehr ein. Da erfolgten Straßenaufläufe und Zusammenstöße mit dem Militär. Wieder flatterte vorn Stadthaus die Fahne der Revolution, und in das Getümmel des Straßen- kampfes ertönte vorn Turm der „Notre Dame“ die Sturmglocke. Die Truppen, von denen nur die „roten Schweizer“ zuverlässig waren, mußten nach scharfem Kampfe die Stadt räumen. Noch hatte die Bürgerschaft Angst vor der Republik, die man sich nicht ohne Greuel und Blutvergießen vorstellen konnte. Daher bestieg ein Verwandter des früheren Königs, der Herzog Louis Philippe von Orleans, den Thron Frankreichs, nicht durch Gottes, sondern durch des Volkes Gnade. Die rasch verlaufene, durch keine Gewalttaten befleckte Revolution war ein Trompetenstoß, der die Freunde der Freiheit zu Taten hinriß. Von allen Befreiungsversuchen nahm aber nur die belgische Bewegung ein glückliches Ende. Das Königreich der Niederlande bestand aus zwei Ländern, die in Sprache, Religion und Beschäftigung verschieden waren. Belgien fühlte sich Holland gegenüber zurückgesetzt. Es riß sich mit bewaffneter Hand vorn Nachbarlande los und wählte einen deutschen Prinzen, Leopold von Koburg, zu seinem Könige. II. Die liberale Bewegung in der Schweiz. Auch in der Schweiz ertrug ein großer Teil der Bevölkerung die Rückkehr zum Alten nur mit Widerwillen. Einerseits verlangte man Gleichberechtigung innerhalb der Kantone, also „Freiheit und Gleichheit“, anderseits ertönten schon Rufe nach einem einigen, starken Schweizerbund. Die Anhänger dieser Ziele nannte man die Liberalen, ihre Gegner die Konservativen. Auch hier wirkte die Julirevolution belebend. I 176 1. Der Ustertag (1830). Im Kanton Zürich wünschten namentlich die Seeleute eine Verbesserung der Zustände, und ihre Bestrebungen fanden selbst in der Stadt viele einflußreiche Freunde. Durch einen deutschen Flüchtling, Dr. Ludwig Snell, ließen Küs- nachter Bürger eine Denkschrift ausarbeiten, worin sie eine Neuordnung der Verwaltung des Kantons Zürich verlangten. Als die Regierung zögerte, dieses Begehren zu erfüllen, beriefen die Liberalen auf den 22. November 1830 eine große Volksversammlung nach Uster ein. Acht- bis zehntausend Männer aus allen Gauen des Kantons leisteten dem Rufe Folge. Freudig stellte sich auch das bevorrechtete Winterthur auf die Seite des Landvolkes, und in begeisterter Tagung erklärte man sich einig mit den Wünschen des Küsnachter Memorials. Heinrich Gujer von Bauma, „der kluge Müller“, eröffnete die Versammlung. Er erklärte: „Die Änderung ist nötig, damit wir und unsere Enkel nicht aus Gnade, sondern aus Recht gut regiert werden.“ Ein Arzt, Dr. Hegetschweiler von Stäfa, der für die Stadt hatte sprechen wollen, besann sich angesichts der würdigen Versammlung eines Bessern und begann seine Rede mit den Worten: „Frei ist der Mensch, ist frei und wär er in Ketten geboren.“ St es f an von Wädenswil, Fabrikdirektor in Uster, verlangte bessere Schulbildung und versprach den Anwesenden eine Reihe Erleichterungen, was sofort eine ganze Flut von Wünschen hervorrief, von Wünschen, die nie erfüllt werden konnten, wie Herabsetzung des Zinsfußes, Verbot der Webmaschinen u. a. 2. Die Umgestaltung des Kantons Zürich. In der Stadt hatte man aus Angst vor einem Überfall Verteidigungsmaßregeln angeordnet. Der ruhige Verlauf des Ustertages machte aber so großen Eindruck, daß die Regierung dem Drängen der Landschaft nachgab. Schon nach zwei Wochen wurde ein neuer Großer Rat gewählt, in den das Land 2 /s der Vertreter abordnete. Er arbeitete die neue Verfassung aus, die im Frühjahr 1831 vorn Volke fast einstimmig angenommen wurde. Stadt- und Landbürger waren von nun an gleichberechtigt. Der Große Rat, als Stellvertreter des Volkes, galt als die oberste Behörde. Er wählte die Regierung und das Obergericht; er genehmigte Gesetze und Steuern und kontrollierte die gesamte kantonale Verwaltung. Die Verhandlungen der Behörden und Gerichte wurden öffentlich. Die Zeitungen durften ungehindert die Tätigkeit der Behörden besprechen; jeder Bürger konnte der Regierung seine Wünsche 177 kundgeben (Petitionsrecht) oder gegen ihre Entscheide den Schutz der Gerichte anrufen. Niemand durfte mehr willkürlich verhaftet werden, und die Folter wurde abgeschafft. In Bezirk und Gemeinde wählte das Volk seine Behörden selber. Handel und Gewerbe wurden freigegeben, die Vorrechte der Zünfte aufgehoben, die Stadtmauern, Wälle und Tore niedergerissen. Um Handel und Verkehr zu heben, wurden in allen Kantonsteilen neue Straßen und Brücken gebaut. Das Höchste ward aber im Schulwesen geleistet. Der Schulbesuch wurde obligatorisch erklärt und der Primärschule die Sekundärschule angeschlossen. Das in Küsnacht unter der Leitung von Dr. Thomas Scherr gegründete Seminar sorgte für die Heranbildung tüchtiger Lehrer; die Kantonsschule und die Universität übernahmen die Ausbildung von Geistlichen, Juristen, Ärzten und Professoren. Die Kosten für diese Neuschöpfungen wurden durch Steuern gedeckt, die man auf alle Bevölkerungsklassen verteilte. Den Bauern wurde die Ablösung der Grundzinse und Zehnten erleichtert, und überall zeigte sich das Bestreben, das Volk nicht nur zu regieren, sondern auch für dessen Wohl zu sorgen. 3. Die Trennung Basels (1833). Wirren in Schwyz. Das Beispiel Zürichs weckte überall Nacheiferung; aber nicht immer ging die Umwandlung so friedlich und rasch von statten. Oft genügten die Volksversammlungen nicht; es kam zu Drohungen und Aus- zügen, selbst zu Blutvergießen. So in Basel. Hier wollte die Stadt ihre Vorrechte nicht aufgeben. Als die Landleute deshalb die Stadt bedrohten, wurden sie von den Städtern besiegt; aber die Rache der Sieger entzündete einen neuen Aufstand, und bei Liestal wurden die Basier mit blutigen Köpfen heimgeschickt. Nun schloß die Stadt eine Anzahl Gemeinden aus dem Staatsverbande aus, und sofort bildeten diese einen eigenen Kanton. Nach abermaligem Blutvergießen mußte die Tagsatzung einschreiten und die feindlichen Brüder trennen. (Baselstadt und Baselland.) Auch in Schwyz kam es beinahe zur Trennung. Da Außer- schwyz (Umsiedeln, Höfe, March, Arth, Küßnacht, Gersau) von Innerschwyz keine Gleichstellung erlangte, schickte es sich an, einen eigenen Kanton zu bilden. Nur mit größter Mühe gelang es der Tagsatzung, eine Versöhnung herbeizuführen. 4. Der „Züriputsch“ (1839). Die liberalen Neuerungen folgten sich rasch und oft unvermittelt und vermochten nicht alle Wünsche Gesckiehtslehrmittel. 12 178 zu befriedigen. Im Kanton Zürich wuchs langsam eine tiefe Mißstimmung heran, die von all denen, die durch die Änderung etwas verloren hatten, von den Städtern, den Geistlichen, den abgesetzten Schulmeistern geschickt genährt wurde. Die neuen Lehrer waren an manchen Orten geradezu verhaßt; in Stadel bei Dielsdorf stürmten die Leute das Schulhaus und vernichteten die neuen Scherrschen Lehrmittel, weil sie zu wenig fromm seien. Als die Regierung den geachteten, freisinnigen Dr. David Strauß als Lehrer der Theologie an die Universität Zürich berief, wurde unter dem Rufe: „Die Religion ist in Gefahr“, dessen sofortige Absetzung verlangt. Strauß hatte nämlich ein Buch, „Das Leben Jesu“ geschrieben, in welchem er den großen Religionsstifter nicht als Sohn Gottes, sondern als Menschen darstellte. Dieses Buch machte den jungen Gelehrten berühmt und verhaßt, und die strenggläubigen Geistlichen stellten Strauß als Gottesleugner und Gotteslästerer dar. Selbst als die Regierung nachgab und Strauß, noch bevor er in Zürich eingetroffen war, entließ, gab sich das Glaubenskomitee, an dessen Spitze Hürli- mann-Landis in Richterswil und Pfarrer Bernhard Hirzel in Pfäffikon standen, nicht zufrieden. Am 6. September 1839 ließ Hirzel Sturm läuten, und aus allen Gemeinden des Oberlandes zogen bewaffnete Haufen gegen die Stadt. Während vorn See her und aus andern Kantonsteilen stets neue Zuzüge gegen Zürich heranmar- schierten, kam es auf dem Münsterplatze zu einem blutigen Zusammenstoß mit dem Militär. Dabei wurde Regierungsrat Dr. He- getschweiler, als er den Soldaten den Befehl zum Einstellen des Feuers bringen wollte, von einer Kugel tödlich getroffen. Die Regierung dankte ab und wurde durch eine konservative ersetzt. Für freisinnige Geistliche und Lehrer begannen schwere Zeiten. Thomas Scherr wurde als Seminardirektor entlassen, fand aber im Thurgau ein neues Feld segensreicher Arbeit. 5. Weitere Rückschläge. Auch anderwärts versuchten die Konservativen wieder ans Ruder zu gelangen. In Luzern erlangte ein gewandter Bauer, Leu von Ebersol, durch Frömmigkeit und glühende Beredsamkeit große Volkstümlichkeit. Gemeinsam mit dem Staatsschreiber Siegwart-Müller verstand er es, dem Volke Angst vor den religionsgefährlichen Liberalen einzuflößen. So kamen Staat und Schule wieder unter die Herrschaft der Kirche. Im Kanton Aargau erhob sich das katholische Freiamt gegen die liberale Regierung. Die Glocken läuteten Sturm, und das von 179 Geistlichen aufgewiegelte Volk marschierte gegen Aarau. Die liberale Regierung zeigte aber mehr Festigkeit als die zürcherische. Ihre Truppen schlugen die Aufständischen aufs Haupt; dann wurden zur Strafe sämtliche Klöster aufgehoben, weil man ihnen an dem Aufstande schuld gab. III. Das „tolle Jahr“ (1848). Die Kämpfe um gerechte Volksvertretung und Anteil an der Regierung kamen auch in den übrigen Ländern nicht mehr zur Ruhe; alle Polizeiverbote vermochten dagegen nicht aufzukommen. Ein Freiheitsturm, der die Throne der Fürsten ins Wanken brachte, durchbrauste neuerdings Europa. 1. Die Februarrevolution (1848). Frankreich unter dem „Bürgerkönig“. „Der Bürgerkönig“ Louis Philippe wußte sich die Liebe und Zuneigung des französischen Volkes nicht zu gewinnen. Er stützte seine Macht auf die Reichen, die vor allem zur Verwaltung des Staates herangezogen und durch die Gesetzgebung einseitig begünstigt wurden. Die kleinen Besitzer: der Handwerker, der Bauer, wie der Arbeiter waren vorn Stimmrecht ausgeschlossen. Der König selber war das Vorbild des neuen Geldadels, dessen Bestreben dahin ging, sich mit allen Mitteln zu bereichern. „En- richissez-vous!“ war die Losung unter seiner Regierung. In den Städten und ihren Vororten aber nahm das Fabrikwesen einen gewaltigen Aufschwung. Große Arbeitermassen, für welche die Regierung nichts übrig hatte, lebten dort in elenden Verhältnissen. Mehrmals versuchten sie, ihre Lage gewaltsam zu verbessern; aber sie wurden durch das Militär rücksichtslos niedergeworfen. Allgemeine Unzufriedenheit. Die Julimonarchie hatte eine Menge Gegner: Anhänger der Bourbonen, Bonapartisten und Republikaner. Nicht weniger als acht Mordanschläge wurden auf den König unternommen. Dieser antwortete mit reaktionären Maßregeln; die Preß- und Vereinsfreiheit wurden beschränkt. Als die Regierung immer rückschrittlicher wurde, sogar für den Sonder- bund in der Schweiz (Seite 184) Stellung nahm und ihn durch Waffenlieferung unterstützte, stieg die Unzufriedenheit in allen liberalen Kreisen auf einen gefährlichen Grad. Der Aufstand der Hauptstadt. Der König verschloß sich jeder warnenden Stimme und wies alle Wünsche nach einem besseren Wahlgesetze eigensinnig ab. Darum erfolgte im Februar 1848 180 ein Aufstand der Hauptstadt. Barrikaden erhoben sich in den Straßen von Paris. Die Truppen gaben den Kampf bald auf. Während der König nach England floh, wurde die Republik proklamiert. Die „Blusenmänner“ (Arbeiter), deren Werk die Revolution gewesen war, ließen sich nicht zum zweiten Male bei Seite schieben. Sie erzwängen sich von der provisorischen Regierung, in der sie ihre Vertreter hatten, das Recht auf Arbeit. In Rational Werkstätten mußte das arbeitslose, notleidende Volk beschäftigt werden. 2. Die Märzrevolution in Deutschland. Die Pariser Februarrevolution wirkte wie ein Blitzschlag auf Deutschland und brachte alles in revolutionäre Gährung. — In Wien stürzten Studenten uni Arbeiter durch einen bewaffneten Aufstand das Willkürregiment des verhaßten Fürsten Metternich, der sich vor der Volkswut flüchten mußte. Dem Kaiser wurde das Versprechen abgetrotzt, eine Verfassung zu erlassen. Das Habsburgische Reich schien aus den Fugen zu gehen; denn die verschiedenen Völker:• Italiener, Slaven, Magyaren versuchten, die Selbständigkeit zu erlangen. Auch in Berlin loderte die Revolution in hellen Flammen auf; zwischen Militär und Bevölkerung tobte ein heftiger Kampf, bis der König die Truppen aus der Stadt zurückzog und eine verfassungsmäßige Regierung versprach. Das ganze Deutsche Reich befand sich in einem Freudentaumel. Allerorten mußten die Regenten, um ihre Throne zu retten, den Volkswünschen nachgeben. 3. Der Rückschlag. Die Junischlacht. In Frankreich zeigte die Wahl der Abgeordneten, daß die Republik nur in den großen Städten ihre Stütze hatte, während die Landschaft durchaus monarchistisch gesinnt war. Die Einrichtung der Nationalwerkstätten war ganz ungenügend vorbereitet gewesen; sie leisteten darum sehr wenig, verschlangen aber große Summen und schädigten die privaten Unternehmungen durch den Entzug von Arbeitskräften; daher ging man an deren Aufhebung. Die Arbeiter aber setzten sich zur Wehre. In viertägigem Straßenkampfe (Juni 1848) warf General Cavai- gnac die Aufständischen nieder. Tausende von Toten bedeckten die Straßen, Tausende wurden verbannt. Doch nicht diesem Manne sollte die Frucht des Sieges zufallen. Mit gewaltiger Mehrheit wurde sein Mitbewerber, Louis Napoleon, durch das Volk zum Präsidenten der Republik gewählt. Die Bürgerschaft, die durch die revolutionären Zuckungen aus ihrer Ruhe aufgeschreckt worden war, wünschte eine starke Hand zur Aufrechterhaltung der Ordnung 181 und glaubte sie in dem Neffen des ersten Napoleon zu finden; der Zauber des glänzenden Namens tat das Übrige, um dessen Träger an die Spitze Frankreichs zu bringen. Der Sieg der deutschen Fürsten. Die ungeahnten Erfolge der deutschen Freiheitsbewegung weckten im Volke die Hoffnung, Deutschland in einen mächtigen Bundesstaat, mit einem Kaiser an der Spitze, umwandeln zu können. In unfruchtbaren Beratungen ließ aber die Nationalversammlung in Frankfurt die kostbarste Zeit verstreichen. Die Fürsten erhielten dadurch die Möglichkeit, ihre Macht neu zu stärken und die gestörte Ordnung wieder herzustellen. Auch in der schwerbedrohten Habsburgischen Monarchie gelang es dem Kaiserhaus, sich wieder zu befestigen. Die Hauptherde der Revolution, die Städte Prag und Wien, wurden erstürmt, die Hauptführer hingerichtet und alle gegebenen Versprechungen zurückgenommen. Nachdem die italienischen Provinzen mit Waffengewalt wieder gewonnen worden waren, unterwarf Österreich mit Hülfe der Russen und unter großen Greueln die Ungarn, die sich unter Führung Ludwig Kossuths selbständig gemacht hatten. Sie verloren alle Freiheiten. Einkerkerung, Verbannung und gehässige Verfolgung verbreitete Grabesstille über das niedergetretene Land. N. Bildung nationaler Reiche. Parallel mit dem Ringen nach Anteil an der Regierung ging bei den Völkern, die sich infolge gleicher Sprache und Sitte oder alter Beziehungen und Verbindungen als zusammengehörig und verwandt fühlten, das Bestreben, sich in einen Staat zusammenzuschließen. I. Die Einigung der Schweiz. a) Das Werden des Bundesstaates. 1. Der erste Versuch (1833). Der liberale Umschwung in den Kantonen hatte nur Wert, wenn die Errungenschaften — besonders die Erleichterung in Handel, Verkehr, Niederlassung — auf dem Gebiete der ganzen Schweiz Geltung erlangten. Daher versuchten die Liberalen eine Änderung des Bundesvertrages durchzusetzen. Sie scheiterte aber am Widerstände der Tagsatzung. Zugleich riefen die Basier- und Schwyzerwirren einer solchen Erregung, daß sich einerseits die liberalen, anderseits die konservativen Kantone 182 in besonderen Vereinigungen enge zusammenschlössen. Eine einige, starke Schweiz schien in weite Ferne gerückt. 2. Die Kloster- und Jesuitenfrage. Anfangs der 40er Jahre spitzten sich die Gegensätze immer mehr zu. Luzern und die übrigen katholischen Kantone verlangten drohend die Wiederherstellung der aargauischen Klöster. Schließlich gab der Aargau soweit nach, daß er die vier Frauenklöster wieder herstellte. Dagegen verlangte Seminardirektor Augustin Keller die Wegweisung der Jesuiten aus dem Gebiete der Schweiz. Dem wurde nicht Folge gegeben: ja, Luzern, das Haupt der Konservativen, berief den Liberalen zum Trotz diesen Orden, um ihm die Leitung der höheren städtischen Schulen zu übergeben. 3. Die Freischarenzüge (1844 und 45.) Die Luzerner Liberalen suchten mit Hilfe von Freunden aus andern Kantonen das konservative Regiment gewaltsam zu stürzen. Zweimal wurden bewaffnete Einfälle unter militärischer Leitung ins Luzernergebiet unternommen; aber beide Freischarenzüge endeten unglücklich. Einkerkerungen und harte Strafen wurden über die Teilnehmer aus dem eigenen Kanton verhängt. Für die Gefangenen, die aus andern Kantonen stammten, mußte ein Lösegeld von 350,000 Fr. bezahlt werden. Dr. Robert Steiger, der gefangene Führer der Luzerner Liberalen, wurde zum Tode verurteilt, konnte aber mit Hilfe seiner Freunde flüchten. Dagegen fiel Leu von Ebersol in seinem eigenen Hause durch die Kugel eines elenden Mörders. Die Freischarenzeit erregte alle schweizerischen Liberalen in außerordentlicher Weise. In Zürich bewirkte sie den Sturz der konservativen Regierung (1845). Die Liberalen ergriffen wiederum das Staatsruder und Dr. Jonas Furrer von Winterthur, der als Mitglied des Jürziehungsrates für die Berufung von Dr. Strauß gestimmt hatte, wurde die führende Persönlichkeit in der Regierung. Seitdem stand Zürich im Kampfe für den Fortschritt in vorderster Linie. 4. Der Sonderbund. Infolge der Freischarenzüge erweiterten die katholischen Orte ihren Bund zu einem Sonderbund. Sie versprachen einander bewaffnete Hilfe und wählten einen Kriegsrat. In Wien, Paris und Turin knüpften sie durch ihren gewandten Sekretär Bernhard Meyer Unterhandlungen an. Der Sonderbund, der den Interessen des gesamten Schweizerlandes offenbar entgegenstand, verwischte die religiöse Seite des Streites; jetzt handelte es sich nicht mehr um Klöster und Jesuiten, das Feldgeschrei lautete: 183 „Hie Schweizerbund, dort Sonderbund“. Im Vertrauen auf die Hilfe der fremden Mächte führten die Gesandten der Sonderbundskantone auf der Tagsatzung eine trotzige Sprache. Aber bis zum Sommer 1847 kam durch einen Umschwung im Kanton Genf und durch Neuwahlen im Kanton St. Gallen, im „Schicksalskanton“, eine liberale Mehrheit zustande. Diese beschloß die Auflösung des Sonderbundes, die Bundesrevision und die Ausweisung der Jesuiten. Von der Geistlichkeit eifrig unterstützt, trafen die Sonderbundskantone ihre Kriegsvorbereitungen. Sie wählten Salis-Soglio, einen konservativen reformierten Bündner, zum General. Die Tagsatzung stellte den Genfer Heinrich Dufour an die Spitze der eidgenössischen Armee. So mußte denn das Schwert entscheiden. 5. Der Sonderbundskrieg (1847). Das Gebiet des Sonderbundes bestand aus den Urkantonen mit Luzern und Zug, dem Wallis und dem Kanton Freiburg. In der Urschweiz kommandierte Salis-Soglio; Wallis und Freiburg besaßen ihre eigenen Führer. Die Streitmacht betrug 37,000 Milizen und 47,000 Mann Landsturm. Dieser Macht stand die über 100,000 Mann starke, eidgenössische Armee unter Dufours Kommando gegenüber. General Dufour, der beste schweizerische Offizier, hatte seine Ausbildung unter Napoleon erhalten und sich als Leiter der Militärschule zu Thun ausgezeichnet. Sein Plan war, den Krieg rasch und möglichst unblutig zu beenden. Ohne Schwertstreich fiel Freiburg; dann vereinigte Dufour seine Truppen zum Angriff auf Luzern, das Haupt des Sonderbundes. Als Zug kapitulierte, besetzte Salis-Soglio den Rooterberg zwischen Reuß und Zugersee und bereitete sich zur hartnäckigen Verteidigung vor. Aber nach heftigen Gefechten bei Honau, Meierskappel und Gislikon, an denen auch zürcherische Truppen in der Division des Obersten Eduard Ziegler von Zürich beteiligt waren, wurde die Sonderbundsarmee zum Rückzug auf Luzern gezwungen. Hier herrschte große Verwirrung. Regierung und Priesterpartei, selbst der General, flohen auf einem Dampfboot nach Flüelen und die eidgenössischen Truppen marschierten in Luzern ein. Rasch unterwarfen sich auch die übrigen Kantone. Nur 25 Tage hatte der Feldzug gedauert; die eidgenössische Armee hatte 78 Tote und 250 Verwundete; die Verluste des Sonderbundes waren noch geringer. Die Unterlegenen fanden milde Sieger. 184 Zwar wurden sie zur Bezahlung der Kriegskosten von 5 Millionen Franken angehalten; nachdem aber etwas mehr als ein Drittel daran bezahlt war, übernahm die Bundeskasse den Rest. Es war gut, daß der Krieg rasch beendigt worden war; denn Frankreich und Österreich waren bereit, für den Sonderbund einzutreten; doch England wirkte dem erfolgreich entgegen. Als dann 1848 wilde Revolutionswirren in Europa ausbrachen, konnte die schweizerische Eidgenossenschaft ungestört und in freier Selbstbestimmung die Bundesrevision vornehmen. b) Unter dem neuen Kunde. 1. Die Bundesverfassung von 1848 . Im Jahre 1848 erhielt die Schweiz ihre neue Verfassung. Sie verwandelte den Staatenbund in einen starken Bundesstaat, ohne die Selbständigkeit der Kantone zu vernichten. Bundesbehörden: Eine oberste Regierung, der Bundesrat, besorgt die Leitung des Landes. Er zählt sieben Mitglieder, die von der Bundesversammlung gewählt werden. Diese besteht aus Nationalrat und Ständerat. Ersterer wird vorn Volke gewählt; auf je 20,000 Einwohner kommt ein Mitglied. In den Ständerat schickt jeder Kanton zwei Vertreter. Die Bundesversammlung erläßt die Bundesgesetze und beaufsichtigt die eidgenössische Verwaltung. Die eidgenössischen Räte haben ihren Sitz in der Bnndesstadt Bern. Das oberste Gericht ist das Bundesgericht, das seit 1874 ständig in Lausanne tagt und von der Bundesversammlung gewählt wird. Die Aufgaben des Bundes sind: Wahrung der Unabhängigkeit nach außen, Pflege von Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger und Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt. Die Rechte des Bundes erstrecken sich auf: Beschlüsse über Krieg und Frieden, Bündnisse und Verträge mit dem Ausland, Münz-, Zoll- und Postwesen, Maß und Gewicht, Ausbildung der Spezialwaffen (Artillerie, Kavallerie und Genietruppen) und Verwendung des Bundesheeres, Errichtung einer eidgenössischen Universität und einer polytechnischen Schule. Rechte der Bürger: Dem Volke wird Rechtsgleichheit, Glaub ens-*, Gewissens-, Niederlassungs-**, Gewerbe- und Handels- * Sie erstreckte sich nur auf die anerkannten christlichen Bekenntnisse. ** Mit gewissen Einschränkungen, z. B.: Siehe Fußnote *, kein Ge- ineindestimmrecht, Vermögensausweis. Die Jesuiten bleiben ausgewiesen. sreiheit, sowie Vereins- und Petitionsrecht garantiert. Jeder Bürger ist wehrpflichtig. — Die neue Verfassung wurde von 15 1 /* Kantonen gegen 6 1 /* Kantone angenommen. Zum ersten Bundespräsidenten wurde der Führer der Zürcher Liberalen, Dr. Jonas Furrer von Winterthur, gewählt. 2. Der Neuenburgerhandel (1856). Der neue Bund erhielt rasch Gelegenheit, sich zu bewähren. Infolge seiner Doppelstellung als Schweizerkanton und preußisches Fürstentum war der Kanton Neuenburg in zwei Parteien getrennt. Die Konservativen, darunter die Angehörigen des alten Adels, hielten zum König und wünschten Anschluß an Preußen; die liberalen Republikaner dagegen forderten die völlige Trennung von diesem Lande. Während des Sonder- bundskrieges ließ die konservative Regierung ihre Truppen nicht ausrücken und wurde deshalb gebüßt; bald darauf beherbergte die Stadt auch die fremden Gesandten, welche die Schweiz verhindern wollten, sich eine neue Verfassung zu geben. Als aber die Februarrevolution die Gesandten schleunigst nach Hause rief, erhoben sich die radikalen Jurassier, die „Montagnards“ von La Chaux de Fonds und Le Locle, bemächtigten sich des Schlosses und erklärten die Trennung von Preußen. Die Tagsatzung genehmigte diesen Schritt, und der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., konnte infolge der Revolution im eigenen Lande die Befreiung nicht verhindern; doch hielt er seine Ansprüche aufrecht. Im Jahre 1856 versuchten die Royalisten durch einen „Putsch“ die gewaltsame Wiederherstellung der alten Herrschaft, indem sie auf dem Schlosse die preußische Fahne aufpflanzten. Aber die Montagnards holten sie wieder herunter und machten ein halbes Tausend Gefangene. Achtzig davon wurden vor ein eidgenössisches Gericht gestellt. Darauf drohte Preußen mit Krieg. Die Schweiz stellte ein Heer unter General Dufour an die Nordgrenze; die Lage war kritisch. Da vermittelten England und Frankreich einen Frieden. Preußen verzichtete auf seine Herrschaftsrechte; die Schweiz gab die Gefangenen frei und bezahlte die Kosten. 3. Die demokratische Bewegung. Im Laufe der Zeit genügten die liberalen Verfassungen der dreißiger Jahre, die alle Gewalt in die Hände der Volksvertreter gelegt hatten, nicht mehr. Das Volk verlangte größeren Anteil an den Staatsgeschäften und Entlastung der weniger Bemittelten. Es erging der Ruf: Nicht nur alles für das Volk, sondern auch alles durch das Volk. Von den Liberalen 186 trennte sich die Partei der Demokraten ab (Demokratie — Volksherrschaft). Das kleine Baselland ging voran, doch wurde im Kanton Zürich die neue Bewegung am bedeutungsvollsten. Nach vier mächtigen Volksversammlungen in Zürich, Winterthur, Uster und Bülach, die alle am gleichen Tage (Dezember 1867) stattfanden, erfolgte die demokratische Umwandlung von 1868. Das Volk erhielt das Recht, über alle vorn Kantonsrat erlassenen Gesetze abzustimmen. (Referendum — das zu berichtende). Wenn 5000 Bürger ihre Unterschrift dazu geben, darf es selber Gesetzesvorschläge einbringen. (Initiative = Inangriffnahme einer Handlung). Auch die Wahl des Regierungsrates und der Bezirksbehörden ging an das Volk über. Zur Erleichterung der ärmeren Klassen übernahm der Staat die Ausrüstung des Wehrmannes; der Schulbesuch wurde unentgeltlich, der Salzpreis herabgesetzt; die neue Kantonalbank erlaubte die Beschaffung von Geld zu einem erträglichen Zinsfuß, und ein anderes Steuersystem (Progressivsteuer), das für die großem Vermögen und Einkommen höhere Steueransätze brachte, verlegte die Abgaben in stärkerem Maße auf die Wohlhabenden und Reichen. 4. Die Bundesverfassung von 1874. Von Zürich aus faßte die demokratische Bewegung rasch in anderen Kantonen Wurzeln und führte zu ähnlichen Bestrebungen auf dem Gebiete des Bundes. Da eine Verfassung nichts Unabänderliches sein kann, sondern dem Wechsel der Zeit und den Bedürfnissen angepaßt werden muß, wurde 1848 bestimmt, daß die Bundesverfassung jederzeit ganz oder teilweise geändert werden könne. — Das Recht dazu liegt bei der Bundesversammlung. Wenn aber nur eine Abteilung derselben die Totalrevision beschließt, die andere aber nicht zustimmt, oder wenn 50,000 Schweizerbürger sie verlangen, so muß die Volksabstimmung darüber entscheiden. Die revidierte Verfassung kommt zur Volksabstimmung und tritt nur in Kraft, wenn sie von der Mehrheit der Stimmenden und der Kantone angenommen wird. — 1874 kam eine Gesamtänderung der Verfassung zustande. Sie nahm den Kantonen eine Reihe Befugnisse und übertrug sie dem Bunde, der dadurch wesentlich gestärkt wurde. Die wichtigsten Neuerungen betreffen folgende Gebiete: Militärwesen. Die Einheit wird verstärkt, indem der Bund den gesamten Unterricht und die Bewaffnung übernimmt. Rechtswesen. Obligationen-, Handels- und Wechselrecht 187 werden eidgenössisch. Die Todesstrafe* und die körperlichen Strafen sind abgeschafft. Kirchenwesen. Die kirchlichen und die bürgerlichen Verhältnisse wurden getrennt. Die Führung der Zivilstandsregister (Eheschließungen, Geburten, Todesfälle) wird den Geistlichen entzogen und bürgerlichen Behörden übertragen. Die Errichtung neuer und die Wiederherstellung aufgehobener Klöster, jeder kirchliche Zwang sind untersagt: „Niemand darf zur Teilnahme an einer religiösen Genossenschaft oder an einem religiösen Unterrichte oder zur Vornahme einer religiösen Handlung gezwungen oder wegen Glaubensansichten mit Strafen irgendwelcher Art belegt werden". Schulwesen. Die Kantone haben für genügenden Primar- schulunterricht zu sorgen, der ausschließlich unter staatlicher Leitung stehen soll. Dieser Unterricht ist obligatorisch und für öffentliche Schulen Unentgeltlich. Volkswirtschaft. Das Telegraphenwesen, die Gesetzgebung über Bau und Betrieb von Eisenbahnen sind Bundessache. Der Bund hat das Recht, Vorschriften über die Ausübung von Fischerei und Jagd, namentlich zum Schutze des Hochwildes, sowie zum Schutze der für die Land- und Forstwirtschaft nützlichen Vogel zu treffen. Er darf Gesetze über das Fabrikwesen (Verwendung von Kindern; gesundheitsschädliche Betriebe) erlassen; er erhält die Oberaufsicht über die Wasserbau- und Forstpolizei im Hochgebirge** (Verbauung der Wildbäche). Volksrechte. Durch das fakultative Referendum erhält das Volk direkten Einfluß auf die Gesetzgebung. 30,000 stimmberechtigte Schweizerbürger oder acht Kantone können eine Volksabstimmung über ein Bundesgesetz verlangen. 5. Vermehrte staatliche Einheit. Ausbau der Volksrechte. Seit der Bundesrevision von 1874 hat das Bestreben, in der Schweiz gleichmäßigere und einheitlichere Zustände zu schaffen, große Erfolge zu verzeichnen. Zunächst wurde das metrische Maß- und Gewichtsystem eingeführt. Das Fabrikgesetz regelte die Arbeitszeit und die Verwendung junger Arbeitskräfte in den Fabriken. Die eidgenössische Kranken- und Unfallversicherung, die 1912 * 1879 wurde das Verbot wieder aufgehoben. ** „Im Hochgebirge“ 1897 aufgehoben; also nun über das ganze Forstgebiet ausgedehnt. 188 angenommen wurde und für die ein Fonds von 40 Millionen Franken besteht, sorgt für Kranke und Verunfallte. Die Volksschule und die beruflichen Unterrichtsanstalten werden vorn Bunde unterstützt. Das Alkoholmonopol übergibt dem Bunde die Herstellung und den Verkauf gebrannter Wasser; ein Zehntel des Reinertrages wird zur Bekämpfung der Trunksucht verwendet (Alkoholzehntel). Die Eisenbahnen sind (1898) um zirka eine Milliarde Fr. vorn Bunde erworben worden. Die Nationalbank, die allein das Recht hat, Noten auszugeben, hat 1907 ihre Tätigkeit aufgenommen. Im gleichen Jahre erfuhr das Militärwesen dadurch eine Verbesserung, daß die Dienstzeit auf die jüngeren Jahre verlegt wurde. Das neue Zivilgesetzbuch, das 1912 in Kraft getreten ist, bringt gleiches Recht für alle, hebt also die 25 verschiedenen Rechtszustände auf. Ein eidgenössisches Strafrecht ist in Bearbeitung. 1891 erfolgte auch ein weiterer Ausbau der Volksrechte durch die Einführung der Verfassungsinitiative. Die Volksanregung umfaßt das von 50,000 stimmberechtigten Schweizer bürgern gestellte Begehren auf Erlaß, Aufhebung oder Abänderung bestimmter Artikel der Bundesverfassung. 6. Stellung der Schweiz zum Auslande. Die Stärkung des schweizerischen Staatswesens hat seine Stellung unter den Völkern Europas entschieden günstig beeinflußt. Ihre Unabhängigkeit wurde von keiner Seite angetastet, obgleich ihre freiheitlichen Einrichtungen den monarchischen Staaten nicht eben erwünscht sein konnten. Zum Teil auf Anregung der Schweiz hin sind in der letzten Zeit eine Reihe von Verträgen zwischen den wichtigsten Völkern der Erde zustande gekommen, die besonders der Erleichterung des Verkehrs zu dienen haben. Unserem Lande ist die Ehre zuteil geworden, Sitz dieser internationalen Ämter zu werden, zu deren Direktoren gewöhnlich hervorragende Schweizer gewählt werden. (Weltpostverein, Telegraphenamt, Eisenbahn-Frachtverkehr, Amt für geistiges Eigentum.) Auf Anregung des Genfers Henri Dunant wurde die Genfer Konvention (Rotes Kreuz) gegründet, der alle Kulturvölker der Erde angehören, und welche die Schrecken des Krieges dadurch zu mildern versucht, daß sie Verwundete und Sanitätspersonal als unverletzlich erklärt. Mehrmals hatten Schweizer Staatsmänner bei internationalen Schiedsgerichten mitzuwirken, ein Zeichen, daß man ihre Tüchtigkeit auch im Auslande zu schätzen wußte. 189 II. Die Einigung Italiens. 1. Staatliche Zerrissenheit und Fremdherrschaft. Seit Jahrhunderten zerfiel die Apenninenhalbinsel in eine Reihe kleiner Reiche. Die Zeit nach der französischen Revolution hatte zwar auch hier andere Verhältnisse und mehr Einheit gebracht; aber nach Napoleons Sturz kehrten die vertriebenen Herrscher, die meist fremden Fürstenhäusern angehörten, wieder zurück. Neapel-Sizilien stand als „Königreich beider Sizilien“ unter den Bourbonen; der Papst gebot über den Kirchenstaat, d. h. über Rom und einen großen Teil von Mittelitalien; Verwandte des österreichischen Kaiserhauses herrschten über das Großherzogtum Toskana und die Herzogtümer Modena und Parma; Venezien und die Lombardei waren österreichisches Gebiet, und nur der Rest, Piemont, Sardinien und das heute französische Savoyen und Nizza standen als Königreich Sardinien unter einheimischen Herrschern, dem Fürstenhaus der Savoyer. Schwer lastete überall der Einfluß des rückschrittlichen Österreich auf dem armen Lande. 2. Verschwörungen und Befreiungsversuche. Um die Fremdherrschaft abzuschütteln und ein einiges Italien zu bilden, entstanden im Anfang des XIX. Jahrhunderts Geheimbünde. Die bedeutendste dieser Vereinigungen, die der „Carbonari a , zählte bald über 60,000 Mitglieder, darunter viele Gelehrte und Offiziere. Aber alle Befreiungsversuche wurden durch österreichische Bajonette unterdrückt. Durch Verbannung und Einkerkerung der Teilnehmer glaubten die Herrscher, den nationalen Gedanken unterdrücken zu können. Vergebens! Das Wort: „Wir Italiener alle sind Söhne einer gemeinsamen, schönen und, wenn wir wollen, glücklichen und starken Mutter", fand mächtigen Widerhall. Eine neue Verbindung der Patrioten, „das junge Italien“, an deren Spitze der feurige Mazzini stand, einigte alle freiheitlichdenkenden Männer. Man wollte endlich gegen die schlimmste der drei Landplagen (Fieber — Pfaffen — Deutsche), die Fremdherrschaft, vorgehen. In der Lombardei und in Venetien, wo das österreichische Polizeiregiment besonders verhaßt war, brach man allen Verkehr mit den Fremden ab. Die Einheimischen verließen die Restaurants, wenn österreichische Offiziere eintraten. Sogar des Tabaks und des Lotteriespiels enthielt man sich, um die Einnahmen der Regierung zu schmälern. 3. Sardinien im Kampf gegen Österreich (1848/49). Das Beispiel, das die Schweiz gegeben hatte, reizte die Italiener zur Nach- 190 eiferung. Italien sollte nicht mehr bloß ein „geographischer Begriff“ sein. In den größeren Staaten erzwäng sich das Volk freiheitlichere Zustände (Verfassungen) und Parma und Modena verjagten ihre verhaßten Herrscher. Auf die Kunde von den Ereignissen in Paris und Wien erhoben sich auch die Lombardei und Venetien. Karl Albert, König von Sardinien, warf sich, zum Teil aus Angst vor der Einführung der Republik, zum Führer der Einheitsbestrebungen auf und erklärte Österreich den Krieg. Auch andere italienische Staaten ließen ihre Truppen in die Lombardei einrücken. Notgedrungen schloß sich auch Neapel an. „Italien wird die Einigung ganz allein zustande bringen“, jubelte das Volk. (Ausspruch Karl Alberts.) Aber man hatte den Gegner unterschätzt. Der tüchtige österreichische Feldmarschall Radetzky hielt im Festungsviereck Peschiera-Verona-Mantua-Legnago stand. Dazu kam die Uneinigkeit der Italiener. Die republikanische Partei unter Mazzini erregte Unruhen, so daß die meisten Hülfsvölker zurückgezogen wurden. In neunstündigem Heidenkampfe bei Custozza erlag Karl Albert, und Mailand fiel wieder an Österreich. Nach einer zweiten Niederlage (1849) dankte er, entmutigt durch die Gegnerschaft der Republikaner und den Abfall der Fürten, ab, nachdem er vergeblich im Kugelregen den Tod gesucht hatte. Nur so konnte der hochherzige König Sardinien einen ordentlichen Frieden sichern. Die Angst vor dem Volke war vorbei: österreichische Bajonette stellten die alten Zustände wieder her. In Rom, wo unter dem Freischarenführer Garibaldi die Republikaner eine Zeit lang die Oberhand gewonnen hatten, zog mit französischer Hilfe der Papst wieder ein. In häßlichem Rachedurst ließ er in einem Jahre 1644 „politische Verbrecher“ hinrichten. Graf Haynau bestrafte die Stadt Brescia, die im Rücken der österreichischen Armee einen Aufstand erhoben hatte, mit unmenschlicher Grausamkeit, so daß ihm der Beiname „die Hyäne von Brescia“ für alle Zeiten blieb. In Neapel sah man ehemalige Generäle und Minister mit gemeinen Verbrechern, Dieben und Mördern auf den Galeeren. 4. Camillo Cavour. Nach 1849 war Sardinien unter Viktor Emanuel der einzige Staat, der dem italienischen Volke Wort hielt und ihm seine Freiheiten ließ. Hier sammelten sich die verbannten Patrioten der ganzen Halbinsel. An der Spitze der sardinischen Regierung stand in dieser Zeit der treffliche Graf Cavour. Sein Ziel war die Befreiung Italiens von der Fremdherrschaft und dessen 191 Einigung unter dem savoyischen Königshause. Es gelang ihm, auch die Republikaner für seine Bestrebungen zu gewinnen und so die nötige Einheit für einen neuen Kampf zu erzielen. Vor allem bestrebte er sich, Sardinien für seine Rolle im Befreiungskrieg geeignet zu machen. Zur Hebung des Wohlstandes ließ er Eisenbahnen bauen und Seehäfen anlegen. Er schloß mit dem Ausland Handelsverträge ab, gründete Schulen und stärkte die Wehrkraft des Landes. Zum Schutze der Flotte wurde der Hafen von Spezia befestigt. Alessandria versah er mit 100 neuen Kanonen. Doch war es ihm klar, daß Sardinien ohne Bundesgenossen Österreich nicht gewachsen sei. Deshalb suchte er sich England und Frankreich günstig zu stimmen, indem er 15,000 Sardinier am Krimkrieg teilnehmen ließ, den die beiden Westmächte gegen Rußland führten. 5. Die Befreiung der Lombardei (1859). Allein der Kaiser der Franzosen, Napoleon III., zögerte, auf die Wünsche Cavours und der italienischen Patrioten einzugehen. Da beschleunigte ein unerwartetes Ereignis die Entschlüsse des Franzosenkaisers. Als er am 18. Januar 1858 ins Theater fuhr, platzte vor seinem Wagen eine Bombe, die zehn Personen tötete und 140 verwundete. Napoleon III. selber blieb unverletzt. Der Urheber des Anschlages war der italienische Graf Orsini. Er hatte den Kaiser töten wollen, um, wie er meinte, das Haupthindernis der Befreiung Italiens zu beseitigen. Noch aus dem Gefängnis schrieb Orsini an Napoleon III.: „Befreien Sie mein Vaterland, und der Segen von 23 Millionen Bürgern wird Ihnen auf die Nachwelt folgen.“ Wirklich schloß jetzt der Kaiser mit Sardinien ein Bündnis. Vor dem vereinigten französisch-sardinischen Heere mußten die Österreicher zurückweichen. Nach der blutigen Schlacht von Magenta zogen Napoleon III. und Viktor Emanuel unter dem Jubel der Bevölkerung in Mailand ein. „Italien soll frei sein bis zur Adrial“ versprach der Kaiser den Patrioten, und der nachfolgende, große Sieg bei Sol- ferino schien das Wort wahr zu machen. Allein Napoleons Siegeszug hatte das Mißtrauen Preußens geweckt. Es schien nicht übel Lust zu haben, Frankreich am Rhein anzugreifen. Der Kaiser sah sich gezwungen, einen Frieden zu schließen, der wenigstens die Lombardei an Sardinien brachte. (Friede von Zürich.) Allerdings mußte Viktor Emanuel dafür dem Franzosenkaiser sein Stammland Savoyen und Nizza überlassen. Zum größten Leidwesen der Patrioten blieb Venetien „unerlöst“. 192 Der Savoyerhandel. (1859/60.) Die Abtretung Savovens hätte beinahe zu ernsten Verwicklungen zwischen Frankreich und der Schweiz geführt. — In Berücksichtigung alter Rechte aus der Zeit der Eroberung der Waadt durch Bern hatte der Wienerkongreß Nordsavoyen in die Neutralität der Schweiz einbezogen und ihr für Kriegszeiten das Besatzungsrecht zugesprochen. Die Schweiz versuchte nun, diese Landstriche für sich zu bekommen, und 12,000 Bürger Nordsavoyens forderten den Anschluß an unser Land. Napoleon III., der anfänglich auf diese Wünsche einzugehen schien, vollzog aber die Vereinigung mit Frankreich, nachdem in einer beeinflußten Volksabstimmung Savoyen seine Zustimmung erklärt hatte. In der Schwe^ verlangten weite Kreise einen Waffenentscheid; doch siegte die Ansicht, daß ein Krieg mit dem mächtigen Nachbarn einer rechtlichen Grundlage entbehre und aussichtslos sei. 0. Der Anschluß Mittelitaliens. (1860). Noch während des Kamp-» fes mit Österreich hatte das Volk in den Kleinstaaten Parma und Modena, sowie in Toskana die Fürsten zur Flucht veranlaßt. Nach den Bestimmungen des Friedens von Zürich sollten diese fremden Herrscher wieder in ihre „Rechte“ eingesetzt werden; aber dagegen sträubten sich die Untertanen. Fast einmütig beschlossen sie durch Volksabstimmungen die Vereinigung mit Sardinien, und da Napoleon keine Einmischung Österreichs zu gunsten dieser Fürsten duldete, wurde der Anschluß vollzogen. 7. Garibaldi erobert das Königreich beider Sizilien. (1860). Während des Krieges hatte sich der kühne Freischarenführer Garibaldi aus Nizza hervorgetan. Die Erfolge des Volkes in Mittelitalien ermutigten ihn zu einer tollkühnen Tat. Er sammelte in Genua zirka 1000 Freiwillige, bemächtigte sich zweier Dampfer und fuhr damit, von Cavour heimlich mit Gewehren und Geld unterstützt, nach Sizilien, wo er in Marsala landete. Neapel und Sizilien sollten ebenfalls zum Anschluß gezwungen werden. Das schien um so eher möglich, als die gefährlichsten Gegner, vier Regimenter schweizerischer Soldtruppen, vor Jahresfrist abgedankt worden waren. Das Volk jubelte dem bescheidenen Manne in der roten Bluse, der „im Namen Viktor Emanuels, des Königs“, die Oberleitung gegen die königlich-neapolitanischen Truppen übernahm, begeistert zu. Trotz ihrer Überlegenheit mußten diese in kürzester Zeit die Insel räumen. Und nun kam Garibaldi, „der Mann mit dem Herzen von Gold, aber mit dem Nacken eines Stiers“, fast ohne Begleitung nach Neapel. Der König floh. Ohne weitere Kämpfe fiel fast das ganze Königreich dem Freiheitshelden zu. Jetzt ließ Viktor Emanuel seine Truppen durch den Kirchenstaat, dessen Norden und Osten ihm zufielen, in Neapel einmarschieren. — Das letzte Ziel dar Patrioten, 193 Rom, konnte Garibaldi allerdings nicht erreichen. Über dem Papst hielt Napoleon seine schützende Hand. Verstimmt zog sich Garibaldi, jede Auszeichnung und Belohnung verschmähend, auf sein Felseneiland Caprera bei Sardinien zurück. 8. Die Erwerbung Venetiens. (1866). Der Einigungsgedanke schlummerte nicht. Viel war schon erreicht. Viktor Emanuel trug seit 1861 den stolzen Titel „König von Italien“; aber die Partei Garibaldis wollte sich mit dem Bestände des neuen Reiches noch nicht zufrieden geben. Alle italienisch-sprechenden Gebiete, also Venetien und Rom, ja sogar Istrien, Welschtirol und der schweizerische Tessin sollten angegliedert werden. 1866 zeigte sich die Gelegenheit, dem Ziele einen Schritt näher zu kommen. Zu einem Krieg mit Österreich suchte Preußen Freundschaft und Bündnis mit Italien. Viktor Emanuel ergriff diese Gelegenheit, um Venetien zu gewinnen. Zwar wurde seine Landarmee bei Custozza geschlagen und die italienische Flotte bei Lissa vernichtet; doch erhielt er dank der Siege des preußischen Bundesgenossen das schöne Venetien. Es war die Belohnung dafür, daß er Österreich zu einer Teilung der Streitkräfte gezwungen hatte. 9. Italien erhält seine Hauptstadt. (1870). Mit der Losung „Rom oder Tod“ hatte Garibaldi zweimal vergeblich versucht, die ewige Stadt zu gewinnen. Erst als Napoleon 1870 den Patz nicht mehr zu schützen vermochte, fiel Rom an Italien. Am 20. September standen die Truppen Viktor Emanuels vor der Stadt. Da die Päpstlichen die Übergabe verweigerten, schössen die Italiener eine Bresche in die Stadtmauer, und unter ungeheurem Jubel zogen die königlichen Soldaten in die Stadt ein. Die päpstlichen Söldner wurden entwaffnet und in ihre Heimat entlassen. Das geeinigte Italien hatte seine natürliche Hauptstadt. 10. Italien als Großmacht. (Seit 1871.) Es war nicht leicht, den neuen Staat zu ordnen. Vor allem fehlte es an Geld. Ein Hindernis der Entwicklung bildete und bildet zum Teil heute noch der Großgrundbesitz, der eine richtige Ausnutzung des Bodens ver- unmöglicht. Vielenorts sind die Bauern nur Pächter, die in unwürdiger Abhängigkeit gehalten werden. Das Pachtsystem und die ungerechte Steuerverteilung veranlassen jetzt noch Tausende von fleißigen Arbeitern auszuwandern, um ihr Glück in der Fremde zu suchen. Bedeutende Industrien konnten nur im Norden festen Fuß fassen, während der Süden weniger regsam ist. Mit der Schul- < «escbichtslehrinittei. ] 3 194 bildung stand es im ganzen Lande schlimm, bis 1877 der allgemeine Schulzwang für das 6.—9. Jahr eingeführt wurde. Im Süden und auf den Inseln aber läßt das Schulwesen immer noch sehr zu wünschen übrig, da die Gemeinden, denen der Staat keine Beiträge leistet, dem Unterricht oft keine Aufmerksamkeit schenken wollen oder können. Einen Beweis für den tiefen Stand der Bildung bildet die hohe Zahl von Analphabeten. — In neuester Zeit nimmt Italien, das sich durch den Abschluß des sog. Dreibundes mit Deutschland und Österreich gegen allfällige Feinde zu sichern gesucht hat, dank seiner reichen Bodenerzeugnisse und seines wachsenden Handels einen unverkennbaren Aufschwung. III. Die Einigung Deutschlands. 1. Der Deutsche Bund. Das gewaltige Ringen gegen den französischen Eroberer Napoleon I. hatte das Nationalgefühl der Deutschen gestärkt. Sie hofften, ein freies und einiges Volk zu werden. Aber ihre Erwartungen wurden bitter enttäuscht. Der Bund, der an Stelle des alten Deutschen Kaiserreiches trat, war ein lockerer, kraftloser Staatenbund. Unter Österreichs Leitung tagte in Frankfurt a. M. der Bundestag, eine Vereinigung der Gesandten der 39 verschiedenen Bundesglieder. Metternichs unheilvoller Einfluß lahmte alle Entwicklung und verunmöglichte jede Neuerung. 2. Das Frankfurter Parlament. (1848.) Die Revolutionswelle, die 1848 Europa durchflutete und alles Hergebrachte und Alte ins Wanken brachte, schien auch den morschen Deutschen Bund hin- wegzuspülen. Das Volk verlangte ein einiges Deutsches Reich und wählte ein Parlament, das in Frankfurt a. M. zusammentrat, um die neue Reichsordnung zu schaffen. Rasches und energisches Handeln war dringend nötig, um den gedemütigten Fürsten keine Zeit zu lassen, ihre Macht neu zu befestigen. Obgleich das Parlament viele hervorragende Männer zählte, leistete es keine praktische Arbeit. Ein Hauptstreit entbrannte darüber, wem die Leitung des geeinigten Reiches zufallen solle. Es war nicht daran zu denken, daß einer der zwei Großstaaten, Preußen und Österreich, dem andern sich unterordnen werde; deshalb erlangten schließlich die Kleindeutschen, die Preußens Führung und den Ausschluß Österreichs verlangten, den Sieg über die Großdeutschen, die dieses auch weiter im Bunde und an dessen Spitze sehen wollten. Weil aber der Preußenkönig die Kaiserkrone als „ein Reif aus Dreck 195 und Letten“ ausschlug, brach das Parlament zusammen. Vergebens erfolgten Aufstände in Süddeutschland, um eine Einigung zu erzwingen oder eine Republik einzurichten; preußische Waffen erstickten in blutigen Kämpfen jeden Widerstand. 3. Die Erstarkung Preußens. Die Anstrengungen des Volkes, die Einheit Deutschlands zu erringen, waren kläglich gescheitert. Nun übernahm, ähnlich wie Sardinien in Italien, Preußen die Führung der nationalen Bestrebungen. Mit Prinz Wilhelm (1850 Regent, 1861 König) trat ein ausgesprochener Soldat an die Spitze des preußischen Staates. Die Stärkung des Heerwesens erschien ihm als das nächste Ziel. „Preußens Heer muß mächtig und angesehen sein, um, wenn es gilt, ein schwerwiegendes Gewicht in die Wagschale legen zu können“, sagte er. Unter dem tüchtigen Kriegsminister v. Roon erfahr das Militärwesen Preußens eine tiefgreifende Umgestaltung, indem die allgemeine Wehrpflicht, die bis dahin nur auf dem Papier gestanden hatte, durchgeführt wurde. Die aktive Dienstzeit (Linie) betrug drei Jahre, nachher verblieb der Wehrmann noch vier Jahre in der Reserve und fünf in der Landwehr, sodaß für den Kriegsfall eine Feldarmee von 400,000 Mann (Linie und Reserve) zur Verfügung stand. Aber die 49 neugeschaffenen Regimenter kosteten ungeheure Summen, die zu bewilligen die Abgeordneten sich weigerten. 4. Bismarck. Da berief der König in seiner Not, zum Schrecken aller fortschrittlich Gesinnten, als Minister Otto v. Bismarck, einen Junker, der einst gegen die preußische Verfassung geeifert und sich gegen die deutsche Einheit geäußert hatte. „Nicht durch Reden und Parlamentsbeschlüsse“, rief der neue Minister den Abgeordneten zu, „werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Blut und Eisen.“ Als sie dennoch ihre Zustimmung zu den Militärausgaben versagten, setzte er in gewalttätiger Weise seinen Willen durch, regierte ohne Budget und hob, um seine Gegner zu treffen, sogar die Preßfreiheit auf. König Wilhelm, der nahe daran gewesen war, abzudanken, ließ den ebenso gewaltigen, wie in ganz Deutschland verhaßten Staatsmann gewähren. Bismarcks Pläne gingen dahin, die Leitung Deutschlands in die Hand zu bekommen. Als der österreichische Kaiser eine Einigung unter seiner Führung anbahnen wollte, widersetzte sich Preußen, indem es an dem einberufenen Fürstenkongreß keinen Anteil nahm und ihm dadurch jede Bedeutung raubte. 196 5. Der Schleswig-Holsteinische Krieg. (1864). Seit Jahren lag der Deutsche Bund mit Dänemark im Streit, weil dieses die Rechte Holsteins, eines Bundesgliedes, mißachtete. 1863 vereinigte König Christian Schleswig mit seinem Reiche, trotzdem vertraglich festgesetzt war, Schleswig und Holstein sollten „ewig ungetrennt bleiben“. Aber nun rückten im Namen des Deutschen Bundes österreichische und preußische Truppen in die Grenzlande ein und warfen die Dänen zurück. — Über die Verwaltung der beiden eroberten Herzogtümer entspann sich bald ein heftiger Streit. Bismarck hätte sie gerne Preußen einverleibt, während Österreich einen neuen Kleinstaat unter seinem Einfluß wünschte. Schließlich einigte man sich dahin, daß Preußen Schleswig und Österreich Holstein verwalte. Aber auch jetzt hörte der Zank nicht auf. 6. Der erste Schritt zur Einigung: Der Deutsche Krieg (1866), Die Machtmittel der beiden Gegner, die um die Vorherrschaft in Deutschland rangen, schienen auf den ersten Blick sehr ungleich, Außer einigen kleineren mittel- und norddeutschen Gebieten stand — schon aus Haß gegen den gewalttätigen Bismarck — der ganze Deutsche Bund zu Österreich. Hingegen schloß Italien, das Venetien zu gewinnen hoffte, mit Preußen einen Schutz- und Trutzbund, Jetzt zeigte sich der Erfolg der preußischen Heeresreform. Unter Moltkes Leitung überraschten die mit dem Zündnadelgewehr, dem ersten praktischen Hinterlader, versehenen Preußen die Bundesheere. In drei Tagen waren Hannover, Kurhessen und Sachsen in ihren Händen. Zugleich waren drei Armeen in Böhmen eingefallen, In der mörderischen Schlacht vonKöniggrätz (oder Sadowa)schlugen sie die Österreicher aufs Haupt und marschierten gegen Wien. Auch in Süddeutschland, am Main, waren die preußischen Waffen siegreich. Die Erfolge Österreichs in Italien waren dem gegenüber ohne größere Bedeutung. Der Friede brachte Preußen eine gewaltige Machtvergrößerung: Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt wurden seinem Gebiete einverleibt. Österreich wurde aus dem Deutschen Bunde gestoßen. Die führende Stellung in Deutschland nahm jetzt Preußen ein, das durch die Gründung des Norddeutschen Bundes die Gebiete bis zum Main an sich kettete. Als Bundespräsident und Bundesfeldherr amtete der König von Preußen. Aus Rücksicht auf Frankreich verzichtete Bismarck einstweilen auf den Beitritt der süddeutschen Staaten, doch schloß er mit ihnen einen 197 geheimen Schutz- und Trutzbund. — Durch das erlittene Unglück wurde Österreich auch entgegenkommender gegenüber Ungarn. 1867 erfolgte ein Ausgleich, nach dem die Monarchie in zwei Teile geteilt wurde, die aber, da sie das Kriegswesen und den Herrscher gemeinsam haben, nach außen doch noch als ein Reich erscheinen. 7. Der Deutsch-Französische Krieg (1870/71). a) Veranlassung. Das zweite französische Kaiserreich: Napoleon III. Napoleon benutzte die Zeit seiner Präsidentschaft vornehmlich dazu, sich den Weg zum Kaiserthron zu ebnen. Er verschaffte seinen Anhängern die höchsten Offiziersstellen und gewann die Geistlichkeit durch den Schutz, den er dem Papste angedeihen ließ. Nach dem Gesetz war eine Wiederwahl des Präsidenten unzulässig. Da ließ am 2. Dezember 1851 Napoleon die bedeutendsten gegnerischen Abgeordneten verhaften und die Sitzungssäle schließen. Ein Aufstand der Republikaner hatte keinen Erfolg; Paris blieb kalt und ließ sich den „Staatsstreich“ gefallen. In einer allgemeinen Volksabstimmung wurde Napoleon erst zum Präsidenten auf zehn Jahre, dann ein Jahr später zum erblichen Kaiser gewählt. Der neue Herrscher verstand es, die Franzosen vergessen zu lassen, auf welche Weise er auf den Thron gekommen war. Unter seiner Regierung nahm Frankreich während zehn Jahren unbestritten die erste Stelle in Europa ein und erfreute sich auch in wirtschaftlicher Hinsicht, in Handel und Industrie, eines gewaltigen Aufschwungs. Im Krimkrieg demütigte Napoleon im Verein mit England und Sardinien das stolze Rußland; die italienischen Befreiungskriege brachten dem französischen Heere neue Lorbeeren. Allein in den sechziger Jahren begann der Stern des Kaisers vor dem aufsteigenden Preußen zu erbleichen. AIs er nach 1866 Abtretungen am Rhein verlangte, weil er sich in den Deutschen Krieg nicht eingemischt habe, trat ihm Preußen schroff entgegen und erlaubte ihm nicht einmal, das kleine Luxemburg zu Frankreich zu schlagen. Ebenso mißlang der Versuch Napoleons, in Mexiko ein französisches Vasallen-Fürstentum zu begründen. Mit Neid mußte man dagegen in Paris auf die Erfolge Preußens blicken. Es ist so begreiflich, daß der Hof auf den Gedanken kam, durch einen glänzenden Krieg mit diesem Nebenbuhler das gesunkene Ansehen des Kaisertums wieder zu heben. Sehr entgegen dem persönlichen Willen Napoleons drängten seine Ratgeber fortwährend zu einem Bruch mit Preußen und benutzten den nächsten Anlaß hiezu. 198 Die spanische Thronfolge. Die Spanier wünschten den Prinzen Leopold von Hohenzollern, einen Verwandten des Preußenkönigs, zum Herrscher. Natürlich eiferten die Franzosen gegen eine solche Stärkung des preußischen Einflusses in Europa, und als Leopold, um des Friedens willen, die Krone ablehnte, verlangte die französische Regierung, König Wilhelm müsse die Erklärung abgeben, daß der Hohenzoller für alle Zeiten Verzicht leiste, außerdem habe der König eine Art Entschuldigungsschreiben an Napoleon zu richten. Als Wilhelm diese Zumutung zurückwies, erfolgte von Seiten Frankreichs die Kriegserklärung. b) Die beiden Gegner. Frankreich glaubte, in diesem Waffen- gange auf Österreich zählen zu dürfen, das die Gelegenheit zur Rache für 1866 („Rache für Sadowa“) wohl ergreifen werde. Ebenso hoffte es auf Italien und auf die Neutralität oder gar den Anschluß Süddeutschlands. Großes erwartete das Heer von dem neuen Hinterladergewehr, dem Chassepot, und von der Mitrailleuse, einer Art Kugelspritze. Den Gegner achtete man in Paris gering. Man sprach leichtsinnig von einem „militärischen Spaziergang nach Berlin“. Da der Kriegsminister versicherte, „alles sei bereit bis auf den letzten Gamaschenknopf“, glaubte man, die französischen - Heere werden nun rasch über den Rhein setzen, durch Süddeutschland marschieren und die Preußen aufsuchen. — Allein diese Rechnung zeigte sich als grundfalsch. Der Staatskunst Bismarcks gelang es, die Mächte Österreich und Italien von der Teilnahme am Kriege abzuhalten. Süddeutschland stellte sich wie ein Mann an die Seite Preußens. Das Schlimmste aber war der traurige Zustand der französischen Armee. Eine Reorganisation derselben nach preußischem Muster war auf den Widerstand der Volksvertretung gestoßen, sie trotzdem durchzuführen, wie in Preußen, war in Frankreich unmöglich. Es fehlte an rechtzeitig bewilligten Mitteln, an einer richtigen Verpflegung der Truppen. Vorräte waren wohl da, aber nicht an den Orten, wo man sie brauchte. Offiziere fanden ihre Truppen nicht, Soldaten irrten umher. Von einem Vorstoß der französischen Rheinarmee, die sich unter Bazaine bei Metz sammelte, konnte keine Rede sein. Ganz anders lagen die Dinge in Deutschland. Moltke „hatte nur den längst fertigen Kriegsplan aus der Schublade zu ziehen“. In 11 Tagen standen bereits auf deutscher Seite eine halbe Million Mann im Felde, die sich in drei Heeren sammelten und anfangs August 1870 in Elsaß und Lothringen eindrangen. 199 c) Die Vernichtung der kaiserlichen Armeen. Während des Anmarsches der Deutschen blieben die französischen Armeen aus Mangel an richtiger Organisation und Verpflegung untätig. In heldenhaftem Kampf erstürmten die Verbündeten die elsäßische Grenzstadt Weißenburg und zwangen durch den Sieg bei Wörth und Kröschweiter den Marschali Mac Mahnn zum Rückzug. Gleichzeitig wurde durch die Schlacht bei Spichern die Hauptarmee zurückgeworfen. Dann gelang es der Kriegskunst der Deutschen, den Marschall Bazaine, der jetzt den Oberbefehl über die kaiserlichen Truppen führte, in der Festung Metz einzuschließen. Vergeblich versuchte er, sich den Rückzug zu erzwingen. In drei blutigen Schlachten, bei Colombey-Nouilly, Marslatour-Vion- ville, und bei Gravelotte-St. Privat warfen ihn die Deutschen mit eigenen ungeheuren Verlusten (Gesamtverlust der Deutschen in diesen drei Treffen 40,000 Mann!) nach Metz zurück und schlössen ihn mit seinen 180,000 Mann ein. Auf Befehl der Regierung versuchte nun Mac Mahnn, obschon keine Aussicht auf Erfolg vorhanden war, mit der zweiten bei Chälons stehenden Armee, die er auf 140.000 Mann gebracht hatte, Bazaine zu entsetzen. Allein die Deutschen kamen ihm zuvor. Durch gewaltige Märsche gelang es ihnen, das Heer, bei dem sich auch Napoleon befand, an der belgischen Grenze, bei Sedan, einzuschließen. Vergeblich wären die verzweifelten Anstrengungen zum Durchbruch; 39 Generale, 2400 Offiziere, 83,000 Mann mit 10,000 Pferden und 400 Feldgeschützen mußten sich ergeben; Napoleon war deutscher Kriegsgefangener. (1. und 2. September 1870.) d) Der Kampf der Republik. Mit Sedan brach das Kaiserreich zusammen. Frankreich wurde eine Republik. Die neue Regierung suchte zunächst Frieden, weigerte sich aber, „auch nur einen Fuß breit ^ französischen Landes abzutreten. So nahm der Krieg seinen Fortgang. Er drehte sich in der Hauptsache um die drei Festungen Straßburg, Metz und Paris. Die Belagerung von Paris. Straßburg konnte bald durch eine furchtbare Beschießung zur Übergabe gezwungen werden; aber Paris, gegen das die Deutschen sofort nach der Katastrophe von Sedan marschierten, rüstete sich zur verzweifelten Gegenwehr. In seinen Mauern fanden sich fast 500,000 Kämpfer zusammen, darunter allerdings kaum 100,000 richtige Soldaten. 200,000 Deutsche schlössen durch einen 84 km langen Kreis die Riesenstadt ein, in 200 der sich — sie enthielt an die zwei Millionen Menschen — bald der Hunger fühlbar machte. Die Entsatzversuche. Da unternahm es Gambetta, das Haupt der neuen Regierung, in einem Luftballon aus Paris zu entfliehen und zum Entsatz der beiden Festungen den Volkskrieg zu entfachen. Wirklich gelang es ihm, förmlich Armeen aus dem Boden zu stampfen. Über eine halbe Million Streiter folgte seinem Aufruf, der den „Kampf bis aufs Messer“ verlangte. Eine Loirearmee sollte zugleich mit einer Nordarmee zum Entsatz der Hauptstadt gegen den deutschen Belagerungskreis vorgehen. Die Ostarmee hatte die Aufgabe, Belfort zu entsetzen und den Deutschen die Verbindung mit der Heimat abzuschneiden. Der erste Anprall der Loirearmee hatte Erfolg; die Deutschen wurden aus Orleans hinausgeworfen. Aber jetzt ergab sich Bazaine mit 173,000 Mann in Metz. Große, deutsche Truppenmassen wurden frei. Orleans konnte wieder erobert, die Nordarmee geschlagen und der Entsatz von Paris verhindert werden. Ebenso mißlang der Versuch der Ostarmee, unter General Bourbaki, in Süddeutschland einzufallen. Um der Kriegsgefangenschaft zu entgehen, mußte sie sich in die Schweiz retten. Der Fall von Paris. Inzwischen war auch der Widerstand von Paris erlahmt. Immer mehr litt es unter dem Hunger. Hunde und Katzen waren bereits Leckerbissen und eine fette Ratte galt l l U Fr. Dazu donnerten die deutschen Kanonen. Paris mußte sich, da jede Rettung unmöglich war, endlich ergeben. Die Deutschen zogen als Sieger in die Riesenstadt ein; die Zeit des Friedensschlusses war gekommen. Die Schweiz während des Krieges. Als Grenzland, das zudem für die beiden Gegner eine wichtige militärische Lage hatte, kam die Schweiz in eine gewisse Gefahr. Sie erklärte darum nicht nur die Neutralität, sondern traf auch die nötigen militärischen Vorbereitungen. Um Grenzverletzungen vorzubeugen, legte man etwa 35,000 Mann in den Nordwesten unseres Landes. Oberst Hans Herzog wurde zum General ernannt. Da der Krieg sich bald mehr ins Innere von Frankreich zog, verminderte sich die Gefahr. Später aber, als die französische Ostarmee, „die Bourbakiarmee“, gegen die Schweiz gedrängt wurde, tat rasches und kluges Handeln not. Am 1 Februar 1871 kam zwischen dem General Clinchant, dem neuen Kommandanten der Ostarmee, und General Herzog ein Vertrag zustande, laut welchem die Franzosen auf Schweizerboden übertreten durften, sich aber entwaffnen lassen mußten. Die Armee war in kläglichem Zustande und litt entsetzlich unter der grimmigen Kälte. 85,000 Mann mit 10,000 Pferden und 200 Geschützen rückten bei Les Verriöres (Neuenburg) und Ste Croix (NVaadt) über die Grenze. Die Bevölkerung unseres Landes sorgte mit größter 201 Hingebung für die entblößten, erschöpften und zum Teil schwer kranken, armen Krieger. e) Der Friede. Nicht umsonst hatten 100,000 deutsche Streiter geblutet. Der Krieg hatte den Bruderzwist von 1866 vergessen lassen. Noch während der Belagerung von Paris wurde König Wilhelm von Preußen zum deutschen Kaiser ausgerufen: die nationale Einheit war erreicht. Der deutsche Bundesstaat umfaßt 22 monarchische und drei republikanische Einzelstaaten. Jede Regierung sendet Abgeordnete in einen Bundesrat. Neben diesem aber besteht der aus den Vertretern des Volkes gebildete Reichstag, in den jeder unbescholtene Deutsche von über 25 Jahren gewählt werden kann. Heer, Flotte und Zollwesen sind Bundessache. An der Spitze des Deutschen Reiches steht als Bundesfeldherr der Kaiser, der den Reichskanzler ernennt. Der erste, der letztere Würde bekleidete, war natürlich Bismarck. Einen greifbaren Vorteil brachte der Krieg Deutschland durch den Wiedergewinn der einst deutschen Gebiete Elsaß und Loth- ringen, die als sogenannte Reichslande verwaltet wurden, jetzt aber rechtlich den übrigen Bundesstaaten ziemlich gleich gestellt sind. Außerdem mußte Frankreich eine Kriegsentschädigung von 5 Milliarden bezahlen. 0. Im Zeitalter der Maschine. I. Die Warenerzeugung vor 1789. 1. Das Handwerk. Bis zur französischen Revolution geschah die Warenerzeugung genau nach obrigkeitlichen Verordnungen und Regeln. In der Hauptsache war dem Bauer die Bewirtschaftung des Bodens, dem Städter die Betätigung in Handwerk, Gewerbe und Handel zugewiesen. Während im 16. Jahrhundert eine Blütezeit des in Zünften vereinigten Handwerks zu verzeichnen war, brachten die folgenden Jahrhunderte einen Niedergang. Wie die vornehmen Geschlechter sich als eine besondere Klasse absonderten und die Leitung des Staates beanspruchten, suchten auch die Handwerksmeister als besonderer Stand Vorrechte und zwar im Erwerbsleben. Sie erreichten, daß eine strenge Zunftordnung ihnen allein die Vorteile der handwerksmäßigen Warenerzeugung und des Verkaufs dieser Gegenstände garantierte. / 202 Die Meister. Wer das Meisterrecht erlangen wollte, hatte: 1. das betreffende Gewerbe nach den erlassenen -Regeln zu erlernen, 2. eine bestimmte Zeit als Geselle zu arbeiten, 3. eine bestimmte Zeit zu wandern, , 4. die Vorschriften zur Erlangung des Meisterrechtes zu erfüllen. Niemand durfte zwei zünftige Handwerke betreiben. Die Lehrlinge waren auf ein bis zwei beschränkt, die Zahl der Gesellen in jedem Berufe vorgeschrieben. Jeder Meister holte sich seinen Gesellen auf der eigenen Zunftherberge. Die Auswahl stand ihm aber nicht zu; er wurde erst bedient, wenn die Reihe an ihn kam. Keiner durfte dem andern Kunden oder Gesellen abjagen oder Gesellen eines verwandten Handwerks einstellen. Nur dem Handwerksmeister war erlaubt, die Gegenstände zu verkaufen, die seine Zunft erzeugte. Waren fremden Ursprungs durften nicht gehalten werden. Die Vorschriften der Zunft über Erzeugung und Verkauf von Waren mußten gewissenhaft befolgt werden. Die Lehrjungen. Wer ein zünftiges Handwerk erlernen wollte, mußte ein bestimmtes Alter haben (gewöhnlich 14 bis 15 Jahre). Zunächst kam eine Probezeit. Keine Lehre dauerte weniger als drei Jahre. Jedes Handwerk hatte ein bestimmtes Lehrgeld, das oft zum voraus zu bezahlen war. Der Lehrjunge konnte den Meister nicht frei wählen; das Bedürfnis und die Reihenfolge entschieden. Dem Meister stand ein weitgehendes Strafrecht zu. Die Gesellen. Für jeden Beruf war die Wanderzeit genau vorgeschrieben (Schneider und Hafner 3, Schuster und Schmiede 4 Jahre). Die Gesellen wurden der Reihenfolge nach dem Meister zugeteilt, sie durften nicht künden, wohl aber der Meister. Kündigte ein Geselle dennoch, so mußte er 3 bis 6 Monate die Stadt verlassen; lief er ohne Kündigung weg, so dauerte die Ausweisung jahrelang. Verheiratete Gesellen zu halten, war streng verboten. Arbeitszeit und Lohn waren meist genau bestimmt. Die Gesellen lebten beim Meister und standen unter einer strengen Hausordnung; keiner durfte sich nach zehn Uhr aus dem Hause entfernen, und keiner erhielt den Hausschlüssel. Sie zahlten Beiträge für Krankheit und Spital und bestatteten verstorbene Berufskollegen. Erhielt ein wandernder Geselle keine Arbeit, so wurde ihm ein bestimmtes Geschenk verabreicht. Wollte der Geselle Meister werden, so hatte er sich über die Erfüllung aller Vorschriften auszuweisen, ein Meisterstück zu verfertigen und sich für die Zunft anzumelden. 203 Die Einrichtungen bezweckten: 1. eine gleichmäßige Verteilung des Erwerbes, 2. die Verhütung der Übersetzung eines Gewerbes, d. h. die Ver- unmöglichung einer scharfen Konkurrenz und 3. die Verhinderung der Bereicherung einzelner auf Kosten vieler. 2. Manufaktur und Hausindustrie. Neben den Handwerken, die nur durch die betreffende Zunft ausgeübt werden konnten, gab es noch sogenannte Industrien, bei denen Arbeiter im eigenen Hause oder dann in besonders erstellten Fabrikationsräumen im Dienste eines Fabrikanten Produkte für den Handel herstellten. Die erstere war die Hausindustrie, die letztere die Manufaktur. Die Produkte gingen durch viele Hände; es herrschte Arbeitszerlegung. Die Handarbeit spielte noch die erste Rolle. Bei der Hausindustrie gehörten die Werkzeuge dem Arbeiter, bei der Manufaktur dem Fabrikanten. Im ganzen hatte nur der Stadtbürger das Recht zu fabrizieren, und vor allem hatte nur er das Recht, die Waren zu verkaufen. Gewisse Industrien waren zum Teil frei, d. h. sie waren jedermann zugänglich. So konnte die Baumwolle zu Stadt und Land verarbeitet werden; hingegen durften die Tücher nur roh, un- ungefärbt und ungebleicht an die Stadtbürger verkauft werden. Diese Industrie nahm ihren Aufschwung seit der Reformation, die das Reislaufen verboten hatte. Die Zürcher waren die ersten, die sie in der Schweiz betrieben. Ums Jahr 1600 führte man en gros Baumwolle aus Cypern und Kleinasien ein. Zuerst wurde Barchent gewoben (flächsener Zettel, baumwollener Einschlag). Ende 1685 brachten französische Hugenotten, die durch das Edikt von Nantes zur Flucht getrieben wurden, die feineren Gewebe, Mousseline und Indienne zu uns. Besonders die Landschaft wandte sich der Baumwollverarbeitung zu und erzeugte viel mehr, als für den Landesbedarf nötig war. 1787 gab es in unserem Kanton etwa 4400 Mousseline- und 2100 Indiennewebstühle und nicht weniger als 34,000 Spinner und Spinnerinnen (Handspinner). Fast die Hälfte des gesponnenen Garnes wurde exportiert (4000 Zentner von 9500). Wichtig für unseren Kanton war die Seiden Verarbeitung, die viel Geld einbrachte. Hier behielt sich die Stadt mehr Arbeitszweige vor, und das Fabrizieren war der Landschaft durchaus verboten; ihre Winder und Weber etc. arbeiteten nur für stadtzürche- rische Fabrikanten. Während die Winterthurer Wollen- und Baum- wollfabrikation widerwillig geduldet wurde, verhinderte man die 204 Seidenindustrie mit Gewalt. — Die zürcherische Seidenindustrie ist viel älter als die Baumwollindustrie. Sie wurde aber in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts geradezu vernichtet, weil durch den Anschluß Zürichs an die Eidgenossenschaft das kaufkräftige, österreichische Hinterland verloren ging. Die Lokarner brachten eine Erneuerung, so daß um 1580 eine Blütezeit begann. Neue Belebung brachten auch hier die Hugenotten 100 Jahre später. Um 1787 waren etwa 3000 Personen in der Seidenweberei betätigt (Winder, Zeltler, Weber), die verwandten Fabrikationen nicht gerechnet. Besonders in der Textilbranche (Wolle, Leinen, Baumwolle, Seide) waren einfache Maschinen im Gebrauch, die aber von Hand in Bewegung gesetzt wurden (Windmaschine, Webstuhl etc.). Im Jahr 1730 baute Heinrich Escher in Zürich am Sihlkanal die Sei- denmühle im Sihlhof, ein gewaltiges Gebäude. Die sechs kolossalen Haspel, die durch drei Stockwerke reichten, wurden durch ein Wasserrad in Drehung gesetzt. Dies war die erste Zwirnerei mit Wassermotor. Die Fabrik galt als eine Merkwürdigkeit Zürichs und wurde viel angestaunt. 3. Die Industrie als Einnahmequelle des Staates. Wenn zürcherische Kaufleute Waren von Nichtbürgern kauften oder an sie verkauften, so zahlten sie gewisse Zölle in die städtische Kasse. Abgabe an die Bürger und Rohstoffe unterlagen keinem Zoll. Mit dem Aufblühen von Industrie und Handel wurden die Einnahmen recht bedeutend und bildeten eine Haupteinnahme der Stadtkasse. Dafür übernahm die Stadt die Pflicht, den Stadtburger in den Handelsvorrechten der Landschaft gegenüber zu schützen, so daß sogar Bürgern, die auf dem Lande wohnten, das Fabrizieren verboten wurde. — Die Zolleinnahmen betrugen 1787 zirka 168,000 Pfund ä Fr. 1. 18 — Fr. 198,240. Sorgfältig wachte die Regierung über die Erhaltung dieser Einnahmen, indem sie der Industrie alle Aufmerksamkeit schenkte. Gerne nahm man Fremde (Lokarner, Hugenotten, Waldenser) auf, wenn durch sie neue Produktionen eingeführt wurden und die Bürger keine Konkurrenz erfuhren. Wie die Einheimischen aber angelernt waren, so trieben neue Gesetze, die der Neid hervorrief, die Lehrmeister wieder fort. So erging es fast allen Lokarnern, welche dann die Seidenindustrie nach Basel brachten. Immer hatte man Angst, daß die Industrien über die Zürchergrenzen wandern könnten; darum verbot man den Industriearbeitern das Auswandern und rief Ausgewanderte zurück. Zürcher, die außer- 205 halb der Zürchergrenze fabrizierten, wurden geächtet. Als ein ent- laufener Arbeiter in Herisau Arbeit nahm, wurde er in Zürich an den Pranger gestellt, gezüchtigt und verbannt. Ein Bregenzer, der 1788 für eine dortige Bandfabrik zürcherische Arbeiter suchte, wurde an den Pranger gestellt und mit 12 Rutenstreichen gezüchtigt. Noch 1797 erhielt ein anderer aus dem gleichen Grunde drei Jahre Zuchthaus. Ein Tischler, der ein Leidenrad nach Aarau verfertigt hatte, mußte es auf Befehl der Regierung zurückholen. 4. Die Mangel der Vorrechte im Erwerbsleben. Mit der aufblühenden Industrie und dem steigenden Handel wurde die Einengung in der Warenerzeugung immer unbequemer. Alle die, welche nicht bevorrechtet waren — und es war die große Mehrzahl des Volkes — empfanden die Einrichtungen als einen Übelstand. Die Zünfte verkauften möglichst teuer, so daß die Regierung oft die Preise festsetzte, um das Publikum vor Ausplünderung zu schützen. Gute und schlechte Ware mußte gleich bezahlt werden; infolgedessen erlahmte der Wetteifer der Handwerker. Die Erwerbung des Meisterrechtes wurde für die Mehrzahl des Volkes bis zur Unmöglichkeit erschwert. Die Zunft war meist geschlossen, d. h. die Zahl der Meister vorgeschrieben. Eine oft zu lange Lern- und Wanderzei t, ein teures, unsinnig erschwertes Meisterstück, hohe Eintrittsgebühren, teure Festessen hielten den unbequemen Konkurrenten fern. Dagegen gab es für Meister- und Schwiegersöhne alle möglichen, oft schamlosen Begünstigungen, was schwere Erbitterung hervorrief. Tüchtigkeit und Kenntnisse gaben nicht den Ausschlag. Lästige Vorschriften über die Lehrjungen, Gesellen und Werkzeuge verhinderten den tüchtigen Meister, das Geschäft auszudehnen und die Arbeit zu vervollkommnen. Der Gebrauch von Maschinen war durch die Zunft verboten. Der Berufsneid hatte dazu geführt. In Basel war z. B. die Bandweberei zünftig. Nun erfand man einen Webstuhl, der erlaubte, viele Bänder zugleich zu weben. Wie überall, war auch in Basel die Zunft gegen die Neuerung. Aber die Regierung machte die Bandweberei zum freien Gewerbe, ermöglichte dadurch ihr Aufblühen und rettete so dem heutigen Basel eine wichtige Industrie. — Eine Belästigung des Publikums war die scharfe Abgrenzung der Handwerke. Streng achtete der Glaser darauf, daß der Rahmenmacher keine Scheiben einzog, die Fensterverkleidung aber war Sache des Schreiners. Zur Herstellung eines einfachen Gegenstandes bedurfte es einer Menge Handwerker. Der 206 Tischler durfte keine Drehbank gebrauchen; sie war dem Drechsler vorbehalten. Der Zimmermann durfte nicht leimen; denn dadurch hätte er in das Gebiet des Schreiners hinübergegriffen. Der Gerber durfte wohl Leder herstellen, es aber nicht verarbeiten. Es entstand oft Streit, wem die Herstellung eines Artikels zustehe, ja, es geschah, daß dieser gar nicht produziert wurde, weil eine Einigung unmöglich war. — In der Industrie war die augenscheinliche Bevorzugung des Städters geradezu aufreizend, sah man doch, daß sogar alte Rechte möglichst beschnitten wurden. So befahl Zürich den „Tüchlern“, die von alters her im Kanton Zürich und auf der Zurzacher Messe mit Baumwollgarn und Tüchern handeln konnten, die Tücher nur an Stadtbürger zu verkaufen, und zwar roh, ungebleicht und angedruckt. II. Die Gewerbefreiheit. 1. Die Übergangszeit. Die französische Revolution forderte „die Gleichheit“ unter den Menschen. Sie brachte auch die Vorrechte in Handwerk, Gewerbe und Handel zu Fall. In siegreichen Kriegen trugen die Franzosen ihre Grundsätze über die Grenzen ihres Landes hinaus. Am 20. Oktober 1798 erhielt in der Helvetischen Republik folgendes Gesetz Geltung: „Alle Gewerbe und Zweige der Industrie sollen in Helvetica frei und aller Zunftzwang soll aufgehoben werden“. Die Mediationszeit stellte die Zünft wieder her; ihre Schließung und die Beschränkung in Handel und Industrie blieben aber beseitigt. Mit dem Falle Napoleons suchte man allerorten durch möglichste Rückkehr zum alten die Erinnerung an die Franzosenzeit auszutilgen. Es zeigte sich aber bald, daß die neue Zeit und ihre Schöpfungen stärker waren als die Selbstsucht der Zünfte. Die Fortschritte in der Technik (Erfindung und Anwendung der Maschinen) bewirkten, daß die Abgrenzung der Handwerke nicht mehr möglich war. Früher nicht gekannte Bedürfnisse schufen z. B. den Stand des Mechanikers, der Gegenstände verschiedener Handwerke herstellte und alle mögliche Freiheit in seinem Gewerbe erhielt. Dieser neue Berufsarbeiter war den Fabriken unentbehrlich. Die aufkommende Industrie, welche durch die Zunftordnung sich gehemmt sah, forderte laut und dringend deren Abschaffung. Die Schweiz mußte die gleiche Entwicklung nehmen wie das Ausland, das fast alle Handwerkswaren fabrikmäßig herstellte. 2. Die freie Warenerzeugung. Die liberale Bewegung der 30er Jahre forderte die Gewerbefreiheit. 1832 wurde zunächst ein Teil 207 der Handwerke freigegeben. Aber neue Zeiten verlangen neue Einrichtungen. Die übriggebliebenen zünftigen Handwerke forderten sogar selber die Freigabe, da sie den Zunftzwang als nutzlos, ja geradezu als schädlich empfanden. Seit 1837 besitzt der Kanton Zürich die Gewerbefreiheit. Es brauchte aber noch viele Jahre, bis die Überreste der alten Wirtschaftsordnung beseitigt waren. So erhielten die Juden erst 1862 die Gleichberechtigung, während sie sich bis dahin viele Beschränkungen in Bezug auf Grundbesitz, Ausübung des Handels und eines Handwerks hatten gefallen lassen müssen. — Die Gewerbe, deren Ausübung an den Besitz eines Gebäudes geknüpft waren (160 Mühlen, 145 Metzgen und 200 Tavernen im Kanton Zürich) und deshalb einen großen Wert besaßen, konnten nur allmählich frei gemacht werden, die Metzgerei und Wursterei erst 1866. Die zürcherische Verfassung von 1869 garantiert die Freiheit des Gewerbes, sofern nicht das öffentliche Wohl eine Einschränkung erfordert. Der Kanton aber sicherte sich gewisse Rechte. a) Staatsmonopol: Salz, Jagd,Fischfang,Gebäudeversicherung, Viehversicherung etc. b) Ein Ausweis von Kenntnissen wird verlangt von Geistlichen, Lehrern, Notaren, Ärzten, Apothekern u. a. c) Staatlicher Bewilligung bedürfen: Hausierer, Wirte, Viehhändler u. a. d) Unter staatlicher Aufsicht stehen: Märkte, Lebensmittelverkauf, Forstwirtschaft etc. — Auch der Bund erläßt in dieser Hinsicht schützende Bestimmungen. Die unbedingte Freiheit der Arbeit, die Abschaffung jedes staatlichen Zwanges, das „laissez faire“, d. h. den Dingen ungehindert den Lauf lassen, war ohne Gefährdung der Volkswohlfahrt nicht durchführbar. Mancherlei Erfahrungen zeigten, daß eine gewisse Rückkehr zur staatlichen Aufsicht im Berufsleben nötig sei. III. Die industrielle Revolution. (Die mechanische Warenerzeugung). Um das Jahr 1780 erstellte der Engländer James Watt die erste für den Fabrikbetrieb verwendbare Dampfmaschine (für die Spinnerei). Sehr rasch drang sie in eine Menge Betriebe ein, um sofort in der Warenerzeugung die größte Umwälzung hervorzurufen. Sie ermöglichte eine außerordentliche Steigerung der Produktion, während sie zugleich viele Arbeitskräfte entbehrlich machte. Die 208 Dampfmaschine bewirkte eine Verbesserung der Werkzeuge und der Maschinen, die sie in Bewegung setzte und gab Anlaß zu einer Menge Erfindungen. Zunächst übernahm England in der Maschinen- erzeugung und in der gesamten Eisen- und Stahlproduktion die Führung. Der gesamte Maschinenbau lag in seinen Händen. Während England 1810 bereits 5000 Dampfmaschinen auswies, zählte Frankreich deren erst 200. Die Entwicklung ging in Frankreich ganz allmählich vor sich, und noch später wurde Deutschland im Maschinenbau selbständig. Noch 1860 bezog es die Mehrzahl seiner Dampfmaschinen und Lokomotiven aus England. Die Einigung von 1871 brachte dann aber eine riesenhafte Entwicklung, so daß es in vielen Gebieten, besonders in der Stahlproduktion, England überflügelte. Auch in andern Industriegebieten: Nordamerika, Belgien, der Schweiz etc. erfolgte der großartige Aufschwung erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, dafür aber in vielen Zweigen so intensiv, daß England die Führerschaft mehr und mehr einbüßt. Ein Gebiet ums andere wurde der Handarbeit entzogen und der Maschine übergeben. Zuerst vollzog sich der Übergang in der Textilbranche: Spinnen, Weben, Wirken, Stricken. Eine Erfindung ersten Ranges war die Spinnmaschine, die namentlich durch den Engländer Arkwright 1770—80 für die Industrie brauchbar gemacht und durch Wasser- oder Dampfkraft betrieben wurde. Eine Verbesserung und Erfindung drängte die andere. Als noch die mechanische Webmaschine Roberts hinzukam, begann ein riesiger Aufschwung der Baumwollindustrie. Herrschend wurde die mechanische Arbeit auch in der Schuhmacherei, Brauerei und Müllerei. Die Umwälzung ergriff die Holzarbeit: Drechslerei, Schreinerei, Glaserei, dann die Buchdruckerei und Buchbinderei, vor allem aber die Maschinenindustrie selber. - Die vermehrte Verwendung des Eisens brachte eine gewaltige Erweiterung des Hüttenbetriebes und der Kohlengräberei. Während es in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hieß: „Baumwolle ist König“, nehmen nun Kohle, Stahl und Eisen den ersten Rang ein. Besonders Krupp in Essen übernahm durch die ausgedehnte Verwendung des Gußstahls die Führung. Wir sehen im Dienste der Industrie ungeheure Werkzeuge, in denen die Kraft von Hunderttausenden von Menschen wohnt, und Dampfhammer, die mit Tausenden von Pferdekräften herniedersausen. Zu diesen Kraftleistungen des Dampfes kommt in neuerer Zeit noch die Elektrizität. Die Kräfte der Bergströme werden in die Industriezentren geleitet und 209 in nutzbringende Arbeit umgewandelt. Wir finden bald kein Dorf mehr, das nicht Kraftmaschinen verwendet, die von Wasser, Dampf oder Elektrizität getrieben werden. IV. Die Folgen der mechanischen Warenerzeugung. 1. Der Untergang der Handbetriebe. Die englische Spinnmaschine erfüllte die schweizerischen Handspinner mit großer Besorgnis. Nur weil man die feinen Garnsorten auf mechanische Weise noch nicht erreichte, konnten die feinen Handgarne der Schweizer den Wettbewerb vorerst noch bestehen. Die Franzosenzeit brachte einen industriellen Stillstand, und nachher gab es nur ein Rettungsmittel: die Anpassung. Schon 1802 erbauten Winterthurer im Hard bei Wülflingen eine Fabrik mit Spinnmaschinen, und in den folgenden Jahren schössen diese Gebäude wie Pilze aus dem Boden. 1813 gab es im Kanton Zürich etwa 50 größere und kleinere „Spinnmaschinen“ (1827: 106), wie man diese Fabriken nannte. Das Handspinnen im Dienste der Industrie hörte vollständig auf und machte der Fabrikarbeit Platz. — Eine ähnliche Umwälzung erfolgte in den 30er Jahren durch die mechanische Weberei. Die Hausweberei gab ganzen Landesteilen, besonders dem Zürcher Oberland, willkommenen Verdienst. Noch 1825 waren zirka 18,000 Personen in der Baumwollweberei tätig und durchaus auf diesen Verdienst angewiesen, da der Boden die große Bevölkerung nicht ernähren konnte. Kriegerische Ereignisse in Belgien und Polen brachten 1830 eine nie dagewesene Krisis, die zum Landesunglück wurde. Die größte Anstrengung und die längste Arbeitszeit schützten nicht vor Hunger, was eine gereizte Stimmung erzeugte. Nicht genug mit all dem Elend. Bereits redete man von einem fernen, unheimlichen Feind, der alle zu verschlingen drohe. Es war die englische Webmaschine. Und plötzlich stand der gefürchtete und gehaßte Gegner im Herzen des Landes. Die Firma Korrodi & Pfister in Oberuster stellte in ihrer „Spinnmaschine“ einige englische Webstühle auf. Ein Angst- und Wutschrei ging durch die erregten Dörfer des Oberlandes. Bereits sprach man vorn Anzünden der Fabrik. Bei Anlaß der Gedächtnisfeier des Ustertages, 1832, kam die Tat zur Ausführung. Die Folge war die Verurteilung von 31 Angeklagten zu harten Gefängnis- und Kerkerstrafen. Eine Besserung der industriellen Lage brachten solche Verzweiflungstaten, die auch in Deutschland und England geschahen, nicht. Geschiehtalehrmittel 14 210 Zum Glücke boten andere Industriezweige Ersatz. Die Leiden- industrie blühte mächtig empor. Um das Jahr 1830 waren 11—12,000 Personen, auch auf dem Lande, darin betätigt, 1848 bereits 17,000. Das Seidenweben wurde in vielen Bauernstuben während des Winters heimisch. 1881 betrug die Zahl der in der Seidenindustrie (Spinnerei, Zwirnerei, Färberei, Weberei) beschäftigten Leute zirka 50,000 mit einem Jahres verdienet von rund 20 Millionen Franken und einem Produktionswert von rund 77 Mill. Fr. Mit Anfang der 70er Jahre kam aber auch hier die mechanische Weberei auf, und bereits 1881 waren 3150 neuer Stühle neben rund 20,000 Handstühlen im Betrieb. Etwa 25 Jahre später (1905) war das Verhältnis viel schlechter: 11,000 mechanische zu 5250 Handstühlen, d. h. fast genau 2:1. Das langsame Absterben der Handweberei muß als Tatsache betrachtet werden. Fast in allen Industriezweigen zeigt sich das gleiche Bild: Die Maschine übernimmt die Arbeitsleistung. Selbst die Handwerksmeister sind nicht mehr konkurrenzfähig, wenn sie nicht zum maschinellen Betriebe übergehen. In leistungsfähigen Schlossereien und Schreinereien treffen wir Hobel-, Bohr- und Fräsmaschinen; der Metzger bedient sich der mechanischen Hackmaschine, der Bäcker der mechanischen Knetmaschine, der Buchdrucker der Setzmaschine, und in Dorfschmieden begegnen wir dem Dampfhammer. Wo es überhaupt möglich ist, ersetzt die mechanische Arbeit den Handbetrieb. 2. Bildung eines Fabrikarbeiterstandes. Während die alte Industrie hauptsächlich Hand- und Hausarbeit war, die oft neben einem andern Berufe, besonders der Landwirtschaft, betrieben wurde, bildete der Maschinenbetrieb eine neue Bevölkerungsklasse heraus, die Fabrikarbeiter. Der Untergang der Handbetriebe zwang die Leute in die Fabrik hinein, nicht nur einzelne, sondern ganze Familien. Zunächst kam die Spinnmaschine, dann die Weberei, später die Maschinenfabrik in Frage. Unterstützte früher die Naturalwirtschaft die Industrie, so kam für die Industriebevölkerung die reine Geld wirtschaft. Die Naturalwirtschaft sah wenig Geldmittel. Jetzt brachte der Zahltag eine Summe, die man früher nie beisammen gesehen hatte. Man überschätzte die Kaufkraft des Geldes, und man verstand nicht, es richtig auszugeben. Die überlange Arbeitszeit trieb viele ins Wirtshaus, um beim Glase Abwechslung und Erholung zu suchen. Für den Luxus wurde mehr ausgegeben, als der sparsame Bauer sich erlauben konnte, so daß dieser den Fabrik- 211 arbeiter vielfach als liederlich taxierte. Kam eine Krise, so fehlte der Verdienst, und Not und Elend brachen herein. Jetzt bot kein Grundbesitz mehr Rückhalt, wie es früher gewesen. Den Gemeinden erwuchsen für die Mitbürger, die sie unterstützen mußten, drückende Armenlasten, was zu großer Mißstimmung führte. In den Fabriken arbeiteten die beiden Geschlechter schon in zarter Jugend nebeneinander. Die jungen Leute lernten sich frühe kennen und heirateten rascher als die Bauernbevölkerung, so daß die Ehen im Durchschnitt wohl zehn Jahre früher geschlossen wurden. Die Bevölkerung wurde durchschnittlich jünger und die Generationen folgten sich schneller. Der Fabrikarbeiter, der nicht an die Scholle gebunden war und vielfach den Wohnsitz änderte, dachte und fühlte anders als der Bauer. Während dieser auf möglichst gute Verwertung seiner Produkte sehen mußte, empfand der Arbeiter der Industrieorte dies als drückende, ungehörige Belastung. Der industrielle Aufschwung im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts führte den Fabriken eine Menge Leute zu. Unser Kanton verlor das Gepräge eines Bauernkantons; er nahm einen überwiegend industriellen Charakter an. 1905 waren rund 62,500 Personen (männlich und weiblich) in der Landwirtschaft tätig; dagegen beschäftigte sich rund die doppelte Zahl mit der Veredlung der Natur- und Arbeitserzeugnisse (zirka 118,000). Sie verteilen sich, ohne die Hausindustrie, folgendermaßen: Gewebe und Gespinnste 30,000, Bauindustrie 27,000, Metallindustrie 20,000, Bekleidungsindustrie 16,000, Herstellung von Nahrungs- und Genußmitteln 7,000, Buchdruckerei und Verwandtes 4,000. Hiezu kommen noch über 40,000 Personen, die Verkehr und Handel beanspruchen. 3. Die Bildung von Fabrikzentren. Die Industrie brachte eine neue Verteilung der Bevölkerung. Die Fabriken wurden in den für ihren Betrieb günstigen Gegenden, z. B. an Flußläufen angelegt, um die Wasserkraft benützen zu können. Die Folge davon war eine teilweise Entleerung der Orte, in denen die Hausindustrie heimisch gewesen war. Folgende Tabelle beleuchtet diese Verschiebung: Bevölkerungszahl 1771 1836 1870 1900 1910 Goßau. 2015 3116 2854 2339 2314 Russikon. 1125 1933 1553 1272 1417* Maur. 1276 2133 1805 1513 1310 Eglisau**. 1463 1608 1410 1175 1216 * L)ie Vermehrung ist die Folge neueingeführter Industrie. ** Grenxort, wo der Wagen verkehr lahmgelegt wurde. 212 Ganz außerordentlich schnellte in den eigentlichen Industrie- gebieten die Bevölkerung in die Höhe: Bevölkerungszahl 1771 1836 1870 1900 1910 Winterthur. 3180 4612 9317 22335 25066 Thahvil. 1084 1786 2537 6791 7724 Rüti. 595 1112 2122 4796 5211 Zürich (mit Ausgemeinden) 18297 29382 58657 150703 189088 Besonders deutlich zeigen den riesigen Aufschwung der Indu- strie in den letzten 40 Jahren die Orte 1870 1900 1910 Adliswil . . . 1939 4719 4995 Orlikon . . . 781 3982 5807 Seebach . . . 840 2850 4188 Veitheim . . . 1190 4009 5012 Viele dieser lndustrieorte haben ihren ursprünglich bäuerlichen Charakter ganz verloren und zeigen ein geradezu städtisches Aussehen. Die Industriezentren und ihre Vororte zogen die Arbeitskräfte massenhaft an sich. Das „alte Zürich“ wurde an Einwohnerzahl von seinen Ausgemeinden weit überflügelt, und da diese Bevölkerungsmassen im Erwerb aufeinander angewiesen sind, erfolgte 1892 die Vereinigung von Zürich und den Ausgemeinden, wodurch die erste „Großstadt“ der Schweiz geschaffen wurde. Ähnliche Verhältnisse haben wir in Winterthur, wo ein großer Teil der umliegenden Gemeinden: Veitheim, Töß, Wülflingen, Ober- winterthur und Seen in Arbeit steht, so daß eine wirtschaftliche Einheit von über 45,000 Seelen sich gebildet hat. Beinahe die Hälfte der Bevölkerung des Kantons ist in oder um die zwei Städte konzentriert. — Die letzten Jahrzehnte brachten überhaupt eine ungewöhnlich starke Bevölkerungszunahme. Während der Kanton Zürich 1850 etwa 250,000 Einwohner zählte, hatte er bis zum Jahre 1910 seine Bewohnerzahl verdoppelt. Die ganze Schweiz hat in den letzten fünfzig Jahren um mehr als eine Million Einwohner zugenommen. 4. Der Menschenaustausch. Das eigene Land vermochte der Nachfrage nach Arbeitskräften nicht zu genügen. Die Niederlassungs- freiheit erlaubte dem Auslande, einen Teil seiner überschüssigen Bevölkerung an unser Land abzugeben. Die Italiener bauen unsere Häuser, Straßen, Eisenbahnen, Tunnels. Die Deutschen sind sehr zahlreich in den Städten der Ostschweiz, die Franzosen in den Industrieorten des Westens. 565,000 Ausländer haben sich mit der schweizerischen Bevölkerung gemischt. In der Schweiz ist je der siebente Mensch ein Ausländer, im Kanton Zürich je der fünfte, in 213 den Grenzkantonen Basel und Genf je der dritte. Die Stadt Zürich zählt 65,000 Fremde, die ein Dritteil der Einwohnerzahl ausmachen. (1910 Stadt 64573 — ein Drittel Ausländer; Kanton 101553 — ein Fünftel Ausländer). Die große Zahl der Ausländer wäre im Kriegsfall eine schwere Gefahr; der Wehrkraft sind die Fremden so wie so verloren. Leute, die nur des Erwerbes wegen bei uns wohnen und sehr rasch den Wohnsitz ändern, bringen dem Gedeihen des Landes nicht das gleiche Interesse entgegen wie die einheimische Bevölkerung. Es besteht darum vielenorts das Bestreben, diese Leute durch eine erleichterte Einbürgerung zu den Unsrigen zu machen. Viele Leute sehen zwar in den Fremden unbequeme Konkurrenten; es ist aber sicher, daß wir ohne sie gar nicht mehr auskommen könnten; zudem leben nicht weniger als eine Viertelmillion Schweizer im Auslande, für die wir auch eine gute Behandlung erhoffen. — In weitgehendem Maße tauschen innerhalb der Schweiz die Kantone und in diesen wieder die Gemeinden ihre Bevölkerung aus. 1910 waren im Kanton Zürich durchschnittlich nur drei Zehnteile der Einwohner in der Wohngemeinde eingebürgert, ein Vierteil war Bürger anderer Gemeinden des Kantons, ein Vierteil Bürger eines anderen Kantons, ein Fünfteil Ausländer. Fast überall ist eine neue Einwohnerschaft entstanden. V. Mangel der neuen Produktionsweise. Die freie Warenerzeugung ermöglichte jedem Einzelnen, in ungehemmtem Wettbewerbe mit seinen Mitmenschen den Kampf ums Dasein zu führen. Die staatliche Gewalt sollte sich in den Erwerbskampf nicht einmischen. Dieser Grundsatz, der zuerst bei der fabrikmäßigen Arbeit zur Anwendung kam, zeitigte besonders in den ersten Zeiten schwere Mängel. 1. Die lange Arbeitszeit. Während der Zunftzeit war die Arbeitszeit für die einzelnen Berufe genau festgelegt. Jetzt lag ihre Dauer ganz im Belieben des einzelnen Fabrikherrn. In den Spinnereien wurde gewöhnlich Tag und Nacht gearbeitet und zwar so, daß die Schichten je mittags und nachts 12 Uhr wechselten. War nur eine Arbeiterabteilung, so wurde bei sehr kurzer Mittagspause bis auf 15 Stunden im Tag gearbeitet. Da viele Arbeiter einen weiten Weg nach Hause zurückzulegen hatten, so blieben für die Nachtruhe nur wenige Stunden übrig. Selbst der Sonntag war nicht 214 immer ein Ruhetag, da an diesem Tage oft gearbeitet wurde. Die Folgen der Überanstrengung spiegelten sich in den bleichen, schwächlichen Gestalten, in denen man auf den ersten Blick die Baum- wollarbeiter, die „Fabrikler“, erkannte. 2. Die Kinderarbeit. Da die Maschine die Hauptsache leistete, so genügten in der mechanischen Spinnerei oft einfache Handgriffe. Darum wurden aus Sparsamkeitsrücksichten besonders Frauen und Kinder zur Arbeit verwendet. Sehr stark nahm die Hausindustrie die Kinder in Anspruch. Schon 1813 wurden die Schäden der Kinderarbeit durch den zürcherischen Erziehungsrat in einer Eingabe an die Regierung klargelegt: Seit 50 Jahren entziehe die Baumwollindustrie die Kinder dem Spiel und der freien Luft und zwinge sie ans Spinn- oder Spuhlrad, die Anstrengung mache sie vor der Zeit alt und kränklich, klagte die Behörde. Die Einführung der Spinnmaschine brachte nicht eine Verbesserung, sondern eine Verschlimmerung. Zur Zeit der Eingabe wurden im Kanton Zürich 1124 Minderjährige in der „Spinnmaschine“ verwendet; darunter waren 48 Kinder erst 7 bis 9 und 284 erst 10 bis 12 Jahre alt, und zwar ziemlich gleichmäßig Knaben und Mädchen. Die Arbeitszeit war die der Erwachsenen. Ohne Ausnahme sahen die armen Kinder blaß und hager aus; denn sie litten an Körper und Seele Schaden. — Weder Fabrikherr, noch Eltern nahmen Rücksicht auf Erziehung und Schule. 1813 gingen in Wülflingen 90, in Stäfa 118, in Dtwil 78, in Bubikon 58 Alltags- und Repetierschüler in die „Spinnmaschine“ und sogar oft noch am Sonntag. Die Schulstuben aber leerten sich. Besuchten die Fabrikkinder dennoch die Schule, so zeigten sie nach Aussage der Lehrer eine unbesiegliche Schlafsucht. Für Kinder, welche die Schule gar nicht besuchten, wurden zum^ Ersatz in sogenannten Fabrikschulen Extrakurse eingeführt, die nach Feierabend oder des Sonntags stattfanden. Sie vermochten aber das Versäumte nicht einzubringen. Alles Ermähnen und Strafen fruchtete nichts; die Kinder blieben dem Unterrichte fern oder waren außer stände, ihm zu folgen. So traf man, was früher nie vorgekommen war, 15 und 16 jährige Leute, die nicht lesen konnten. In die Klagen der Lehrer stimmten die Pfarrer ein, da auch die Religionsstunden versäumt wurden. Eine Verordnung von 1837 verbot für den Kanton Zürich die Fabrikarbeit für Kinder unter zwölf Jahren (Alltagsschüler) und die Nachtarbeit von neun Uhr abends bis fünf Uhr morgens für Nichtkonfirmierte; letztere durften 215 höchstens 14 Stunden Fabrikarbeit leisten. Von da an besserten sich die Verhältnisse sichtbar. Die Klagen wegen Gesetzesübertretungen wurden seltener; doch blieb ein weiterer Kinderschutz einer späteren Zeit vorbehalten. 3. Die mangelhaften Arbeitsräume und Schutzvorrichtungen. Für Maschinen und Fabriken gab es keinerlei Vorschriften. Die Arbeitslokale waren durchwegs niedrig, die Beleuchtung und Lüftung war überall mangelhaft. Dem öligen Boden entstieg eine ungesunde Luft, die in die Kleider, die Haare, die Haut der Arbeitenden drang. Der herumwirbelnde Baumwollstaub machte den Aufenthalt in den „Spinnmaschinen“ sehr gesundheitsschädlich, so daß die „Dürrsucht“ (Tuberkulose) viele Opfer forderte. Oft war der Platz beengt, so daß die Maschinen die Arbeiter gefährdeten. Schutzvorrichtungen waren fast unbekannt und zahlreiche Unfälle kamen vor. In einer amtlichen Aufstellung liest man folgende Ursachen von Todesfällen: Vorn Wellbaum erdrückt, vorn Triebwerk erwürgt, vorn Schwungrad erwürgt, vorn Wasserrad erdrückt — alles Unfälle, die heute der Schutzvorrichtungen wegen zur Seltenheit gehören. 4. Der Zerfall der Familie. Die Spinnmaschine brachte die Arbeiterfamilie aus Band und Band. Da der Arbeitslohn des Vaters zum Unterhalt der Familie nicht reichte, mußten auch die Mutter und die Kinder in die Fabrik gehen. Die kleineren Kinder entbehrten gänzlich der mütterlichen Aufsicht und häuslichen Erziehung. Die Eltern sahen sie nur noch für Augenblicke. Die mangelnde Fürsorge brachte eine große Kindersterblichkeit. In Uster, wo die Fabrikbevölkerung ein Vierteil ausmachte, stammte unter den verstorbenen Kindern die Hälfte aus der Industriebevölkerung. „Die Spinnmaschine“ war für die Kinder keine Sittenschule. Garstige Gespräche und Lieder der Erwachsenen, mit denen sie zusammenarbeiteten, verdarben das kindliche Gemüt. Von überall her tönten Klagen über wüste Aufführung der Kinder auf den Straßen oder auf dem Heimwege, der oft mitten in der Nacht angetreten wurde. Durch ihre Arbeit kamen die Kinder in den Besitz von Bargeld, da sie sehr bald ihr Betreffnis vorn „Zahltag“ verlangten. Sie erlaubten sich allerlei Luxus und liefen in die Wirtshäuser. Oft führten die älteren Kinder eine eigene Kasse und zahlten den Eltern Kostgeld. — In früherer Zeit, auch während der Hausindustrie war der Vater der Herr der Familie, in der die Kinder bis zu ihrer Verheiratung beisammenblieben. Ein Verdienst außerhalb derselben 216 war bei der früheren Warenerzeugung und der eingeschränkten Niederlassungsfreiheit äußerst schwierig. — Jetzt wurde es anders. Der Hausvater stand in der Fabrik neben seinen Kindern,.ja, er verdiente oft nicht mehr, als sein halberwachsener Sohn. Der Respekt vor dem Familienoberhaupte schwand, die Kinder wurden auflüpfisch und verlangten freiere Bewegung. Die Eltern mußten sie gewähren lassen und sich ducken, sonst liefen die Kinder weg und gingen bei Fremden „an die Kost“, wo sie sich ungebundener bewegen konnten. Eine Menge Kinder abgelegener Gegenden wurde in Fabrikorten verkostgeltet. Damit hörte der Einfluß des Elternhauses ganz auf, und die Klagen über den Zerfall der Familien, besonders von Seiten der Pfarrämter, wollten nicht enden. 5. Die Krisen. Die Warenerzeugung früherer Zeit geschah in erster Linie für die Bedürfnisse des eigenen Landes. Die Stadt Zürich produzierte für die Landschaft Zürich, so daß der Kanton das Absatzgebiet für die hauptstädtischen Waren bildete. Man arbeitete hauptsächlich auf Bestellung und nur in der „toten Zeit“ auf Vorrat. Wenn der Wohlstand auch bescheiden war, so gab es doch keine zu ernsten Erwerbsstörungen. Anders bei der modernen Warenerzeugung. Der Wettbewerb kannte keine Schranken mehr, so daß in „guten Jahren“ große Massen Waren produziert wurden. Gerade die Schweiz war für ihre Industrieprodukte: Baumwollenzeug, Seidenstoffe, Stickereien, Uhren, Maschinen, auf den ausländischen Markt angewiesen. Wurde dieser durch Krieg, hohe Zölle, Überproduktion etc. verstopft, so trafen die Folgen viele Industriezweige geradezu vernichtend. Solche Krisenzeiten brachten Arbeitsmangel, niedere Löhne und damit für ungezählte Familien Not und Elend. Die Lösung der Frage, wie die guten Jahre für die schlimmen Folgen der „mageren“ herangezogen werden könnten, ist noch nicht gelungen. VI. Die Schutzgesetzgebung. Die Erfahrung lehrte, daß die absolute „Freiheit der Arbeit“ nicht aufrecht erhalten werden konnte, ohne die menschliche Gesellschaft schwer zu schädigen. Schon frühe mußte der Staat die Kinder schützen; Schutzgesetze für die Erwachsenen wurden aber damals noch abgelehnt. Da in der Schweiz jeder Kanton seine eigenen Wege ging, war nur schwer ein Fortschritt zu erreichen. 1. Das eidgenössische Fabrikgesetz von 1877. Die Einsicht, daß die Staatsaufsicht für die Fabriken nicht zu entbehren sei, drang 217 allmählich in immer weitere Kreise, so daß 1874 die neue schweizerische Verfassung dem Bunde das Recht gab, gesetzliche Bestimmungen über die Fabrikarbeit zu erlassen. Im Jahr 1877 wurde das eidgenössische Fabrikgesetz, damals das beste der ganzen Welt, dem Volke zur Abstimmung vorgelegt, und, wenn auch mit ganz kleiner Mehrheit, angenommen. Die Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit beträgt 11 Stunden im Tag, an Vorabenden der Sonn- und Festtage 10 (jetzt 9 und muß um 5 Uhr abends endigen). Sie muß zwischen 6 Uhr morgens und 8 Uhr abends zu liegen kommen; für die 3 Sommermonate darf der Beginn um eine Stunde vorgerückt werden. Bei gesund- heitschädlichen Betrieben kann die Arbeitszeit noch mehr herabgesetzt werden. Ausnahmsweise dürfen die Behörden Überzeitbewilligungen erteilen. Nachtarbeit ist nur da erlaubt, wo ununterbrochener Betrieb notwendig ist, ebenso für dringende Reparaturen, Sonntagsarbeit nur im Notfalle. Frauen dürfen weder für Nacht-, noch Sonntagsarbeit verwendet werden; wenn sie das Hauswesen besorgen, so sind sie eine halbe Stunde vor der Mittagspause zu entlassen. Kinder dürfen erst nach zurückgelegtem 14. Altersjahr die Fabrik besuchen. Für das 15. und 16. Jahr soll die Fabrikarbeit samt dem Schulend Religionsunterricht 11 Stunden täglich nicht übersteigen. Nur ausnahmsweise darf Sonntags- und Nachtarbeit Leuten unter 18 Jahren gestattet werden. Die Fabriken sind gehalten, alle nötigen Schutzvorrichtungen anzubringen und die Vorschriften für gesundheitlichen Schutz der Arbeiter zu erfüllen. Drei Fabrikinspektoren überwachen die Vollziehung des Gesetzes. Das eidgenössische Fabrikgesetz ist eine der größten Taten für das Wohl des Schweizervolkes. Es schützt einen großen Volksteil vor körperlicher und geistiger Entartung und nützt so dem gesamten Vaterlände. 2. Die weitere Entwicklung. Mit dem Fabrikgesetze war nicht allen Erfordernissen Genüge geleistet worden. Das Haftpflichtgesetz regelte die Entschädigung bei Unglücksfällen, wodurch unverschuldet Verunglückte vor Not und Elend bewahrt werden sollten. Anstrengungen werden gemacht, um die Arbeitszeit in Handwerk und Gewerbe zu verkürzen, und auf kantonalem Gebiete und in Privatbetrieben ist schon vieles in diesem Sinne erreicht worden (zürch. Lehrlingsgesetz 1906 und Sonntagsruhegesetz 1907). Die Mehrzahl der Fabrikbetriebe hat die Arbeitszeit auf 10 Stunden und 218 sogar noch weiter herabgesetzt. Bereits werden die Vorarbeiten für ein neues, weitergehendes Fabrikgesetz gemacht. Die Kranken- und Unfallversicherung (1912) soll den armem Klassen den Kampf ums Dasein erleichtern. Dies sind wohl die besten Mittel, um die Liebe zu Heimat und Vaterland zu wecken, zu stärken und zu nähren. VII. Freiheit in Handel und Verkehr. Eine Menge Hindernisse hemmte in früherer Zeit den Absatz der erzeugten Waren. Besonders schlimm stand es im Zollwesen. In der Schweiz waren über 400 Zoll-, Brücken- und Weggelder. Bald bezog man die Gebühren von der Bespannung, bald vorn Wagen, bald vorn Gewicht, bald von den Waren. In ihrer Gesamtheit bildeten sie eine starke Belastung. Bei Speditionen nach Italien wurden aus Sparsamkeit 30 bis 40stündige Umwege dem direkten Verkehr über Gotthard und Splügen vorgezogen, nur um den Belastungen und Plackereien auf diesen Wegen zu entgehen. Die dreißiger Jahre brachten innerhalb des Kantons den freien Handel; aber die kantonal-getrennte Wirtschaft hemmte Fabrikant und Kaufmann aufs empfindlichste. Noch waren im Jahr 1843 in der Schweiz 16 verschiedene Postverwaltungen, bei denen nicht immer die Erleichterung und Verbilligung des Verkehrs, sondern die hohen Einnahmen Hauptsache waren. Die Zersplitterung im Miinzwesen verursachte die größten Schwierigkeiten. Die Gesetzgebung über Handel, Verkehr und Niederlassung war nicht einheitlich. Deshalb mußten die Liberalen schon aus Erwerbsrücksichten eine Einigung der Schweiz erkämpfen. In der Bundesverfassung von 1848 sind die Ergebnisse niedergelegt: Münze, Maß, Gewicht, Post, Zoll, später auch Telegraph und Telephon wurden Bundessache. Die Freiheit des Verkehrs wurde garantiert. Die Änderungen in den Kantonen, vor allem aber der Übergang vorn kantonalen zum schweizerischen Wirtschaftsystem bewirkten eine mächtige Entfaltung der Industrie und des Handels. Da eine wesentliche Verbilligung eintrat, wurden Tausende von Artikeln unserem Lande zugänglich. Der Warenaustausch zwischen allen Ländern wurde immer lebhafter und rief neuen und verbesserten Verkehrsmitteln. Die Straßen. Früher waren die Länder im großen und ganzen auf sich selber angewiesen, so daß zahlreiche Handelsstraßen nicht 219 nötig waren. In unserem Kanton wurden nur die drei großen Handelsstraßen: Zürich-Bülach-Eglisau(-Schaffhausen), Zürich-Lim- mattal (-Baden), Zürich-Winterthur (-Frauenfeld) (-St. Gallen) gut unterhalten. Die dreißiger Jahre brachten eine große Verbesserung des Straßenwesens. Sorgfältig machte man die Anschlüsse an die Straßen der anderen Kantone und verband die einzelnen Kantonsteile untereinander. Von 1832—39 gab man im Kanton Zürich mehr als zwei Millionen für Straßenbau aus und legte so den Grund zu dem heute wohl einzig dastehenden Straßennetz, dem immer noch große Aufmerksamkeit geschenkt wird, obgleich die Straßen viel von ihrer Bedeutung eingebüßt haben. Die Bundesverfassung überträgt dem Bunde die Oberaufsicht über Straßen und Brücken, an deren Erhaltung die Eidgenossenschaft ein Interesse hat. Mit Bundeshilfe erfolgte der großartige Ausbau der Alpenstraßen, nachdem Napoleon I. in der Simplonstraße (erbaut 1800—07) eine mustergültige Anlage geschaffen hatte. Die Dampfschiffe. Der Welthandel erhielt einen ungeahnten Aufschwung dadurch, daß die Dampfmaschine zur mechanischen Bewegung der Schiffe verwendet wurde. Das erste gut gelungene Dampfschiff baute 1807 Fulton in Nordamerika, Von da an kam ein reißender Fortschritt im Dampfschiffbau. Schon 1819 fuhr der erste Dampfer von New-York nach Liverpool und brauchte dazu nur 20 Tage. Jetzt waren die Meerschiffe unabhängig von Wind, Wetter und Meeresströmungen. Nach wenigen Jahrzehnten durchkreuzten wahre Schiffskolosse alle Meere. Sie führen uns in fünf Tagen quer über den Atlantischen Ozean, in wenigen Wochen nach Indien, China, Japan und Australien.* Die Kanäle. Mit nie rastendem Eifer suchte man Verkehrserleichterungen zu schaffen. So erbaute der Franzose Lesseps den Suez-Kanal, der 1869 dem Verkehr übergeben wurde. Er ermöglicht, Indien in einem Drittel der früheren Zeit zu erreichen, so daß der größte Teil des ostasiatischen Handels wieder wie früher den Weg durchs Mittelmeer nimmt. Ein ähnlicher Plan, den Großen und den Atlantischen Ozean durch den Panamakanal in Verbindung zu bringen, harrt noch der Vollendung. Im inneren Verkehr suchen die einzelnen Länder durch Kanalanlagen zeitraubende Umwege zu * Am 19. Juli 1835 machte das erste Dampfschiff der Schweiz, die in England gebaute „Minerva“, auf dem Zürichsee seine Eröffnungsfahrt. Heute hat jeder größere Schweizersee seine regelmäßigen Dampfschiffahrten. 220 ersparen (Kaiser Wilhelm-Kanal, Kanal von Korinth). Wo es nur angeht, verbinden Kanalsysteme die Flüsse untereinander, um den billigen Wassertransport der Waren zu ermöglichen. Auch die Schweiz wird in nicht allzuferner Zeit in Basel ihre Hafenstadt besitzen. Eisenbahnen, Telegraph etc. Der Bau von Dampfwagen gestaltete sich schwieriger, weil die treibende Dampfmaschine auf einen sehr kleinen Raum zusammengedrängt werden mußte. Der Engländer Georg Stephenson und sein Sohn Robert brachten die vielen Versuche zu einem glücklichen Abschluß. 1825 wurde in England die erste eigentliche Eisenbahn dem Verkehr übergeben. Bald nahmen die Industrieländer den Bahnbau an die Hand, indem sie ihre Zentren miteinander verbanden. Die erste bedeutendere Linie der Schweiz wurde 1847 von Zürich nach Baden gebaut. Die folgenden fünfzig Jahre brachten ihr über 4000 km Bahnlinien. Keine Schwierigkeit blieb unbesiegt; man durchbohrte die Bergmassive des Gotthards (1880) und des Simplons (1905); die Lokomotiven erklimmen hohe Berggipfel. Die Industrieländer Belgien und England zeigen ein noch engmaschigeres Eisenbahnnetz. Ungeheure Eisenbahnstränge durchqueren ganze Erdteile (Pacifiquebahnen, Transsibirische Bahn). Dampfschiffe und Eisenbahnen, Telegraph und Telephon haben alle Distanzen aufgehoben. Die Länder tauschen rasch und billig ihre Produkte aus; jedes gibt dem andern von seinem Überfluß. Die Schnelligkeit der Warenbeschaffung verhindert die großen Hungersnöte, die früher auch der Schrecken unseres Landes waren. Welch großartige Entwicklung die Schweiz genommen hat, zeigt am besten die Tatsache, daß 1905 im Kanton Zürich allein 30,000 Personen im Handel und 11,000 im Verkehr betätigt waren, oder die andere, daß die Schweiz für zirka 3000 Millionen Franken Waren ein- und ausführt, oder die weitere, daß ein Winterthurer Handelshaus im Jahr eine halbe Million Franken für Telegramme ausgibt. VIII. Die freie Landwirtschaft. 1. Die Naturalwirtschaft. Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der früheren Zeit zwangen die Länder, ihren Nahrungsbedarf selbst zu pflanzen. Der Bauernstand überragte an Zahl alle andern. Das Ackerland überwog vor hundert Jahren noch weitaus. Der Bauer trieb durchaus Naturalwirtschaft. Die Gebrauchsgegenstände, Kleider etc. wurden im eigenen Haushalt erzeugt. Die Geld- 221 wirtschaft war noch unbedeutend. Die Zehnten (Steuern) und Grundzinse wurden in Naturerzeugnissen entrichtet, und die Regierung bezahlte ihre Beamten hauptsächlich in Naturalien: Noch 1803 bezogen die zwei Bürgermeister Zürichs an Wein und Kernen mehr als an bar. 1811 war der Zehntenertrag rund 160,000 Franken, in Geld umgerechnet; davon wurden nur 5 °/o in solchem entrichtet. 2. Der Übergang zur Geldwirtschaft. Weil die Regierungen die Steuern in Naturalien bezogen, war der Anbau des Bodens nicht frei, d. h. der Bauer durfte ihn nicht nach Gutfinden bewirtschaften. In den dreißiger Jahren wurden diese Fesseln gesprengt. Mit dem Wahlrechte war dem Bauer nicht geholfen; er setzte eine erträgliche Loskaufsumme oder Umwandlung von Zehnten und Grundzinsen in Geldabgaben durch. Im Laufe von zirka zwei Jahrzehnten vollzog sich die Umwandlung in die Geldwirtschaft. Von 1855 an hörten die Zehntensteuern, von 1865 die Zinsleistungen in Form von Naturalien auf. 3. Die gefährdete Landwirtschaft. Obgleich der Bauer jetzt frei über seinen Besitz verfügte, kamen doch die erhofften goldenen Zeiten nicht. Auf den Heimwesen blieben viele Schulden haften, und zugleich zeigten sich bisher unbekannte Feinde. Die Hebung des Verkehrs brachte die Konkurrenz des Auslandes. Russischer, rumänischer, ja, amerikanischer Weizen kam billiger auf den Markt als einheimischer. Um nicht unterzugehen, mußte der Bauer die Form der Bodenbebauung ändern. Das Ackerland machte dem Wies- land Platz; Milch- und Fleischprodukte, die im In- und Ausland abgesetzt wurden, verschafften größere Einnahmen und die Mittel, Brot zu kaufen. Die Übergangszeit war eine wahre Notzeit. Es dauerte lange, bis man herausfand, auf welchen Gebieten man noch konkurrenzfähig war. Eine Menge Bauern konnte sich knapp über Wasser halten; die Söhne und Töchter liefen in die Fabriken. So zeigte sich denn ein großer Rückgang in der landwirtschaftlichen Bevölkerung. Von 1870—19C0 sank sie im Kanton Zürich von 104,000 auf 82,000 Seelen, also um 20 °/o. Die Gesamtbevölkerung stieg aber in der gleichen Zeit um rund 150,000 Seelen, so daß der landwirtschaftliche Teil von 36 °/o auf 19 °/<> derselben sank; statt eines starken Drittels beträgt die Bauernsame nur noch einen schwachen Fünftel der Bevölkerung. 4. Die neue Landwirtschaft. Wie in andern Erwerbszweigen war auch für die Landwirtschaft die Anpassung das einzige Mittel, 222 der Konkurrenz zu begegnen und die Lebensfähigkeit zu erhalten. Die Überzeugung brach sich Bahn, daß der Bauer alle Mittel der Wissenschaft und Technik zu verwenden habe, um seine Wirtschaft rentabel zu gestalten. Es entstanden die landwirtschaftlichen Schulen (für den Kanton Zürich am Strickhof). In besonderen Kursen kann sich der Landwirt für Viehbehandlung, Wies-, Obst-, und Weinbau etc. die nötigen Kenntnisse holen. Auch er fängt an, die Maschinen in ausgedehntem Maße zu verwenden. Dadurch hilft er sich am besten gegen den Mangel an Arbeitern, den ihm Industrie, Gewerbe, Handel und Verkehr geschaffen haben. Die Landwirte ganzer Landesteile schließen sich zusammen, um durch Genossenschaften sich bessere Einkäufe und bessere Verwertung ihrer Produkte zu sichern. So hat sich die Landwirtschaft der neuen Zeit angepaßt und kann den Kampf ums Dasein erfolgreich bestehen. Wohl ist die Zahl der Rindviehbesitzer z. B. im Kanton Zürich in den verflossenen dreißig Jahren von rund 20,500 auf rund 18,000, d. h. um zirka gesunken; doch stieg in der gleichen Zeit die Zahl des Rindviehs von zirka 75,000 auf 112,000 Tiere, d. h. um fast genau 50 */o. Durchschnittlich hat sich die Stückzahl auf den Besitzer beinahe verdoppelt (6,3 gegen 3,6 Stück). Es zeigt sich in dieser Erscheinung deutlich der Übergang zum Wiesbau und die Tatsache, daß auch hier die Zwergbetriebe unrentabel sind und durch die größeren verdrängt werden. Wie wichtig unsere schweizerische Landwirtschaft immer noch ist, ersehen wir daraus, daß jährlich für 70 Millionen Franken Käse und kondensierte Milch ausgeführt werden. IX. Die neue Volksschule. 1- Die Schule der guten, alten Zeit. Die Lehrerschaft. Zusammensetzung. — Die Reformation brachte eine Hebung des Schulwesens. Die Geistlichen wollten durch den Jugendunterricht das Volk befähigen, die religiösen Schriften zu lesen und zu verstehen. Die vielbeschäftigten Pfarrer übertrugen mit der Zeit den Unterricht auf andere Leute, so daß schließlich alle Gemeinden besondere Lehrkräfte besaßen. Diese stammten aus allen Berufskreisen. Wir finden unter ihnen Taglöhner, Knechte, Kleinbauern, alte Soldaten, besonders aber Handwerker, die auch neben der Schule ihren Beruf ausübten: Weber, Schuster, Schneider, Küfer etc. Sehr häufig stand der Lehrer zugleich im Kirchendienst als Sigrist und Diener des Pfarrers, von dem er ganz abhängig war. 223 Fast immer war er Ortsbürger, da die Bürger einen großen Widerwillen gegen die Fremden, „die Hintersäßen“, bekundeten. Ausbildung. — Da man von den Lehrern kein großes Wissen verlangte, war ihr Bildungsgrad fast durchwegs sehr gering. Gewöhnlich gingen sie bei einem „Schulmeister“ in die Lehre oder empfingen vorn Pfarrer einige Anleitung. Wer notdürftig buchstabieren, lesen, schreiben, die Fragen des religiösen Lehrmittels (Katechismus), einige Lieder und Gebete konnte, wurde würdig befunden, die junge Welt zu erziehen. War eine Stelle frei, so verkündigte sie der Pfarrer von der Kanzel, und er nahm die Anmeldungen entgegen. Die Bewerber mußten sich in Zürich einer Prüfung unterziehen. Folgender Prüfungsbericht zeigt, wie geringe Anforderungen man stellte. Rudolf Vontobel, Bewerber für die Schule Fägswil, Rüti: „Sein Examen war im Lesen nur mittelmäßig, seine Schrift ordentlich, aber nicht orthographisch. Da er der einzige Bewerber und erst fünfzehn Jahre alt ist, so hat man ihn ernannt, in der Hoffnung, er werde sich bemühen, das Mangelhafte zu verbessern.“ — Naturgemäß war das Ansehen der Lehrer sehr gering. Besoldung. — Die Besoldung ernährte den Mann nicht. Es galt als selbstverständlich, daß der Lehrer neben der Schule sein altes Metier weiter betrieb. Die Bezahlung bestand in Geld und Naturalien : Getreide, Wein, Holz, Torf. Mit letzterem mußte das Lokal geheizt werden, so daß er für die Besoldung eigentlich nicht in Betracht kam. Hauptbestandteil der Besoldung war das Schulgeld, das im ganzen für alle Leute gleich viel betrug; oft wurde von älteren, oder solchen, die das Schreiben erlernten, mehr verlang!. Gewöhnlich mußte der Lehrer von Haus zu Haus gehen, um den Schullohn einzuziehen. Die Höhe des Einkommens wechselte von Gemeinde zu Gemeinde. 1799 berichtete der Lehrer von Hausen: „Habe Gütererwerb und Leineweberei; denn bei dem Schulein- konimen verdient man nicht viel über Brot und Wasser“. Der Schulbetrieb. Schulhäuser. — Nur ein Drittel der Gemeinden des Kantons Zürich besaß besondere Schulhäuser, von denen eine große Zahl ganz ungenügend war. Der Kanton stand nicht helfend zur Seite. Sehr oft scheute man die Reparaturen, so daß der Lehrer sie auf seine Kosten ausführen lassen mußte. Manche Gemeinden mieteten die Schulstube; oft bekam bei der Lehrerwahl der den Vorzug, der eine große Stube zur Verfügung stellen konnte. Mitunter wanderte die Schule von Haus zu Haus. Die Schulstuben waren, niedrig, dunkel, schlecht gelüftet und meist überfüllt. Oft waren die Kinder verpflichtet, das Holz zum Heizen des Ofens selber mitzubringen. Die innere Ausstattung war äußerst ärmlich. Tische zum Schreiben waren in geringer Zahl vorhanden, Veranschaulichungsmaterial fehlte. Es kam sogar vor, daß kranke Angehörige des Lehrers in der Schulstube im Bette lagen. Ein amtlicher Bericht sagte: „Kaum öffnet man die Schulstube, so drängt sich jedem ein niederschlagender Dampf entgegen. Dicht aufeinander gepreßt, in engen, dunkeln Gemächern sitzt die Jugend und atmet zum Verderben ihrer Gesundheit dicke, erhitzte, faule Dünste ein. An den Fenstern rinnt die Feuchtigkeit von den mancherlei Dünsten der nie gelüfteten Schulstube und dem übermäßig geheizten Ofen zusammen und auf die Stühle und die Kleider der daselbst sitzenden Kinder. Diese sind so eng zusammengepfercht, daß jedes, welches seinen Platz verlassen oder an denselben zurückkehren will, über Stühle, Tische und Bänke steigen muß.“ Schulbesuch. Da Handel und Gewerbe in den Händen der Stadt lagen, die gute Schulen besaß, so stellte das Leben keine großen Ansprüche an die Bildung des Landvolkes. Viele Eltern betrachteten die Schule als unnötige und unbequeme Zwangsanstalt, der man sich am besten entzog — die Kinder müßten ja keine Gelehrten oder Pfarrer werden. Der Schuleintritt hing ganz vorn Willen der Eltern ab. Gewöhnlich geschah er mit dem fünften oder sechsten Jahr; aber auch drei- bis vierjährige Kinder wurden in die Schule geschickt oder getragen. Mit dem zehnten Jahre stellten sie bereits eine Arbeitskraft vor, und dann nahm man sie wieder aus der Schule. Der Unterricht war in der Hauptsache auf den Winter verlegt; im Sommer war er sehr eingeschränkt. Die Eltern hatten alle möglichen Ausreden, um die Kinder von der Schule zurückzuhalten ; das Schulgewissen fehlte absolut. Wenn 3 U der Eingeschriebenen anwesend waren, so galt das als ein vorzüglicher Schulbesuch; es konnte aber auch nur ‘/io oder */12 sein. Klagen und Verordnungen brachten keine Besserung. Lehrweise. — Als Zweiganstalt der Kirche hatte die Schule an der religiösen Erziehung des Volkes mitzuhelfen; vor allem sollten gehorsame Untertanen herangebildet werden. Unter religiöser Erziehung verstand man hauptsächlich die Kenntnis der Kirchenlehre. Die Religion war der Mittelpunkt des Unterrichtes. Das Lesen 225 wurde gelehrt, um das Auswendiglernen des religiösen Stoßes zu ermöglichen. Schreiben und sogar Lesen waren untergeordnete Fächer, die Kenntnis der Anfangsgründe im Rechnen war Ausnahme. — Die Klasseneinteilung war verschieden und richtete sich mehr nach dem Können als nach dem Alter. Gewöhnlich bekam jedes Kind sein besonderes Pensum. Der Leseunterricht geschah nach der Buchstabiermethode. Zuerst lernte man die Buchstaben, dann setzte man sie zu Silben zusammen, was ungemein schwer war, da sie sich mit der Lautbildung nicht deckten: a ze ha = ach. ge o äl de = Gold. Nachher kam das Zerlegen der Wörter in Silben. Da einzeln unterrichtet wurde, mußten die armen Kinder täglich stundenlang, sich selber überlassen, hinter ihrem Namenbüchlein sitzen. Nachdem ein mittelbegabtes Kind in zwei bis drei Wintern die Buch- stabierkunst erlernt hatte, ging es an das Buchstabieren und mechanische Auswendiglernen des Lehrstoffes. Die Hauptaufgabe des Lehrers war das Abhören. Das Quantum des Auswendiggelernten galt als Maßstab für die Befähigung. — Schreiben war nur Vorrecht der Knaben; aber bei weitem nicht alle lernten es. Die Eltern mußten diesen Unterricht besonders wünschen. Begonnen wurde damit erst, wenn die Schüler lesen konnten. Lehrer und Schüler beherrschten die Orthographie gewöhnlich sehr mangelhaft. Auch der Gesangsunterricht stand im Dienste der Kirche. Es wurden nur Psalmen und Kirchenlieder gesungen; das Einüben geschah durch unermüdliches Vorsingen. 2. Die Reform der 30er Jahre. (Kt. Zürich.) Nirgends hat die liberale Bewegung der 30er Jahre mit mehr Erfolg gearbeitet als auf dem Gebiete der Schule. Das Volk sollte befähigt werden, von dem erhaltenen Mitwirkungsrecht bei den Staatsgeschäften einen vernünftigen Gebrauch zu machen. War die Bildung früher auf die Stadt beschränkt, also das Vorrecht einer kleinen Minderheit, so sollte sie nun allen vermittelt werden. Das Schulwesen mußte deshalb gründlich umgestaltet werden. Die Schulbehörden. Die oberste Leitung lag beim Erziehungsrate (1798 geschaffen). Es war für die Schule von größtem Werte, daß durchwegs hervorragende Männer, wie z. B. Melchior Hirzel (Präsident) und Thomas Scherr in diese Behörde gewählt wurden. Eine Reihe der trefflichsten Gesetze kamen zustande. Vor allem mußte das Volk für die Schule interessiert werden, und man er- 15 (•eschiehtslehrmi ttel. 226 reichte das durch die Errichtung der Bezirks- und Gemeinde- schulpflegen, denen die Leitung und Beaufsichtigung der Volksschulen übertragen wurde. In der Schulsynode, wo Lehrerschaft und Schulbehörden sich besammelten, sollten die wichtigen Schul- fragen gemeinsam besprochen werden. Die Errichtung des Lehrerseminars. Um die Bildung.des Volkes heben zu können, mußte bei der Lehrerschaft angefangen werden. So schritt man zur Errichtung des Lehrerseminars in Küsnacht, wo intelligente Jünglinge unter der Leitung von Direktor Thomas Scherr zu brauchbaren und begeisterten Volkserziehern herangebildet wurden. Alle Lehrer, ob jung oder alt, Hunderte an der Zahl, wurden sorgfältig auf ihr Wissen geprüft. Da zeigte sich oft erschreckende Unwissenheit. Viele wußten weniger als heute der erste beste Primarschüler. 75 Lehrer wurden sofort in den Ruhestand versetzt. In der Zeit von sieben Jahren stellte man 359 neue Lehrer an. Sie wirkten mit sehr gutem Erfolge. Während man 1833 im Kanton Zürich 139 Schulen als schlecht taxierte, sank diese Zahl bis 1839 auf 37 hinunter. Die neue Volksschule. Das neue Schulgesetz forderte neun Schuljahre (6.—15. Altersjahr), je drei Jahre Elementar-, Real- und Repetier Schulunterricht. Die zwei unteren Stufen hatten Ganztag- schule, die letzte Stufe erhielt sechs wöchentliche Stunden. Nach dem Schulaustritt begann die kirchliche Unterweisung. Ihre Teilnehmer besuchten zusammen mit den Repetierschülern einmal in der Woche die Singschule. — Der regelmäßige Schulbesuch wurde streng gefordert und verteilte sich auf das ganze Jahr. Jede Klasse erhielt eine genaue Zuteilung des Lehrstoffes und jedes Fach seine bestimmte Stundenzahl. Schriftliche und mündliche Beschäftigung wechselten miteinander ab. Als neue Fächer wurden die Realien: Geschichte, Geographie, Naturkunde eingeführt. Jeder Schüler hatte die nötigen Bücher anzuschaffen. Tabellenwerke für Sprache und Singen veranschaulichten den Unterricht. Die Kirche verlor die Leitung der Schule. Der Lehrer wurde selbständig gemacht und lebte nur noch seinem Berufe; er war beliebt und geachtet, da er an Bildung den ersten der Gemeinde gleich stand. Seine Besoldung wurde besser; Gemeinde, Staat und Eltern teilten sich darein. Eine Menge Schulhäuser wurden gebaut, die meisten aus freiem Willen der Gemeinden; jede Schule erhielt wenigstens ihr eigenes Zimmer, das nur dem Unterricht diente. 227 Sekundärschule. — Um das Bedürfnis nach weiterer Bildung zu befriedigen, wurde eine höhere Volksschule, die Sekundärschule, eingerichtet. Das erworbene Wissen sollte erweitert und ergänzt und zugleich die Möglichkeit geboten werden, sich für höhere Schulen vorzubereiten. Der Unterricht wurde für Knaben und Mädchen berechnet und auf drei Jahre verteilt. Gewöhnlich umfaßte ein Schul- kreis eine ganze Reihe von Gemeinden. 1839 hatte der Kanton schon 42 Sekundärschulen. Die Leistungen wurden immer besser, so daß in jenem Jahre keine Schule als schlecht bezeichnet werden mußte. Thomas Scherr. Eine Anzahl vorzüglicher Männer setzten ihre Kraft für den Ausbau der Volksschule ein. Das Hauptverdienst fällt aber unbestritten dem mit „höchstem Wollen und höchstem Können“ ausgestatteten Seminardiiektor Thomas Scherr zu. Er stammte aus Württemberg und besaß einen guten Namen als Blin- denerzieher, so daß er zum Leiter der zürcherischen Blindenanstalt berufen wurde. Die liberale Bewegung machte ihn zum Erziehungsrat und Seminardirektor. Die Prüfung der Lehrer, die Inspektion der Schulen, der Unterricht am Seminar, der Entwurf des Volksschulgesetzes spannten seine Kräfte beinahe Tag und Nacht an. Geradezu Unübertroffenes leistete er in der Schaffung neuer Lehrmittel, die wahre Lieblingsbücher wurden und deren gehaltvolle Erzählungen den Schülern unvergeßlich blieben. Dem Schulreformator Scherr ist es zu verdanken, daß in freundlichen Schulstuben strahlende und leuchtende Augen, welche Lernbegierde und Wissensdurst verrieten, dem anregenden Unterricht begeisterter Lehrer folgten. Zum Danke dafür hat ihm das Volk den Ehrennamen „Vater der zürcherischen Volksschule“ gegeben. Der höhere Unterricht. Ebenso weitsichtig und glücklich wurde der höhere Unterricht organisiert. Die Kantonsschule in Zürich umfaßte das Gymnasium und die Industrieschule. In der ersten Schule wurden die Schüler unterrichtet, die sich einem gelehrten Berufe (Arzt, Pfarrer, Jurist, Professor) zuwenden wollten, während die zweite im Dienste von Handel, Gewerbe, und Industrie stehen sollte. Als oberste Lehranstalt des Kantons Zürich wurde 1833 die Hochschule (Universität) eröffnet, in der Lehrer, Geistliche, Ärzte und Rechtsgelehrte ihre Bildung holen. 3. Die neueste Entwicklung des Volksschulwesens. Die zür- cherische Schule wurde für die ganze Schweiz vorbildlich und verschaffte dem Kanton seine einflußreiche Stellung. Sie entwickelte 228 sich, obgleich Rückschläge nicht ausblieben, in erfreulicher Weise bis zur Gegenwart. Gesunde, luft- und lichtreiche Schulhäuser, oft wahre Schulpaläste, zeigen, daß die Schule dem Zürchervolk ans Herz gewachsen ist. Die moderne wirtschaftliche Entwicklung hat neue Bedürfnisse und Ziele gebracht. Die Entwicklung von Gewerbe, Handel, Industrie und Landwirtschaft verlangte eigene Berufsschulen (Gewerbe- und Handelsschulen, Technikum). Die beruflichen Fortbildungsschulen sind für die Lehrlinge obligatorisch. Freiwillige Schulen, deren Obligatorium angestrebt wird, ermöglichen die Fortbildung der männlichen und weiblichen Jugend; die Mädchen können sich in hauswirtschaftlichen Kenntnissen ausbilden. Die Volksschule selber hat die Einflüsse der industriellen Entwicklung erfahren. Sie ist nicht mehr bloß Lehranstalt, sondern muß vielenorts, besonders in Industriezentren, der Familie einen großen Teil der Kindererziehung abnehmen. Durch die unentgeltliche Abgabe aller Lehrmittel und Schulmaterialien werden die Familien entlastet, durch Milchabgabe, Ferienkolonien die kränklichen Kinder unterstützt. Bereits führen die großem Orte unentgeltliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung der Schulkinder ein. So suchen Staat und Gemeinde alles aufzuwenden, um ein gesundes und kräftiges Geschlecht heranzuziehen. X. Die Welt- und Industriereiche. Die Schweiz ist nur ein kleines Glied der Staatenreihe. Sie kann sich allein nicht genügen, sondern ist in ihrem Erwerbsleben auf die andern, mächtigeren Staaten angewiesen. Und bei diesen gilt nicht der freie Wettbewerb, besonders nicht bei Staaten, die infolge ihrer Ausdehnung, Lage und Hilfsmittel ihre Bedürfnisse selber bestreiten können. Rücksichten auf Industrie, Landwirtschaft und Handel bestimmen die Entschlüsse und das Tun. Die modernen Kämpfe spielen sich nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern noch mehr auf wirtschaftlichem Gebiete ab. Ein Land sucht das andere auf dem Markte zu verdrängen, finanziell zu überflügeln oder von sich abhängig zu machen. Die Industrie will sich ihre Absatzgebiete und ihre Bezugsquellen sichern. Schon längst gehen die Ziele, Wünsche und Verbindungen über das eigene Land hinaus und erstrecken sich auf alle Weltteile. Jeder große Staat sucht durch Erwerb von Kolonialbesitz in fremden Erdteilen Stützpunkte seiner Unternehmungen. So wurde der Erdteil Afrika auf- 229 geteilt und versucht, ganz Asien abhängig zu machen. Die Siege auf diesem Gebiet verschafften verschiedenen Reichen eine Weltstellung. 1. England. Als das mächtigste der Weltreiche muß England bezeichnet werden. Dank seiner alten freiheitlichen Einrichtungen konnte hier das Zeitalter der Maschine zuerst seine Herrschaft ausüben. Die riesenhafte Warenerzeugung und der gewaltige Bedarf an Rohstoffen verlangten sichere Absatz- und Bezugsgebiete, und so sehen wir parallel mit der industriellen Blüte sein Anwachsen zu einem Weltreiche. Die günstige Lage und sein unbeschränkter Reichtum verschafften ihm die unbestrittene Herrschaft zur See. In allen Erdteilen wurden Gebiete, vor allem das reiche Indien, erworben, wobei immer die Rücksichten auf die Sicherung der Erwerbsverhältnisse ausschlaggebend waren (z. B. Burenkrieg). Kein Staat versteht es aber besser als England, die Eigenart der Kolonien zu schonen, und willig gibt es ihnen die Selbstverwaltung (z. B. Transvaal), wenn nur seine Handelsinteressen nicht darunter leiden. Noch ist Englands vorherrschende Stellung unbestritten. Alle wichtigen See-Engen, Häfen, Kohlenstationen, Kabel sind in seinen Händen; weit läßt es alle Länder in der Zahl der Schiffe zurück. Und dabei huldigt es dem Freihandel, im Gegensatz zu den übrigen Staaten, die durch Schutzzölle den Einfluß der andern Länder zurückdrängen. Für den Schweizer Markt ist England weitaus der beste Käufer. 2. Die Vereinigten Staaten von Amerika. In den Vereinigten Staaten Nordamerikas ist England ein gefährlicher Nebenbuhler entstanden. Nachdem sie sich vorn Mutterlande losgelöst hatten (1776), zeigten sie ein staunenswertes Wachstum. Durch eine nie versiegende Einwanderung wuchs die Einwohnerzahl sehr rasch, und bald dehnte sich die Union bis an den Großen Ozean aus. Während zunächst die Produkte eines ergiebigen Landbaues den Hauptreichtum des Landes ausmachten, kam durch die großen Metall- und Kohlenvorräte sehr bald ein industrieller Aufschwung, so stark, daß unüberbrückbare Gegensätze zwischen dem industriellen Norden und dem plantagenbautreibenden Süden geschaffen wurden. Dieser stützte seine Blüte auf die Sklavenwirtschaft (1860: 4,5 Millionen Sklaven bei 31 Millionen Gesamtbevölkerung) und brauchte für den Absatz seiner Erzeugnisse: Baumwolle, Zucker, Tabak und Reis und die billige Beschaffung der Industrieprodukte den freien Handel. Der Norden hingegen forderte im Namen der Mensch- 280 lichkeit Abschaffung der unwürdigen Sklaverei; auch verlangte er für seine junge Industrie Schutzzölle gegen europäische Waren. Während der Süden seit dem Bestehen der Union die Leitung des Staates in den Händen hatte, riß sie 1860 der volksreiche Norden durch die Wahl des Präsidenten Abraham Lincoln an sich. Dies führte zum Bürgerkriege. Die zwölf Südstaaten trennten sich von der Union und bildeten einen Sonderbund. In jahrelangem Ringen warf der Norden die Sklavenstaaten, die anfänglich im Vorteil waren, nieder und sicherte die Einheit und den Fortbestand der Union. (1861 bis 1865.) Trotz der ungeheuren Verluste an Menschen (eine halbe Million) und Vermögenswerten (45,000 Millionen Franken), und obgleich weite Landstriche verödet waren, erholte sich das Land wunderbar schnell. Der Sklavenkrieg war nur eine kleine Unterbrechung in der riesigen Entwicklung. Die Bevölkerung wuchs im schnellsten Tempo und beträgt heute rund 90 Millionen. Riesenstädte schössen wie Pilze aus dem Boden. Die Industrieerzeugnisse und die Produkte der Landwirtschaft und Viehzucht wurden auf alle Märkte der Welt geworfen, während man ausländische Waren durch Schutzzölle fernzuhalten suchte. Schon frühe zeigte die Union den festen Willen, den Einfluß Europas in Amerika zu brechen. „Amerika den Amerikanern“ wurde zum Losungswort. So verhinderte sie beim Abfall Südamerikas eine Unterstützung Spaniens, zwang Napoleon aus Mexiko weg und verdrängte Spanien aus seiner letzten Besitzung in Westindien (Kuba). Hingegen wollte sie in allen Welthändeln mitreden. Die Vereinigten Staaten nahmen den Spaniern die Philippinen weg und benutzten den Anlaß, sich neben den Europäern in Asien festzusetzen. (1906.) Kein Staat darf es auf einen Krieg mit dem mächtigen Reiche der Neuen Welt ankommen lassen. Kein Land aber zeigt nackter die Jagd nach dem Golde als gerade die Union. 3. Deutschland. Die kriegerischen Erfolge und die Einigung von 1871 machten Deutschland mit einem Schlage zur gefürchtetsten Landmacht Europas. Mit Riesenschritten holte es die versäumte industrielle Entwicklung nach. Nach zwei Dutzend Jahren hatte es schon den Charakter eines Industriestaates. Sein Handel wetteifert mit dem der größten Weltreiche. Berlin, die neue Reichshauptstadt, zählt zu den größten Städten der Welt, und die westlichen Hafenplätze Hamburg und Bremen werden an Bedeutung nur von wenigen Städten der Erde übertreffen. Als Militärstaat steht — 231 Deutschland unerreicht da; aber auch in Handel und Industrie wetteifert es, zum Teil erfolgleich, mit England; eine große Handelsflotte, die einen vorzüglichen Ruf genießt, durchkreuzt alle Meere. Wie andere Industriestaaten sucht auch Deutschland sich in fremden Erdteilen festzusetzen, so in Afrika und Asien; hingegen reicht der Wert seiner Kolonien bei weitem nicht an den der englischen oder französischen heran. 4. Frankreich. Die führende Stellung, die dieses Land noch unter Napoleon III. in Europa innegehabt hatte, scheint für immer verloren zu sein. Zwar erholte es sich erstaunlich rasch von den Folgen des Krieges 1870/71. In wenigen Jahren zahlte das reiche Land die großen Kriegskosten. Die größten Anstrengungen waren aber nötig, um die dritte Republik dauernd zu erhalten. Erfolgreich wurden die monarchischen Parteien zurückgedrängt, und der republikanische Gedanke faßte immer tiefere Wurzeln. Während Frankreich sich in Europa weise zurückhielt, wußte es seinen Kolonialbesitz glücklich zu erweitern. In Afrika wurden neu Tunis und Madagaskar, in Asien Tonkin und Anam gewonnen. Ganz neulich brachte es Marokko unter seinen Einfluß. Zugleich ist es bestrebt, eine unbequeme Erbschaft aus den Zeiten des Kaiserreiches zu beseitigen. Unter der Monarchie hatte die Kirche einen maßgebenden Einfluß im Staate, besonders aber im Schulwesen. Der Staat erklärte die weltliche Schule als obligatorisch (1881) und stellte die Privatschulen unter staatliche Aufsicht. Die Kirche wurde vorn Staate getrennt und ihres Einflusses auf die öffentliche Schule enthoben. Durch dieses Vorgehen hat Frankreich die stärkste Stütze der Monarchie zerbrochen; aber der Schulzwang hat noch mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Frankreich nimmt in der Staatenreihe eine recht angesehene Stellung ein. Seine Industrie und sein Handel sind sehr bedeutend, und doch kann es den ersten Weltreichen nicht mehr beigezählt werden. Während in Deutschland die Bevölkerung sich seit 1871 um mehr als die Hälfte, d. h. auf 65 Millionen vermehrte, bleibt Frankreich immer bei seinen 40 Millionen. Hingegen schlägt es in einer Hinsicht alle übrigen Länder: Paris, die große Weltstadt, überstrahlt an Schönheit, Reichtum und Pracht alle übrigen Metropolen. In ungezählten Mengen strömen bei Anlaß der Weltausstellungen aus allen Enden des Erdballs die Menschen nach Frankreichs Hauptstadt, um ihr ihre Huldigung entgegenzubringen. 232 5. Rußland. Im Laufe des vorigen Jahrhunderts wuchs Rußland sich zu einem wahren Riesenstaat aus. Die Niederlage im Krimkriege drängte sein Bestreben, in Konstantinopel Herr zu werden und so den Ausgang des Schwarzen Meeres und die Herrschaft über das östliche Mittelmeer zu gewinnen, nur für kurze Zeit zurück. Als sein Besieger, Napoleon III., 1871 gestürzt war, nahm es seine alten Pläne wieder offen auf. Kriegsschiffe und Kriegshäfen wurden vertragswidrig am Schwarzen Meere gebaut. Die Aufstände der christlichen Völker auf der Balkanhalbinsel und deren grausame Niederwerfung durch die Türken boten Rußland den erwünschten Anlaß, das Schutzrecht über die Christen auszuüben, welches es seit einem Jahrhundert beansprucht. Aber nur mit größter Anstrengung vermochte es im Russisch-Türkischen Krieg 1877/78 der Türken Herr zu werden und den Sultan zum Frieden zu zwingen. Die westlichen Staaten Europas entzogen ihm aus Neid und Angst die Früchte des Sieges. Der Berliner Kongreß ordnete die Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel. Die drei Länder: Griechenland, Serbien und Montenegro, die sich früher von der Türkei losgelöst hatten, erhielten Gebietserweiterungen; das Königreich Rumänien wurde selbständig und das neu errichtete Fürstentum Bulgarien blieb nur dem Namen nach türkisches Gebiet (jetzt selbständiges Königreich). Österreich besetzte Bosnien und die Herzegowina mit Truppen, England riß Cypern an sich, während Rußland die Südgrenze östlich und westlich vorn Schwarzen Meere vorschob. Erfolgreicher war Rußland mit seiner Eroberungspolitik gegen Osten. Nach dem Grundsätze: „Wir kennen in Asien keine Grenzen“, hatte es seinen Besitz bis zum Großen Ozean ausgedehnt. Dort gründete es eine starke Seefestung, die den bezeichnenden Namen Wladiwostock, d. h. Herr des Ostens, erhielt. Sein Ziel war, sich in China und Indien festzusetzen. Vorsorglich wurden Eisenbahnen an die Grenfce Afghanistans und durch Sibirien angelegt. Als in den Jahren 1900 und 1901 die Großmächte Europas, die Amerikanische Union und Japan mit China wegen der Fremden- und Christen Verfolgung im Kriege lagen, wußte sich Rußland in den Besitz der chinesischen Mandschurei zu setzen, wo es die große Seefestung Port Arthur ausbaute. Schon streckte es seine Hand nach dem benachbarten Korea aus, verwickelte sich aber dadurch in einen Krieg mit Japan, das auch ein Auge auf diese Gegenden 233 hatte und sich selber bedroht fühlte. In gewaltigen Schlachten zu Land und zur See wurden die Russen besiegt und die Festung Port Arthur nach langer Belagerung genommen (1904/05). Rußland mußte sich zum Frieden bequemen und Japan die erhofften Erwerbungen, vor allem Korea, überlassen. Die Unglücksfälle des Krieges brachten im russischen Reiche lang zurückgedrängte Gärungen zum hellen Ausbruche. Das verdorbene Beamtenheer des unumschränkt-regierenden Zarentums war der Schrecken der Bevölkerung. Mit Militär- und Polizeigewalt waren alle freiheitlichen Äußerungen der Bauern, Arbeiter und der Intelligenz, d. h. der gebildeten und geschulten Leute, erstickt worden. Nun äußerte sich der revolutionäre Geist in wilden Aufruhr- und Plünderungsszenen. Als auch im Militär und in der Flotte der Abfall begann, schien das Reich aus den Fugen zu gehen. Der Kaiser suchte durch Gewährung einer gesetzgebenden Behörde, der „Duma“> den Brand zu dämpfen. Mit großer Härte und Grausamkeit wurde die Ruhe äußerlich wieder hergestellt. Die große Mehrheit des Volkes aber hofft vergeblich auf eine staatliche Umgestaltung. (i. Japan. Seit kurzem ist in die Reihe der Großmächte ein Vertreter der gelben Rasse getreten, das Kaiserreich Japan. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts zwangen die Mächte die uralten Kulturländer China und Japan, ihre Ab Schließung aufzugeben und sich dem Welthandel zu öffnen. Bald zog Japan durch die großen Änderungen, die es vornahm, die Augen der Welt auf sich. Das alte Japan. Bis zum Jahre 1868 erinnerten die Verhältnisse Japans lebhaft an die Ritterzeit des Mittelalters. An der Spitze des Staates stand als Oberherr der Mikado. Unter ihm waren die Landesfürsten, die „Daimyos“, mit eigenen Hofhaltungen und Heeren, die aus dem kriegerischen, niederen Adel, den „Samurai“ bestanden. Im Laufe der Zeit hatte ein Stellvertreter, der Shogun, die staatliche Macht in die Hand bekommen, während der Mikado als religiöses Oberhaupt von den Staatsgeschäften ferngehalten wurde. Bis 1854 sperrte sich das Land von den Fremden ab; dann erzwängen die Nordamerikaner die Öffnung der Häfen. Die Europäisierung Japans. Der Shogun hatte sich als unfähig erwiesen, die Fremden fernzuhalten. Dadurch büßte er sein Ansehen ein, und eine immer stärker anschwellende Bewegung suchte die lästig gewordene Stellvertretung abzuschaffen und den Mikado wieder in seine alten Rechte einzusetzen. Ein langer Bür- 234 gerkrieg entschied zu gunsten des Mikados: 1868 übernahm derselbe in Tokio die Zügel der Regierung. Er setzte die Europäisierung des Reiches durch, die in erstaunlich kurzer Zeit vollendet war Die Teilfürsten verschwanden, und ein starker Einheitstaat entstand. Die Verhältnisse Europas, die dessen Kraft ausmachen: Industrie, Welthandel, Verkehrsanstalten, ein geschultes Heer und eine moderne Flotte wurden in Japan eingeführt. Japanische Jünglinge besuchten europäische Schulen, Fabriken und Kriegsanstalten; eine Menge fremder Gelehrter, Techniker und Offiziere wurden die Lehrmeister der gelehrigen, kleinen Japaner. Die japanischen Städte bekamen europäisches Aussehen, Die allgemeine Schulpflicht, die viele europäische Staaten noch nicht haben, wurde eingeführt, Fabriken, Eisenbahnen, Telegraphen und Militärschulen errichtet und gewaltige Kriegsschiffe gebaut. Die Umwandlung ging nicht ohne Widerstreben vor sich; aber die Ausstände, die der alte Adel anzettelte, wurden niedergeworfen und das Interesse größerer Volkskreise dadurch geweckt, daß das Volk eine Verfassung und einen gesetzgebenden Reichsrat erhielt. Japan wird Großmacht. Der neue Staat wollte seine Kräfte erproben. 1894 griff Japan seinen großen Nachbarn China an, um die nahe Halbinsel Korea zu gewinnen. Das Land brauchte Platz für seine überschüssige Bevölkerung und seine Industrieprodukte. China, das den Schritt nach vorwärts nicht mitgemacht hatte, wurde zu Land und Wasser geschlagen und mußte Port Arthur, Korea und Formosa an den Sieger abgeben. Aus Eifersucht mischte sich Rußland ein, dem sich Deutschland und Frankreich anschlössen. Japan wurde um seine Beute betrogen; nur Formosa verblieb ihm, während sich die Europäer von China ihre Dienste durch Abtretung gutgelegener Häfen bezahlen ließen. Diese Behandlung entfachte in China den Fremdenhaß, der sich durch Ermordung der Missionäre und Christen äußerte. Im Jahre 1900 bestraften die vereinigten Mächte Europas die Ausschreitungen des Boxeraufstandes durch einen Kriegszug nach Peking. Bei dieser Gelegenheit wußte sich besonders Rußland zu bereichern. Nachdem es bereits 1896 Port Arthur erhalten hatte, nahm es die ganze Mandschurei, das Stammland der chinesischen Kaiser, in Besitz, und keine Reklamationen vermochten, es daraus zu vertreiben. Als die Russen noch ihre Hände nach Korea ausstreckten, eröffneten die Japaner den Krieg. In glänzenden Siegen 235 erntete Japan die Früchte seiner Anstrengungen. Die Eroberung Port Arthurs bedeckte sie mit unvergänglichem Ruhme. Der Friedensschluß brachte die Festsetzung Japans auf dem asiatischen Festlande (Korea), und seitdem spricht die erste Großmacht der gelben Rasse als „Großbritannien des Ostens“ in allen Welthändeln ein gewichtiges Wort. Die schlimmen Erfahrungen der letzten Jahre befestigte auch bei einem großen Teile der Chinesen die Überzeugung, daß eine Änderung des bisherigen, veralteten und verlotterten Regierungssystems zur Notwendigkeit geworden sei. Eine große Reformpartei sucht den bedrohten Staat zu retten. Vor allem ist der Süden entschlossen, die verhaßte Fremdherrschaft der Mandschu abzuschütteln. Er proklamierte die Republik mit Nanking als Hauptstadt, und tapfere republikanische Heere unternahmen es, die Mandschudynastie zur Abdankung zu zwingen. Gelingt es dem volkreichen China, die Fesseln zu sprengen und in die Reihe der modernen Völker zu treten, so wird Europa noch mehr als bisher, besonders in wirtschaftlicher Hinsicht recht mit der „gelben Gefahr“ zu rechnen haben. •?Mr> 7 »- .••■cl-: • AJ ■; ■ ' "■ ' • .«sr«^ti!l w? . t • i i • 34)1 /••’.:•' JV -An.! • .Ii"> • <.? «***^3 fcit/ .'•'O"- ?: v:.u-zU-i-s'>l i»S^ - -i > .-.'Ä’/i '.a-> • '. ;.••• •••' . • :: ‘ . '' " " ' 'i * ,' - . / 1 •|t‘ >V '<« s’.* 7* <>!>. . .. . >' \ sl '- •* . # ; 7 ..: ' • « *u- ‘ - v »-.t v ■ V r--:r \ :.. Geschichtslehrmittel für Sekundärschulen Zweiter Teil Lesebuch Im Auftrage der Sekundarlehrerkonferenz des Kantons Zürich bearbeitet von Robert Wirz, :: in Verbindung mit :: Dr. H. Gubler, J. Stelzer und H. Sulzer Buchdruckerei Töß: J. Gremminger & Co. :: 1912 Vorwort Dem Leseteil fällt die Aufgabe zu, unsern Leitfaden zu vertiefen, gewissermaßen zu illustrieren. Dadurch, daß der Schüler miterlebt und darum mitempfindet, soll er befähigt werden, den Geist der betreffenden Zeit zu erfassen. Unser Bestreben ging dahin, Stoffe auszuwählen, die das Interesse des Schülers wecken und nähren. Wir haben mit Vorliebe dem Dichter das Wort gelassen, besonders da, wo historische Vorgänge in innerlich wahrer Weise eine packende Bearbeitung gefunden haben. Auf exakte Quellen wurde zwar nicht verzichtet, obgleich die streng wissenschaftliche Behandlung der Geschichte besser einer höheren Stufe zugewiesen wird. Es ist nicht zu vergessen, daß wir in der Volksschule mit einem naiven, kindlichen Geiste zu rechnen haben. Wenn nicht alle Epochen gleichwertige Lesestücke ausweisen, so liegt der Fehler weniger an uns — da wir uns redlich Mühe gegeben haben, das Gute herauszusuchen — als daran, daß nicht alle Zeiten in gleichem Maße dichterische Behandlung erfahren haben. Unser Lesebuch läßt sich auch ganz gut neben anderen Leitfaden verwenden, sei es, indem der Lehrer sich daraus interessante Detailkenntnisse erwirbt, so daß er den Unterricht anregender gestalten kann, sei es, indem er Passendes vorliest oder vorlesen läßt. Am meisten Gewinn wird aber zu erzielen sein, wenn das Buch in die Hand des Schülers kommt und von ihm gelesen wird. Wir rechnen auch darauf, daß die Familienangehörigen gerne nach dieser Lektüre greifen werden, um auf angenehme Weise interessante Partien vergangener Zeiten sich näher zu bringen. — Für die Einklassenschulen war schon längst ein solches Hilfsmittel notwendig. Allzulange Lektionen ermüden sowohl den Lehrenden, als auch den Lernenden. Der Leseteil soll die nötige Abwechslung und geistige Aus- spannung in den Geschichtsunterricht bringen. Die Verwendung der Lesestücke, die Art der Verflechtung mit dem übrigen Geschichtsunterricht bleiben dem pädagogischen Geschick des einzelnen Lehrers überlassen; eine allgemein gültige Wegleitung ist nicht möglich. Es ist aber zu betonen, daß diese Lesestücke sich viel eher zur Hauslektüre und Hauspräparation eignen, als der eigentliche Wissensstoff des Leitfadens. Der Lehrer fordere nie alle Details ab; oft genügen IV wenige Fragen, um sich zu vergewissern, ob der Stoff verstanden und aufgenommen worden ist. Man halte sich auch nicht sklavisch an die Reihenfolge und stelle sich nie zur Aufgabe, alle Stücke zu behandeln. Geschmacksrichtung, Zeit und Gelegenheit werden bei der Auswahl maßgebend sein. Das Buch verzichtet auf den üblichen Bilderschmuck. Nach unserer Erfahrung eignen sich die meisten dieser Illustrationen nicht für den Klassenunterricht. Die Bilder sind zu klein und bieten nicht, was sie im Original versprochen haben: die Kleinheit der Dimensionen verunmöglicht eine künstlerische Darstellung; zudem sind die wünschenswerten Bilder gewöhnlich nicht erhältlich. Ganz anders stellen wir uns allerdings zu einem Bilderschmuck, der nach künstlerischer Auswahl die Motive aus dem Stoff herausschöpft und dekorativ verwendet. Aus leicht begreiflichen Gründen mußten wir leider von einer solchen Ausstattung des Buches absehen. — Da der moderne Geschichtsunterricht sich stark nach der kulturellen Seite hin be- tätigt, wird die bildliche Veranschaulichung indes notwendig. In den größeren Schulen haben sich die Projektionsapparate eingebürgert, die mit Vorteil in den Dienst des Unterrichtes gestellt werden; die nötigen Diapositive sind leicht zu beschaffen. Für alle Schulen aber empfehlen wir aufs wärmste die großen, farbigen Klassenbilder, die in neuester Zeit eine künstlerische Ausgestaltung erfahren haben. Wirverweisen in erster Linie auf die Lehmann’schen kulturgeschichtlichen Bilder (Verlag: Wachsmuth, Leipzig), zu denen auch z. T. ein ausführlicher Kommentar zu haben ist. (Z. B. Akropolis, Olympia, Römisches Haus, das Forum, römische Krieger, Christenverfolgung, das Turnier, Bauer und Landsknecht, das Lager, Volksopfer etc. etc.; das genaue Verzeichnis, das über 30 Nummern umfaßt, ist in jeder Buchhandlung zu haben.) Der Lehrer lege durch jährliche Anschaffungen planmäßig eine Bildersammlung an; die Schulbehörden werden die geringen Mittel gerne bewilligen, falls durch die Art des Unterrichtes die Notwendigkeit der Anschaffungen belegt wird. Möge unser Lesebuch dazu beitragen, den Geschichtsunterricht- auf der Stufe der oberen Volksschule anregender und ersprießlicher zu gestalten. Winterthur, im Februar 1912. Robert Wirz. 1. Herkules. Herkules (Herakles) war der Sohn des Zeus und der Alkmene, der schönen Tochter des Königs von Mykene, weshalb er von Hera verfolgt wurde. Sie schickte zwei entsetzliche Schlangen aus, i die sich an seiner Wiege emporringelten und seinen Hals umstrickten. Herkules erwachte mit einem Schrei, da das ungewohnte Halsband ihm unbequem wurde. Nun gab er die erste Probe seiner Götterkraft: er ergriff mit jeder Hand eine Schlange am Genick und erstickte sie mit einem einzigen Druck. — Als Jüngling überragte er alle Altersgenossen an Größe und Stärke. Er war furchtbar anzusehen; sein Körper maß vier Ellen, und Feuerglanz entströmte seinen Augen. Nie fehlte er sein Ziel im Schießen des Pfeils und im Werfen des Spießes. Mit achtzehn Jahren war er der schönste und stärkste Mann Griechenlands, und es sollte sich jetzt entscheiden, ob er diese Kraft zum guten oder schlimmen anwenden werde. Unschlüssig stand er am Scheidewege, wo ihm zwei Frauen erschienen. Die eine, die Tugend, zeigte in ihrem ganzen Wesen Anstand und Adel, ihr Blick war bescheiden und ihre Haltung sittsam, die andere dagegen, das Laster, war eitel und frech. Jede wollte den Jüngling an sich ketten. Obgleich das Laster ihm einen angenehmen, mühelosen Lebensweg und jede Lust verhieß, wählte Herkules doch den beschwerlichen Pfad der Tugend. Er befreite das Land von einem schrecklichen Löwen und ermöglichte den Göttern den Sieg im Kampfe gegen die Giganten, die den Himmel stürmen wollten. Hohe Gunst wurde ihm zum Danke von den Himmlischen zu teil. Zeus nannte die tapferen Götter, welche mitgefochten hatten, Olympier und auch Herkules, der Sohn eines sterblichen Weibes, genoß diese Ehrung, Um der Unsterblichkeit teilhaftig zu werden, mußte Herkules im Auftrage des Königs von Mykene zwölf Arbeiten verrichten. Im Peloponnes, bei Nemea, hauste ein Löwe, der mit keinen menschlichen Waffen verwundet werden konnte. Dessen Fell sollte der Held erbeuten. Aber nirgends konnte er die Spur des Ungeheuers bemerken, und nirgends konnte er den Pfad zu seinem Lager erkunden; denn die Furcht hielt alle Menschen in ihre fernen Gehöfte verschlossen. Endlich, gegen Abend, kehrte der Löwe vorn Fang in seine Erdspalte zurück: er war von Fleisch und Blut gesättigt, Kopf, Mähne und Brust troffen von Mord, mit der Zunge Geschichtslehrmittel. II. 1 2 leckte er sich das Kinn. Der Held rettete sich in einen dichten Waldbusch und suchte ihn mit Pfeilschüssen zu erlegen. Aber die Geschosse drangen nicht ins Fleisch, und als das Untier den Angreifer erblickte, zog es seinen langen Schweif an sich, sein Nacken schwoll vor Zorn auf, unter Murren sträubte sich seine Mähne, sein Rücken wurde krumm, wie ein Bogen, und mit einem Sprung ging es auf seinen Feind los. Herkules versetzte ihm mit seiner Keule einen Schlag auf den Nacken, so daß es mitten im Sprunge wieder zu Boden stürzte und auf seine zitternden Füße zu stehen kam, mit dem Kopf wackelnd. Dann nahte Herkules von hinten, schlang die Arme um den Nacken des Löwen und schnürte ihm die Kehle zu, bis er erstickte und seine grauenvolle Seele zum Hades zurücksandte. Als der König den Sieger mit der Hülle des gräßlichen Tieres daherkommen sah, geriet er über die göttliche Kraft des Helden in solche Angst, daß er in einen ehernen Topf kroch. — Die zweite Arbeit war, die Hydra zu erlegen, die in Argolis die Herden zerriß und die Felder verwüstete. Sie war unmäßig groß, eine Schlange mit neun Häuptern, von denen acht sterblich, das in der Mitte stehende Haupt aber unsterblich war. Herkules zwang durch Schüsse mit brennenden Pfeilen die vielköpfige Schlange, ihren Schlupfwinkel in einer Höhle zu verlassen. Sie kam zischend hervor, ihre neun Hälse schwankten emporgerichtet auf dem Leibe, wie die Äste eines Baumes im Sturme, und sie umschlang den einen Fuß des Helden. Dieser schlug ihr mit seinem Sichelschwerte die Köpfe ab. Aber er konnte nicht zum Ziele kommen. War ein Haupt weg, so wuchsen zwei Köpfe empor. Zugleich kam der Hyder ein Riesenkrebs zur Hülfe, der Herkules empfindlich in den Fuß kniff. Den tötete er jedoch mit seiner Keule, und mit glühenden Baumstämmen überfuhr er die neu wachsenden Häupter der Schlange bei ihrem ersten Empor- keimen und hinderte sie so hervorzutreiben. Nun schlug er auch das unsterbliche Haupt ab, begrub es am Wege und wälzte einen schweren Stein darüber. Seine Pfeile tauchte er in das Blut, das giftig war. Seitdem schlug des Helden Geschoß unheilbare Wunden. — Die folgende Arbeit war eines Helden weniger würdig. Er sollte den Stall des Augias, des Königs von Elis, wo dreitausend Rinder lange Zeit gestanden hatten, in einem einzigen Tage ausmisten. Doch Herkules riß den Grund des Viehhofes auf der einen Seite weg, leitete zwei Ströme herzu und ließ den Unrat wegspülen. So voll- zog er einen schmachvollen Auftrag, ohne sich zu einer Handlung zu erniedrigen, die eines Unsterblichen unwürdig gewesen wäre. — Dann holte er eine Rinderherde, die von Riesen bewacht war-, von einer Insel des Ozeans. Beim Durchgang in den Ozean (bei Gibraltar) pflanzte er auf zwei Felsbergen die berühmten „Säulen des Herkules“ auf. — Alle zwölf Aufträge wurden glücklich erledigt, und noch manche große Tat machte ihn gefürchtet und berühmt. Doch ereilte auch ihn das Schicksal. Seine eigene Frau sandte ihm, ohne es zu wissen, den Tod. Aus Eifersucht, um sich seine Liebe zu erhalten, färbte sie mit einer Zaubersalbe, die ihr ein heimtückischer Feind übergeben hatte, ein köstliches Unterkleid, das füi ihren Gatten bestimmt war. Das Gift drang in seinen Körper, das Gewand schien, wie vorn Schmied angelötet, an seinen Seiten zu kleben, und eine Zuckung fuhr durch sein ganzes Gebein. Der Gequälte schrie, als fräße eine Natter an seinem Leibe. Auf einem Scheiterhaufen suchte er durch den Flammentod seine entsetzliche Qual zu beendigen. Da senkte sich eine Wolke herab auf den Holzstoß und trug den Unsterblichen unter Donnerschlägen zum Olymp empor. Dort gab ihm Hera, die sich mit ihm aussöhnte, ihre Tochter Hebe, die Göttin der ewigen Jugend, zur Gemahlin. Nach Gustav Schwab. 2. In Olympia. Um das höchste Ziel der Ehren, den olympischen Ölzweig zu erlangen, hat Xantippos im heimatlichen Gymnasien täglich seine Glieder geübt, seine Kraft gestählt. Jetzt meldet er sich, ein frei- geborner Hellene, zum Wettkampf, und sein Name wird von den Festordnern zu Elis in eine Liste eingetragen. Zehn Monate vor dem Streite beginnen die Vorbereitungen. Damit der Reiche vor dem Armen nichts voraus habe, leben alle Bewerber nach derselben Regel, sie genießen alle dieselbe Kost. Endlich ist die Zeit der Entscheidung gekommen. Auf dem „heiligen Wege“-, der Küste des Meeres entlang, ziehen die Welt- streiter nach Olympia. Bei einer Quelle wird ein feierliches Reinigungsopfer vollzogen. Bald ist auch der Festort erreicht. Am Zusammenfluß des Alpheios mit dem Kladeosbach erglänzen in weiter Ebene prächtige Tempel, Altäre, Bildsäulen, nebst ausgedehnten Gymnasien und Palästren. Von allen Seiten her treibt man Schlachtvieh und Opfertiere aller Art nach der Stadt. Auf dem 4 Alpheios ziehen Kähne mit Lebensrnitteln: Die Menge der Festbesucher will auch ernährt sein. Der Zug langt inzwischen vor dem Rathaus an. Die Festordner erklären eidlich, daß sie die Kämpfe unparteiisch angeordnet, die Wettstreiten daß sie die vorgeschriebenen Gesetze getreulich erfüllt haben. — Während Xantippos die überwältigenden Eindrücke staunenden Auges in sich aufnimmt, führt ihn sein Ringlehrer in die Palästra; es ist keine Zeit zum Feiern 1 So kann er denn auch nicht Zeuge der Völkerwanderung sein, die sich auf den sieben Straßen nach dem Festorte hin bewegt. Kein blutiger Zwist ist jetzt zu fürchten; Gottesfrieden herrscht, so haben es die elischen Herolde des Zeus befohlen. Jeder Grieche, der Elis bewaffnet betritt, bezahlt harte Buße. Der erste Festtag bricht an. Er beginnt mit einem Opfer an Zeus. Nach der Vereidigung der Kampfrichter und der Einordnung der Kämpfer zerstreut sich das Volk, um den Sehenswürdigkeiten des Ortes, vor allem dem Zeustempel mit der Kolossalstatue des Gottes, dem Meisterwerk des größten griechischen Künstlers, die verdiente Beachtung zu schenken. — Xantippos aber kehrt zu seinen Übungen zurück, für ihn gilt es, alle Kräfte zu konzentrieren. — Am Morgen des zweiten Festtages strömten die Zuschauer nach dem Stadion zu den Wettkämpfer! der Knaben. Je vier treten zum einfachen Lauf an. Auf ein Zeichen fliegen die nackten Gestalten mit Windeseile über den Sand. Die Sieger der einzelnen Viererreihen kämpfen wieder unter sich. Diesmal trägt, unter lautem Beifall des Volkes, ein leichtfüßiger Spartaner den Preis davon. — Der dritte Tag erst bringt den Wettkampf der Männer. Mit Sonnenaufgang beginnen sie den einfachen und den doppelten Stadionlauf. Gegen Mittag rüstet sich Xantippos zum Ringkampf. Mit Glück besteht er verschiedene schwächere Gegner und tritt nun zum Entscheidungskampf mit einem riesigen Großgriechen aus Kroton an. Dem Brauche gemäß haben die beiden ihren Körper mit Öl ein- gerieben und mit Sand und Asche bestreut. Mit gespreizten Beinen, die Oberarme an die Brustseiten gelegt, stehen sie einander gegenüber. Als der gewaltige Krotonese, zum Angriff übergehend, seinen Gegner mit den Riesenarmen umschlingen will, weicht dieser blitzschnell aus und reißt ihm das rechte Bein mit aller Kraft in die Höhe. Dröhnenden Falles stürzt der Koloß zur Erde. Im zweiten Gang ist der Riese vorsichtig geworden und hält sich in der Vei - 0 teidigung. Doch ein Schlag in die Kniekehle fällt ihn wiederum. Als er dann auch noch ein drittes Mal mit beiden Schulterblättern die Erde berührt, ist Xantippos unbestrittener Sieger. Schwer atmend, aber die Brust von Stolz geschwellt, begibt er sich nunmehr als Zuschauer zu den Faustkämpfen. Eben rüsten sich die Paare, Unterarme und Hände mit Riemen von Ochsenhaut umwickelnd. Einige Stellen werden sogar durch gehärtetes Leder oder Bleistücke und Nägelköpfe verstärkt. Ein ungleiches Paar tritt auf. Aber mit unglaublicher Gewandtheit weicht der schlanke Inselgrieche seinem gewaltigen Partner aus. Nicht ein einziger Schlag trifft ihn, während fortwährend seine Faust auf das Gesicht des Gegners niedersaust. Als bei einem zweiten Kämpferpaare einer der Gegner mit eingeschlagenen Zähnen ohnmächtig niedersinkt, wendet sich Xantippos unmutig von dem rohen Schauspiel und kehrt sich dem Pankration, der Vereinigung des Ringens mit dem Faustkampfe zu, wo die Kämpfer einander mit unbewehrten Händen gegenüberstehen. — Der vierte Tag ist dem Streite der Viergespanne gewidmet. Schon vor Sonnenaufgang steht Xantippos mit seinen Freunden wartend im Hippodrom. Endlich erscheint, vorn Volke jubelnd begrüßt, der erste der niedrigen, zweirädrigen Wagen, in dessen hinten offenem Korbe ein vornehmer Thessalier unbeweglichen Gesichtes seine feurigen Pferde meistert. Nach ihm traben zwei Athener Gespanne, dann endlich die Rappen eines reichen Inselgriechen in die Bahn. Die Wagen sind geordnet. Ein Trompeten- signal ertönt. Angefeuert durch lauten Zuruf, gehetzt durch Rute und Stachelstab stürzen die edlen Tiere vorwärts. Zusehends gewinnt der Thessalier an Vorsprang. Haarscharf an der letzten Säule vorbedenkend, pariert er stolz, umbraust vorn Beifall der Menge, die dampfenden Rosse vor dem Ziele. Noch zweimal ist Xantippos Zeuge dieses nervenkitzelnden Sportes der Reichen Griechenlands, dann wendet er sich zum Aufbruch nach dem Stadion, wo der Fünfkampf, das Pentathlon, abgehalten werden soll. In den Händen die Halteren (halbovale Metallstücke zum Durchstreifen der Finger) fliegen die Springer, „die schönsten Männer Griechenlands“ unter dem „Flötenspiel eines pythischen Liedes“ in flachem Bogen über die Erde. Dann wird der Diskos, eine linsenförmige Metallscheibe, nach dem entfernten Ziele geworfen. Noch mehr Interesse erwecken das Schleudern des dünnen, spitzen Speeres und der darauf folgende Wettlauf. Zwischen den beiden letzten Käm- 6 pfern — die Unterlegenen sind fortwährend ausgeschaltet worden — entscheidet der Ringkampf. Schon flimmern die Sterne, als zum Abschluß des Tages der Wettlauf der Bewaffneten, die das Stadion zweimal zu durchmessen haben, erfolgt. Mit begreiflicher Ungeduld erwartet Xantippos den fünften Tag und mit ihm die Preisverteilung. Ein Knabe hat mit goldenem Messer vorn heiligen Ölbaum beim Zeustempel längere Reiser abgeschnitten, die, zu Kränzen gewunden, zu Füßen des Zeusbildes zur Schau gestellt werden. Xantippos Herz klopft zum Zerspringen, als er vortritt und sich mit dem Kranze schmücken läßt, und fast erdrückt ihn das Übermaß der Freude, als der Herold vor dem jubelnden Volke seinen Namen, denjenigen seines Vaters und seiner Heimat laut ausruft. Dankerfüllt gegen die Götter, nimmt er an der Prozession teil, um den Olympischen durch ein Siegesopfer zu huldigen. Noch muß er an dem Festmahle, das die Eleer den Siegern darbieten, teilnehmen, dann kehrt er, begleitet von Verwandten und Bekannten, in seine Heimatstadt zurück, wohin die frohe Kunde bereits gedrungen ist. Sein Einzug gleicht dem Triumph des Siegers aus einer großen Schlacht. Eine Ehrensäule in der Heimat und eine Statue in Olympia erinnern die Nachwelt an Xantippos, den Sieger im Ringkampf. H. Gubler. Nach Bötticher u. a. 3. Spartanische Zucht. Die Knaben. Die Ephoren sollten dafür sorgen, daß der Adel in Sparta den Periöken und Heloten an Kraft ebensoweit überlegen bleibe, als er ihnen an Zahl nachstand, daß er in allen kriegerischen Tugenden, in Tapferkeit, Abhärtung des Leibes und Waffenübung, in Disziplin und Gehorsam das Höchste leiste. Zu diesem Zwecke führten sie die Oberaufsicht über die Erziehung der adeligen Jugend, welche der Staat ganz in seine Hand nahm. Schon bei der Geburt des Kindes wurde von besonderen Beamten entschieden, ob es zum lebenskräftigen Menschen tauge oder nicht. War es verkrüppelt oder schwach, so wurde es in die Wildnis ausgesetzt. Nur bis zum siebenten Jahre durfte der Knabe bei der Mutter bleiben, dann mußte er in die gemeinsamen Erziehungshäuser wandern, wo vorn Staate bestellte Lehrer strenge Zucht übten. Gewöhnung an einfache Lebensweise und Abhärtung des Körpers war das Ziel. Die Zöglinge gingen barfuß und barhaupt, selbst im Winter nur leicht gekleidet, und schliefen ohne Decke auf bloßem Schilfe, den sie selbst im Eurotas holen mußten. Die Kost war so mager, daß sie nur durch Diebereien ihren Hunger stillen konnten. Ertappte man sie nicht darüber und zeigten sie es nachher an, so gereichte es ihnen zum Lobe, da man sie in der List üben wollte; geschah das Gegenteil, so bekamen sie Schläge. Gegen Hunger und Durst, Frost und Hitze, gegen körperliche Schmerzen jeder Art sollten sie unempfindlich sein. Alljährlich fand darin eine Art Prüfung statt, indem sie vor dem Altar der Artemis bis aufs Blut gepeitscht wurden. Wer die Geißelung am längsten aushielt, ohne eine Miene zu verziehen, war der Sieger; es kam vor, daß Knaben, ohne einen Schmerzenslaut unter den Streichen tot zu Boden sanken. Täglich übten sie sich im Laufen, Springen, Diskos- und Speerwerfen, im Fechten und auch in kriegerischen Tänzen. Dazu kam noch etwas Musik und das Singen von Liedern, wie sie die Spartaner bei Festen und im Kriege erschallen zu lassen pflegten. Da sangen z. B. die Alten: „Wir waren junge Männer einst voll Mut und Kraft“. Darauf die Männer: „Wir aber sind es, hast du Lust, so erprob es“. Und die Jünglinge: „Wir aber werden künftig noch viel besser sein“. Sonst hatten sich diese der größten Ehrfurcht dem Alter gegenüber zu befleißigen. Bescheiden und gemessenen Schrittes, mit niedergeschlagenen Augen, die Hände in den Mantel gewickelt, mußten die Jünglinge auf der Straße erscheinen. Jeder Erwachsene war verpflichtet, Fehlbare, wo er sie traf, sofort mit dem Stocke zu züchtigen. Oft nahm man die Knaben zu den Mahlzeiten der Männer mit, damit sie an deren Gesprächen ihren Geist bildeten; aber niemals durften sie ungestraft dreinreden. Wurden sie um ihre Meinung befragt, so mußten sie diese kurz und bündig, ohne Wortschwall auszusprechen suchen. Daher waren die kurzen, treffenden lakonischen Antworten berühmt. Ähnlich wurden die Mädchen erzogen, und die Frauen Spartas waren infolgedessen als die schönsten und kräftigsten von ganz Hellas berühmt. Die Jünglinge. Mit dem 18. Jahre traten die Jünglinge aus den Erziehungshäusern der Knaben in eine Art Kaserne über, wo sie in der Handhabung der Waffen und in militärischen Marschübungen unterrichtet wurden. Mit dem zwanzigsten Jahre begann die eigentliche Dienstpflicht. Aber bis zum dreißigsten mußten sie in der Kaserne bleiben und die täglichen Kriegs- und Leibesübungen mitmachen. Daneben lag ihnen noch eine andere Aufgabe ob, die Überwachung der Heloten. Jeden Winter mußten einige Hundert junge Spartaner, mit dem Schwerte umgürtet, den Ranzen mit Lebensrnitteln auf dem Rücken, ausziehen und jeder für sich so geheim als möglich das Land durchstreifen, um das Treiben der Heloten zu belauschen. Dabei hatten sie das Recht, jeden, der ihnen gefährlich schien, ohne weiteres niederzustoßen. So schwebten die Heloten in beständiger Todesfurcht. Zugleich diente dieser Spionendienst als Vorschule für den Krieg; er gewöhnte die jungen Spartaner an List und Blutvergießen, an Strapazen aller Art. Die Erwachsenen. Mit dem dreißigsten Jahre wurde der Spartaner mündig; nun durste er endlich einen eigenen Hausstand gründen. Aber auch jetzt noch mußte er mit seinen Waffenkameraden gemeinsam speisen, und der Staat schrieb die Speise vor, damit keinerlei Üppigkeit und Weichlichkeit einreiße. Je fünfzehn taten sich nach freier Wahl zu einer Tischgesellschaft zusammen, die zugleich die unterste Abteilung des Heeres bildete. Jeder lieferte zur gemeinsamen Tafel einen Beitrag. Das Hauptgericht für alle, die Könige nicht ausgenommen, war die „schwarze Blutsuppe“, d. h. saures Schweinefleisch, in Blut gekocht; dazu durften noch Wildbret, das einer der Tischgenossen selber erlegt hatte, 0ersten- brot, Wein und Früchte kommen. Die Kleidung war für alle dieselbe, ein Hemd und ein Mantel von grober, ungefärbter Wolle. Keinerlei Luxus wurde geduldet. Ein Gesetz schrieb vor, daß die Decke des Hauses nur mit der Axt, die Türe nur mit der Säge bearbeitet sein dürfe. Damit nicht durch den Handel Luxuswaren ins Land kämen, hatte man in Sparta eisernes Geld, das in der Fremde wertlos war. Bei Todesstrafe war den Spartanern verboten, ohne Erlaubnis der Obrigkeit die Heimat zu verlassen. Ausländer durften sich nur vorübergehend, unter strenger Aufsicht in Lakonien aufhalten; sich anzusiedeln, ward ihnen nie gestattet. So stand das Leben des Spartaners von der Geburt bis zum Tode unter hartem Zwang, ein jeder sollte fühlen, daß er nicht sich, sondern dem Ganzen angehöre. — Den übrigen Griechen schien ein solches Dasein einförmig und freudlos. Ein Sybarit meinte, es wundere ihn nicht, daß die Spartaner so todesmutig in den Kampf gingen; ein Leben, wie das ihrige, sei nicht besser als der Tod. In der Tat war es, als ob ihr wahres Dasein erst mit dem Kriege beginne. Da zogen sie ein purpurenes Festkleid an, kämmten sich sorgfältig Haar und Bart und legten Kränze um ihre Helme. Unter dem Klänge der Flöten, unter dem Schalle der Kriegslieder stürzten sie sich in die Schlacht. Diejenigen, die tapfer kämpfend fielen, wurden mit Lorbeerkränzen geschmückt, und bei ihren Angehörigen überwog freudiger Stolz die Trauer. Wer geflohen oder auch nur zurückgewichen war, galt sein ganzes Leben für ehrlos. „Kommt entweder mit dem Schilde zurück oder (tot) auf demselben 11 , riefen die Mütter den zum Kriege ausziehenden Söhnen zu; denn keinen größeren Schimpf gab es in Sparta, als den schweren Schild weggeworfen zu haben, um fliehen zu können. Gewiß verdient die Selbstverleugnung, mit der die Spartaner diese rauhe Zucht auf sich nahmen, die höchste Bewunderung. Aber man darf darüber nicht vergessen, daß sie dabei schließlich kein anderes Ziel im Auge hatten als das, ihre unnatürliche Gewaltherrschaft über ihre geknechteten Stammesbruder zu behaupten. Diesen Zweck erreichten sie allerdings vollkommen. Dank ihrer unablässigen Turn- und Waffenübungen, ihrer Gewöhnung an Genügsamkeit und strengen Gehorsam wurden sie unvergleichliche Krieger. Sie galten als unüberwindlich und hielten es nicht für nötig, ihre Stadt mit Mauern zu umgeben, da ihr die Tapferkeit der Männer hinlänglich Schirm zu gewähren schien. Aber das war auch ihr Einziges. Die geistige Bildung vernachlässigten sie fast gänzlich; da es bei ihnen keine geschriebenen Gesetze gab, lernten sie kaum lesen und schreiben. Alles, was sonst das Leben schön und wert macht, fehlte in Sparta. Kein hervorragendes Kunstwerk schmückte die Stadt; ihre öffentlichen Gebäude waren nüchtern und unschön, wie die Hütten der einzelnen Familien. Ausgezeichnete Krieger hat Lakedämon in Menge erzeugt, aber keinen Künstler, keinen Dichter, keinen Denker, ja kaum einen Staatsmann, der durch höhere Einsicht oder großartige Entwürfe sich einen hervorragenden Platz in der Geschichte errungen hätte. Aus: „Bilder aus der Weltgeschichte“ von Wilh. Öchsli. 4. Die Schlacht bei Salamis. Durch den Sieg von Thermopylä und Artemision lag Mittelgriechenland dem Heere des Xerxes offen. Die persisch Gesinnten nahmen ihn mit Freuden auf, vor allem die Thebaner, deren Kontingent während des letzten Kampfes im Engpaß zu ihm übergetreten war. Die Gebiete der Gegner wurden verwüstet, die Ortschaften in Brand gesteckt. 10 Die einzige noch vorhandene Verteidigungslinie zu Lande war jetzt der Jsthmos. Hier sammelte sich ein starkes, peloponnesi- sches Heer und begann Verschanzungen anzulegen. Die Gebiete nördlich vorn Isthmos waren nicht mehr zu halten. So blieb allen, die sich den Persern nicht unterwerfen wollten, nichts übrig, als schleunigst ihre Familien und ihre Habe über See zu flüchten. Auch für Athen gab es keinen andern Ausweg. Aber es zeigte sich der Situation gewachsen. Man beschloß die Auswanderung. Weiber und Kinder, Knechte und Habe wurden in Salamis, Ägina, Trözen untergebracht; die Männer gingen zur Flotte, wo ihnen die herrlichste Ausgabe winkte. In Athen blieben nur wenige zurück, die von den heiligen Stätten nicht weichen mochten. Sie verschanzten sich auf der Burg und wehrten sich aufs äußerste. Die Aufforderung, sich zu ergeben, wiesen sie zurück. Schließlich wurde der Burgfels erstiegen, die Verteidiger wurden niedergemacht und die Tempel in Brand gesteckt. — Inzwischen hatte die griechische Flotte bei Salamis Stellung genommen. Die Verluste waren, teils durch Ausbesserung der Schäden, teils durch weiteren Zuzug, ausgeglichen. (Gesamtzahl zirka 300 Schiffe). Die Stellung im Sunde zwischen Salamis und dem Festlande deckte nicht nur die Flucht der attischen Bevölkerung und hemmte das Vordringen der feindlichen Flotte, sondern sie machte auch einen Angriff des Landheeres auf die Isth- mosstellung unmöglich, da sie dasselbe beim Vormarsch auf der schmalen Küstenstraße in der Flanke und im Rücken fassen konnte. Freilich als man die gewaltigen Massen der feindlichen Armee am jenseitigen Ufer sah, als die persische Flotte vor Anker ging, und vollends als nun auch von der Burg Athens die Flammen aufstiegen, da sank vielen der Mut; sie forderten, man solle sich an den Isthmos zurückziehen unter den Schutz des Landheeres und der Verschanzungen. Aber die Gründe für das Ausharren, die Themi- stokles darlegte, waren unwiderleglich; auch war, seit die persische Flotte in der Nähe lag, ein Rückzug durchs offene Meer gar nicht mehr möglich. Die Frage war jedoch, ob die Perser sich darauf einlassen würden, die Seeschlacht anzunehmen. War es für sie nicht weit richtiger, nach dem Peloponnes zu fahren und die einzelnen Landschaften von der See aus anzugreifen. Dann blieb Heer und Flotte der Griechen nichts anderes übrig, als zur Rettung der bedrängten Heimat zu eilen, und Xerxes konnte mit leichter Mühe den Isthmos nehmen und allen weiteren Widerstand ersticken. Aller- 11 dings konnte sich auf diese Weise der Krieg noch Monate lang hinziehen und noch viel Blut fordern. Jetzt dagegen hatte man die Gelegenheit, mit einem Schlage ein Ende zu machen. Besorgnis hatte man nicht. War man doch bisher stets siegreich gewesen; auch hatte man den Hauptteil des feindlichen Landes bereits erobert. So entschied sich Xerxes für die Schlacht. Bestärkt in seinem Entschluß wurde er durch eine Botschaft, die ihm, in der Besorgnis, die Perser möchten einsichtig genug sein, die Schlacht zu vermeiden, Themistokles durch einen Sklaven übersandte: Die Griechen wären unter sich uneins und entschlossen, zu fliehen; er selbst sei den Persern geneigt; der König möge also angreifen und sich den leichten Sieg nicht entgehen lassen. Das klang wahrscheinlich genug; Xerxes mochte schon längst erwartet haben, daß die Griechen mürbe würden. So gab er Befehl, in der Nacht alle Ausgänge der griechischen Stellung zu sperren und gleichzeitig setzte sich das Landheer gegen den Isthmos in Bewegung. In drei Reihen hintereinander aufgestellt lag die persische Flotte am Eingang des Sundes; auf der in der Mitte liegenden Insel wurde eine starke Truppenabteilung postiert, um die Schiffbrüchigen abzufangen. Auf der Höhe, an der Küste im Norden, nahm Xerxes seinen Standort. Mit Tagesanbruch ging die gesamte hellenische Flotte unter Schlachtgeschrei gegen die Feinde vor. Als die Griechen ihrer ansichtig wurden, stockten sie einen Moment; bald aber griff ein Schiff nach dem andern an. Eine Zeit lang stand der Kampf; dann kam die persische Flotte ins Gedränge, da die hinteren Reihen die Bewegung der vorderen hemmten. Die einzelnen Schiffe und Mannschaften kämpften mit äußerster Tapferkeit, weil sie unter den Augen des Königs fochten; aber auf dem .engen Raum konnten sie nicht manöverieren, noch sich im Einzelkampfe unterstützen. Dabei verstanden die Griechen, auch auf der See Ordnung zu halten. So errangen sie den Sieg, gerade weil sie in der Minderzahl waren. Die Perser hatten sich verleiten lassen, den Kampf auf einem Schlachtfelde anzunehmen, das ihnen so ungünstig war, wie nur irgend möglich. Nicht einmal zur Flucht hatten sie jetzt Raum, sie verwickelten sich ineinander, das Meer füllte sich mit Schiffstrümmern und Leichen. Von vorn drängten die Athener; sie warfen die feindlichen Schiffe auf den Strand oder trieben sie den Korinthern und Ägineten auf dem rechten Flügel in die Arme. Das Korps auf der Insel im Eingänge des Sundes wurde von einer Schar 12 attischer Hopliten und Schützen unter Aristeides vernichtet. — Als nach zwölfstündigem Kampf die Nacht hereinbrach, war die gewaltige persische Flotte zersprengt und großenteils vernichtet; der Rest, der sich wieder sammelte, war vollkommen unfähig, das Meer zu behaupten. Die attische Flottenschöpfung hatte sich glänzend bewährt: sie hatte die Freiheit von Hellas gerettet. Nach Eduard Meyer. 5. Die Akropolis in Athen. „Geweihter Grund ist hier, wo Ihr auch schreitet, Staub, der gemeine Formen nie gebar.“ (Byron.) Kein Ort auf dem klassischen Boden von Hellas hat schon im Altertum den Blick aller so auf sich gelenkt wie die Akropolis, die Hochstadt oder Burg in Athen. Bei der Anlage wurde nicht der höchste der Hügel gewählt, sondern derjenige, der oben die größte Fläche und die steilsten Wände hatte. Er liegt 156 m über Meer und 70 m über der Stadt. Oben besitzt er eine Fläche von 300 m Länge und 130 m Breite und ist nur von Westen aus bequem zu ersteigen. Nach den Perserkriegen wurde diese Burg den Göttern eingeräumt. In der Stadt lebten damals zwei Männer, die es vorzüglich verstanden, die öffentlichen Arbeiten zu leiten, Perikles und Phidias. Baukunst und Bildhauerei hatten den höchsten Grad der Vollkommenheit erreicht, im Staatsschätze lagen über 50 Millionen Franken, schöner, weißer Marmor stand reichlich zur Verfügung, es mangelte nicht an kunstsinnigen Steinmetzen, Erzgießern, Goldschmieden und Elfenbeinarbeitern. Über dem abschüssigen, westlichen Felshang erheben sich die Propyläen oder Torhallen. Sie nehmen etwa 20 m in der Breite ein. Auf drei Stufen aus weißem Marmor steigen wir zur Bodenfläche hinan. Hier empfangen uns sechs dorische Frontsäulen von 8,5 m Höhe und 5 m Umfang, gekrönt mit einem marmornen Giebeldach. Jede Säule hat 20 scharfkantige Rinnen (Kannelüren). Hinter den beiden mittleren Säulen stehen in zwei Reihen, senkrecht zu der Front, je drei schlanke, jonische Säulen von 10,25 m Höhe und 3 m untern Umfang. Sie tragen eine weitgespannte Marmordecke. Massive Mauern schließen den Mittelbau zu beiden Seiten ab. 14 Schritte weiter zurück, einige Stufen höher, verlaufen quer durch den ganzen Bau die Tormauern, die einst mit hohen, 13 eisernen Toren versehen waren. — Aus den Öffnungen dieser Gittertore treten wir wieder in eine Vorhalle aus sechs dorischen Säulen. Rechts und links schließen vortretende Gebäude den Burgfelsen auch seitlich vollständig ab. Im linken Anbau befand sich die Pinakothek, der Gemäldesaal. Von Gemälden ist aber leider nichts mehr zu entdecken. Beim südlichen Flügel steht auf einem hohen Mauerpfeiler der reichverzierte Niketempel, d. h. der Tempel der Athene als Siegesgöttin. Eine Fülle von Herrlichkeit strahlte einst aus dem Innern der Burg dem Besucher entgegen: Prächtige Tempel, Statuen aus Erz und Marmor, Weihegeschenke aller Art, kostbare Geräte, Siegesrosse, ganze Kriegsgespanne aus getriebener Metallarbeit! Dreierlei fesselte das Auge besonders: das Kolossal- standbild der Athene Vorkämpferin, dahinter links der Tempel der Burggöttin, das Erechtheion und rechts in gebietender Hoheit der Parthenon, der Tempel der jungfräulichen Athene. Die Athene ging aus den Werkstätten von Meister Phidias hervor und stand auf einem freien Platz, etwa 50 Schritte von den Propyläen entfernt. Das helmgekrönte Haupt und die goldene Lanzen- spitze überragten den Parthenon. Die Göttin war mit dem Fußgestell über 21 m hoch, hielt in der rechten Hand eine Lanze und in der linken einen Schild. Leider ist von dem Standbild nichts mehr erhalten. —Im Erechtheion, einem Doppelheiligtum, wurden Athene als Stadtbeschützerin und der Meergott Poseidon verehrt. Unter dem Tempelboden ist das Grab des Erechtheus, des Stifters der athenischen Religion. Der ganze Bau hat eine Länge von 20 m und eine Breite von 11 m und ist im jonischen Stil gehalten. Reizende Vorhallen bilden von drei Seiten den Zugang zum Heiligtum. Bekannt ist die liebliche Karyatiden- oder Korenhalle, in der überlebensgroße Jungfrauenstatuen statt Säulen das Dach tragen. Etwa 100 Schritte von den Propyläen entfernt erhebt sich rechts auf dem höchsten Teil der sanftansteigenden Hochfläche der Parthenon, der Festtempel der Stadtschutzgöttin, der Pallas Athene, das edelste, vollendetste Bauwerk des Altertums. Damit sich der Bau besser abhebe, steht er auf drei mächtigen Stufen aus Marmorquadern von ungefähr einem halben Meter Höhe. Unter Perikles’ Leitung hatten berühmte Meister den Bau errichtet. Der reiche bildhauerische Schmuck wurde nach Entwürfen des Meisters Phidias, der selber mit Hand anlegte, geschaffen. Der Parthenon, ein Rechteck von 70 m Länge und 30 m Breite, trägt 14 als äußere Einfassung 46 marmorne, dorische Säulen von mehr als 10 m Höhe, die je aus 12 einzelnen Trommeln bestehen. Der untere Durchmesser ist 2, der obere IV 2 m. Die Säulen, die in der Mitte eine leichte Anschwellung zeigen, sind mit 20 scharfkantigen Furchen versehen, die eine wirksame Schattierung erzeugen. Auf den Säulenkapitälen ruht das marmorne Gebälk, bestehend aus Architrav und Fries. Der Fries war bemalt und mit Relieffiguren verziert, die Kämpfe darstellten. Die dreieckigen Giebelfelder zeigten prächtige Figuren auf rotem Grunde. 3 cm dicke marmorne Platten bedeckten das Dach. Durch zwei Vorhallen gelangt man in den eigentlichen Tempel, in die Cella. Diese ist 59 m lang und 22 m breit, gemauert und 2 Stufen höher als die Standfläche der äußern Säulen und ist wieder in zwei Hallen eingeteilt, deren Wände tiefrote Bemalung ausweisen. Die östliche Halle diente zur Aufbewahrung kostbarer Weihegeschenke und Geräte, die westliche war das Amtslokal des Staatsschatzmeisters. Zwischen dem Schatzhaus und der östlichen Vorhalle liegen drei Hallen. In der mittleren stand die herrliche, von Phidias gemeißelte Statue der Pallas Athene. Der Kern bestand aus Holz. Ihn umgaben dünne, elfenbeinerne Platten und zu feinem Blech getriebenes Gold; blitzende Edelsteine bildeten die Augen. Die linke Hand hielt Lanze und Schild, die ausgestreckte rechte trug eine stehende Siegesgöttin mit goldenen Flügeln. Der Wert der „Athene Partlienos“ wird auf 3 Millionen Fr. geschätzt. In dem 160 m langen Fries stellte Phidias einen Festzug zu Ehren der Athene dar (Panathenäen). Der ganze Parthenon kostete über 1000 Talente oder 6 Millionen Franken. Rings um den Parthenon standen unzählige Weihegeschenke und Heiligtümer, kleinere Tempel und Götterbilder aus Marmor und Bronze, Marmorsteine, auf denen die Staatsurkunden eingemeißelt waren. Alle vier Jahre setzte die Feier der Panathenäen die Bürger Athens in fröhliche Aufregung. Mädchen der ersten Geschlechter woben einen neuen Mantel für die Statue der Schutzgottheit, der vermutlich zur Einhüllung des Standbildes zu den Zeiten diente, da es keinen Festbesuchern gezeigt wurde. Dieses Gewand führten sie dann selber, Opferkränze und Schalen tragend, in einer Prozession zum Tempel hinauf. Den Jungfrauen folgten ihre Brüder, Verwandten, Verlobten, „die jungen Ritter“ Athens, hoch zu Roß. Schicksale der Akropolis: 430 Umwandlung der Akropolis in einen christlichen Tempel. — 1205 Besetzung der Burg durch die Franken, Fr- 15 — richtung eines Wachtturmes in den Propyläen — 1460 Umwandlung des Parthenons in eine Moschee, der Propyläen in ein Wachtgebäude mit Waffen- und Pulvermagazin. — 1656 Der Blitz schlägt ein, ein Teil der Propyläen fliegt in die Luft. — 1687 Bombardement der Stadt durch die Venezianer; eine Bombe fällt in das Pulvermagazin im Parthenon; der Mittelbau stürzt zusammen. ■— 1801 Plünderung der Akropolis durch den englischen Gesandten in Konstantinopel, Lord Eigin. —1827 Beschießung der Akropolis im griechischen Freiheitskampf. Ein Teil des Erechtheions wird zertrümmert. G. Strickler. 6. Aus dem Leben Alexanders des Großen. Schon als Knabe gab Alexander manche Probe seines feurigen und ehrgeizigen Geistes. Er war ein ausgezeichneter Läufer. Als man ihn aber fragte, ob er nicht in Olympia bei den Kampfspielen auftreten wolle, antwortete er stolz: „Wenn ich Könige zu Mitkämpfern haben werde“. Frühe reifte in ihm ein hoher Geist und eine unbezwingliche Ruhmbegierde. Wenn Botschaft kam, daß sein Vater einen großen Sieg gewonnen oder eine Eroberung gemacht, so vernahm er sie mit finsterer Miene und sagte zu seinen Gespielen: „Mein Vater wird mir alles wegnehmen und mir keine Gelegenheit lassen, mit euch große und glänzende Taten zu verrichten“. Als man ihm sagte, das alles erwerbe ja Philipp für ihn, versetzte er: „Was nützt es mir, wenn ich vieles besitze, aber wenig unternehmen kann?“ Und als er einmal in Abwesenheit des Königs persische Gesandte bewirtete, richtete er an sie keine kindischen Fragen wie andere, über den goldenen Weinstock mit Trauben aus Smaragden und Edelsteinen, welchen ein reicher Untertan dem Perserkönig geschenkt habe, sondern er tat solche Fragen an sie, über die Länge des Weges, die Art und Weise im obern Asien zu reisen, über den König selbst und die Macht der Perser, daß sie sich sehr verwunderten und die hochgerühmte Gewandtheit Philipps gegen den kühnen und unternehmenden Geist seines Sohnes für nichts rechneten. Die Tüchtigkeit des Jünglings in ritterlichen Übungen erkennt man aus der Art, wie er das berühmte Pferd, Bukephalos (Stierkopf) genannt, bändigte. Ein Thessalier brachte dieses Pferd Philipp und bot es ihm für eine große Geldsumme zum Verkaufe an. Man begab sich aufs freie Feld, um es zu probieren, fand es aber ganz wild und unbrauchbar, weil es niemand aufsitzen ließ und sich gegen jeden bäumte, der ihm nahe kam. Als Philipp das Pferd unmutig wegführen lassen wollte, sagte Alexander: „Um welch’ 16 treffliches Pferd bringt man sich da, bloß, weil man es aus Mangel an Mut und Geschicklichkeit nicht zu behandeln weiß.“ Er anerbot sich, den Preis des Tieres zu bezahlen, faßte es am Zügel und kehrte es gegen die Sonne, da er bemerkt hatte, daß es vor seinem eigenen Schatten scheute. Nachdem das Pferd beruhigt war, schwang er sich plötzlich auf dessen Rücken und tummelte es nun nach Belieben. Alle erhoben ein Freudengeschrei und Philipp sagte vor Freude weinend: „Mein Sohn, suche dir ein anderes Königreich, das deiner würdig ist, Makedonien ist für dich zu klein.“ So hat Alexander das Pferd, auf welchem er Asien eroberte, sich selbst erobert, während kein anderer es bändigen konnte. Zahlreich sind die Beweise von hohem Mut aus seinem spätem Leben. Vor der Entscheidungsschlacht bei Gaugamela riet Parme- nion Alexander, den Feind bei Nacht zu überraschen. Alexander aber entgegnete: „Es ist schimpflich den Sieg zu stehlen; ich muß offen und ohne List siegen.“ Als ihm bei der Rückkehr aus Indien ein Soldat in der Sand wüste Gedrosiens einen Helm voll Wasser anbot, schüttete Alexander denselben aus, indem er vor seinen Getreuen nichts voraus haben wollte. Dieses gute Einvernehmen erlitt allerdings später, als Alexander immer mehr zum orientalischen Despoten wurde, arge Trübungen. Philotas, den Sohn seines verdientesten Generals Parmenio klagte er an, er habe von einer Verschwörung gewußt, ließ ihn foltern und nach erpreßtem Geständnis hinrichten. Die Rache des Vaters fürchtend, sandte er feige Meuchelmörder in dessen Lager, denen Parmenio erlag. Als bei einem Gastmahl unwürdige Schmeichler Alexanders Taten über diejenigen Philipps und sogar Herkules’ setzten, meinte Kleitos, ohne Philipp und die erprobten makedonischen Soldaten wären Alexanders Erfolge nicht denkbar. Zugleich erinnerte er den König daran, daß er ihm einst das Leben gerettet. Ehe es jemand hindern konnte, stach Alexander Kleitos nieder. Der Philosoph Kallisthenes, der sich dagegen ausgesprochen hatte, Alexander göttliche Ehren zu erweisen, wurde unter dem Verwände einer Verschwörung gefoltert und gehängt. Seitdem Alexander die Verschmelzung Asiens mit Europa anstrebte, traten Züge von orientalischem Despotismus hervor. Immer mehr verlangte der König auch von den Makedoniern und Griechen kriecherische Unterwürfigkeit und knechtische Verehrung. 17 7. Vor Capua. Hinzog an reichen Küsten Längs dem Tyrrhenermeer Schwelgend in allen Lüsten Das siegberauschte Heer. Es stieß auf fette Weide Und Freunde allerwärts; Es ruhte in der Scheide Die Schneide Des sattgewordnen Schwerts. Nun trat mit den Karthagern Auch Capua in Bund — Die wilden Horden lagern Im wasserreichen Grund; Sie stecken ab die Räume Für Führer, Heer und Troß; Sie hängen an die Bäume Die Zäume, Den Schild und das Geschoß. Hier fördern sie mit Beilen Das Werk des Hüttenbaus, Dort spannen sie an Seilen Gestreiftes Zelttuch aus; Hier graben sie die Schanzen Zum Schutz vor Überfall; Sie fegen Schwert und Lanzen Und pflanzen Heerzeichen auf den Wall. Die Lämmerherden blöken, In engen Pferch gebannt. Es scharren an den Pflöcken Kameel und Elefant. Es weiden rings die Stuten Im hohen Ufergras — An des Vulturnus Fluten, Da ruhten Die Stämme Afrikas. Auf Pardelfellen kauernd, Ums Haupt den Purpurbund, Mit Blicken falsch und lauernd, Mit wulstig rohem Mund, Mit dunkelbärtigen Wangen, Mit Stirnen flach und eng, Den braunen Arm umfangen Von Spangen, Im Ohr Metallgehäng. — So lagern, von Narben Entstellt aus mancher Schlacht, Vor Zelten zebrafarben, In niegeseh’ner Tracht, Mit eh’rnen Panzerschuppen, Mit buntem Schlangenhemd In malerischen Gruppen Die Truppen — Ein Anblick wild und fremd. Heinrich Leuthold. 8. Anfonius hält Cäsars Leichenrede. Markus Antonius, ein Mann von bedeutenden Gaben, guter General und Haupthelfer Cäsars, versuchte, dessen Nachfolger zu werden. Er bemächtigte sich des Staatsschatzes und des Nachlasses Cäsars. Er bewog den Cäsar’schen Anhang, mit den Mördern in Verhandlungen zu treten, so daß sie Amnestie erhielten. Zugleich aber erzwäng er die Anerkennung aller Amtshandlungen Cäsars und dessen ehrenvolles Begräbnis. Sein wahres Gesicht Geschichtslehrmitte], II. 2 18 zeigte er beim Leichenbegängnis. Als die Leiche des ermordeten Herrschers nach der Sitte der Zeit auf dem Forum niedergesetzt wurde, bestieg der Konsul Antonius die Rednerbühne: Mitbürger! Freunde! RömerI hört mich an: Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen. Was Menschen Übles tun, das überlebt sie, Das Gute wird mit ihnen oft begraben. So sei es auch mit Cäsarn 1 Der edle Brutus 1 Hat Euch gesagt, daß er voll Herrschsucht war; Und war er das, so war’s ein schwer Vergehen, Und schwer hat Cäsar auch gebüßt. Hier, mit des Brutus Willen und der andern, (Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann, Das sind sie alle, alle ehrenwert) Komm’ ich, bei Cäsars Leichenzug zu reden. Er war mein Freund, war mir gerecht und treu: Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war, Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Er brachte viel Gefangene heim nach Rom, Wofür das Lösegeld den Schatz gefüllt. Sah das der Herrschsucht wohl von Cäsar gleich? Wenn Arme zu ihm schrien, so weinte Cäsar: Die Herrschsucht sollt’ aus härterm Stoff bestehen. Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war, Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Ihr alle saht, wie am Lupercus-Fest 2 Ich dreimal ihm die Königskrone bot, Die dreimal er geweigert. War das Herrschsucht? Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war, Und ist gewiß ein ehrenwerter Mann. Ich will, was Brutus sprach, nicht widerlegen, Ich spreche hier von dem nur, was ich weiß. Ihr hebtet all’ ihn einst, nicht ohne Grund; Was für ein Grund wehrt Euch, um ihn zu trauern? 0 Urteil, du entflohst zum blöden Vieh, Der Mensch ward unvernünftig! — Habt Geduld! Mein Herz ist in dem Sarge hier beim Cäsar, Und ich muß schweigen, bis es mir zurückkommt. (Große Bewegung unter dem Volke.) 19 Noch gestern hätt’ umsonst dem Worte Cäsars Die Welt sich widersetzt: nun liegt er da, Und der Geringste neigt sich nicht vor ihm. O Bürger! strebt ich, Herz und Mut in Euch Zur Wut und zur Empörung zu entflammen, So tät ich Cassius 1 und Brutus Unrecht, Die Ihr als ehrenwerte Männer kennt. Ich will nicht ihnen Unrecht tun, viel lieber Dem Toten Unrecht tun, mir selbst und Euch, Als ehrenwerten Männern, wie sie sind. Doch seht dies Pergament mit Cäsars Siegel: Ich fand’s bei ihm, es ist sein letzter Wille. Vernähme nur das Volk dies Testament, (Das ich, verzeiht mir, nicht zu lesen denke) Sie gingen hin und küßten Cäsars Wunden, Und tauchten Tücher in sein heil’ges Blut, Ja, bäten um ein Haar zum Angedenken, Und sterbend nennten sie’s iin Testament, Und hinterließen’s ihres Leibes Erben Zum köstlichen Vermächtnis. (Die Bürger verlangen das Testament zu hören.) Seid ruhig, liebe Freunde! Ich darf’s nicht lesen; Ihr müßt nicht wissen, wie Euch Cäsar liebte. Ihr seid nicht Holz, nicht Stein, Ihr seid ja Menschen; Drum, wenn Ihr Cäsars Testament erführt, Es setzt’ in Flammen Euch, es macht Euch rasend. Ihr dürft nicht wissen, daß Ihr ihn beerbt; Denn wüßtet Ihr’s, was würde draus entstehen? (Rufe: „Ihr müßt es lesen: Cäsars Testament! 1 ') Wollt Ihr Euch wohl gedulden? wollt Ihr warten? Ich übereilte mich, da ich’s Euch sagte. Ich fürcht’, ich tu’ den ehrenwerten Männern Zu nah, von deren Dolchen Cäsar fiel; Ich fürcht’ es. (Rufe: „Sie waren Bösewichter, Mörder! Das Testament! Lest das Testament!“) So zwingt Ihr mich, das Testament zu lesen? Schließt einen Kreis um Cäsars Leiche denn, Ich zeig’ Euch den, der Euch zu Erben machte. Erlaubt Ihr mir’s? soll ich hinuntersteigen? (Rufe: „Steigt herab! Platz für den edlen AntoniusI“) '4&S& KM- latBr. — 20 — Wofern Dir Tränen habt, bereitet Euch, Sie jetzo zu vergießen. Diesen Mantel, Dir kennt ihn alle; noch erinnr’ ich mich Des ersten Males, da ihn Cäsar trug, In seinem Zelt, an einem Sommerabend — Er überwand den Tag die Nervier 5 — Hier schauet! fuhr des Cassius Dolch herein; Seht, welchen Riß der tück’sche Casca 1 machte! Hier stieß der vielgeliebte Brutus durch. Und als er den verfluchten Stahl hinwegriß, Schaut her, wie ihm das Blut des Cäsar folgte, Als stürzt es vor die Tür, um zu erfahren, ' Ob wirklich Brutus so unfreundlich klopfte. Denn Brutus, wie Ihr wißt, war Cäsars Engel. Ihr Götter urteilt, wie ihn Cäsar liebte! Kein Stich von allen schmerzte so wie der. Denn als der edle Cäsar Brutus sah, Warf Undank, stärker als Verräterwaffen, Ganz nieder ihn: da brach sein großes Herz, Und in dem Mantel sein Gesicht verhüllend, Grad am Gestell der Säule des Pompejus, Von der das Blut rann, fiel der große Cäsar. 0 meine Bürger, welch ein Fall war das! Da fielet Ihr und ich: wir alle fielen, Und über uns frohlockte blut’ge Tücke. O ja! nun weint Ihr, und ich merk, Ihr fühlt Den Drang des Mitleids: dies sind milde Tropfen. Wies weint Ihr, gute Herzen, seht Ihr gleich Nur unseres Cäsars Kleid verletzt? Schaut her! Hier ist er selbst, geschändet von Verrätern. (Aufruhr und Geschrei des Volkes: „O blutiger Anblick! O Buben und Verräter! Wir wollen Rache, Rache! Auf und sucht! Sengt, brennt, schlagt, mordetl Laßt nicht einen leben! Wir wollen ihm folgen, dem edlen Antonios!") Ihr guten, lieben Freund’, ich muß Euch nicht Hinreißen zu des Aufruhrs wildem Sturm. Die diese Tat getan, sind ehrenwert. Was für Beschwerden sie persönlich führen, Warum sie’s taten, ach! das weiß ich nicht. Doch sind sie weis' und ehrenwert und werden 21 Euch sicherlich mit Gründen Rede stehen. Nicht Euer Herz zu stehlen komm’ ich, Freunde: Ich bin kein Redner, wie es Brutus ist, Nur, wie Ihr alle wißt, ein schlichter Mann, Dem Freund ergeben, und das wußten die Gar wohl, die mir gestattet, hier zu reden. Ich habe weder Schriftliches noch Worte, Noch Würd' und Vertrag, noch die Macht der Rede, Der Menschen Blut zu reizen; nein ich spreche Nur geradezu und sag’ Euch, was Ihr wißt. Ich zeig’ Euch des geliebten Cäsars Wunden, Die armen, stummen Munde, heiße die Statt meiner reden. Aber wär ich Brutus, Und Brutus Marc Anton, dann gab’ es einen, Der Eure Geister schürt’, und jede Wunde Des Cäsar eine Zunge lieh, die selbst Die Steine Roms zum Aufstand würd’ empören. (Rufe: „Steckt des Brutus Haus in Brand! Sucht die Verschworenen aufl*) Nun, Freunde, wißt Ihr selbst auch, was Ihr tut? Wodurch verdiente Cäsar Eure Liebe? Ach nein! Ihr wißt nicht. — Hört es dennl Vergessen Habt Ihr das Testament, wovon ich sprach. Hier ist das Testament mit Cäsars Siegel. Darin vermacht er jedem Bürger Roms, Auf jeden Kopf Euch fünf und siebzig Drachmen I (Rufe: „O edler Cäsar! — Kommt, rächt seinen Tod!“) Auch läßt er alle seine Lustgehege, Verschlossene Lauben, neugepflanzte Gärten, Diesseits der Tiber, Euch und Euren Erben Auf ew’ge Zeit; damit Ihr Euch ergebn Und Euch gemeinsam dort ergötzen könnt. Das war ein Cäsar: wann kommt seinesgleichen? Die Menge geriet außer sich und trug Stühle, Bänke, Tische, Spezereien, und Stoffe herbei und verbrannte Cäsars Leiche gleich auf dem Markte. Mit Brandfackeln stürzten einzelne Haufen gegen die Häuser der Verschworenen. Der Tribun Cinna, den man fälschlich für den Verschworenen gleichen Namens hielt, wurde in Stücke zerrissen. Die Mörder Cäsars aber flohen in die republikanischgesinnten Landstädte. Nachdem Antonius eine Zeit lang die Macht besessen, mußte er sie mit Cäsars Großneffen Oktavian und dem Cäsar’schen General Lepidus teilen (2. Triumvirat). Nachdem letzterer aus- gestoßen worden war, beherrschte Antonius den gesamten Osten, wo er aber verweichlichte, so daß das ganze Erbe Cäsars Oktavian zufiel. Shakespeare, „Julius Cäsar“. 1 Einer der Mörder. 3 Hauptfest des italienischen Herdengottes Faunus. * Volk im belgischen Gallien. 9. Der Triumphzug des Germanicus (16 n. Chr). Augustus hatte zwei 8tiefsöhne, Tiberius, von 14—37 Kaiser, und Drusus. Des letztem Sohn war Germaniens, der mit einer Enkelin des Augustus verheiratet war. Germaniens zeigte schon als Jüngling treffliche Eigenschaften, so daß der Kaiser den Tiberius nur unter der Bedingung adoptierte, daß er seinerseits den Germaniens adoptiere. Dieser kämpfte -tapfer in Germanien, ohne aber die römische Herrschaft bleibend ausdehnen zu können. Tiberius berief ihn aus Eifersucht und Argwohn ab, gönnte ihm aber den Triumph, 16 n. Chr. Später sandte er ihn mit großen Vollmachten nach dem Orient, ließ ihn aber beständig überwachen. Im Jahre 19 starb er, erst 33- jährig, zu Antiochia, wahrscheinlich durch Gift. Das Volk, dessen Liebling Germaniens gewesen war, bezeichnete allgemein Tiberius als den Anstifter des Mordes. Auf Tiberius folgte des Germaniens Sohn Caligula, 37—41. Als Knabe erhielt er von den Soldaten des Vaters den Kosenamen Caligula — Stieleichen, da er Soldatenstiefelchen trug. Er regierte so wahnwitzig und grausam, daß man diese Entartung mit dem Namen Cäsarenwahnsinn belegt. Dieser äußerte sich besonders in einer maßlosen Überschätzung der eigenen Person und Stellung. Nach kurzer Regierung wurde der 26jährige Kaiser durch Gardeoffiziere ermordet. Ein tiefblauer, wolkenloser Himmel wölbt sich über der Siebenhügelstadt. Laub- und Blumengewinde schlingen sich von Haus zu Haus, von Straße zu Straße und vorn frühen Morgen an wälzen sich ungeheure Menschenmassen dem Marsfelde 1 zu. Rom feierte heute ein großes Fest: Cäsar Germanicus, der Neffe und Adoptivsohn des Kaisers Tiberius, will seinen feierlichen Triumpheinzug halten. Gegen 1 ’ 1 2 Millionen Menschen drängen sich auf den Straßen, nicht mitgerechnet die vielen Fremden, die das Schauspiel des Triumphes herbeilockt. Alte, Lahme, Krüppel, Kinder — alle wollen dabei sein; niemand bleibt zu Hause. Die Stadtteile, welche der Zug nicht passiert, sind fast ganz von Bewohnern entblößt, so daß zum Schutze der Häuser gegen Diebe und Räuber auf Befehl des Kaisers Wacht- mannschaften patrouillieren. — Ein Gewirr von Sprachen tönt an unser Ohr; alle Völker schickten Bewunderer nach Rom. Feingebaute Inder, üppige Ägypter, sehnige Wüstensöhne aus Afrika, Äthiopier mit krausem Wollhaar, safranduftende Cilicier 2 , Sabäer 3 aus dem Lande des Weihrauchs, hungrige Griechlein, Gallier, mit ihren den Römern so auffälligen Hosen, blau-tätowierte Briten, von Pferde- 23 milch genährte Sarmaten 4 und Skythen 4 mischen sich mit römischen Bürgern, italienischen Landleuten und Sklaven, welche heute die seltene Freiheit genießen. Durch die lärmende Menge brechen sich Bahn riesige Liburner 5 und Cappodocier 2 , welche stolze Patrizier in Sänften tragen. Trefflich berittene numidische 6 Vorreiter sprengen das Volk auseinander für die nachfolgende Karosse, in welcher römische Schönheiten zu den reich mit Purpurteppichen und Blumen geschmückten Logen und Tribünen fahren, wo die edlen Frauen Roms, Senat und Ritterschaft und die kaiserliche Familie sich ein- finden. Bei den adeligen Schönheiten sind teure, dünn und derartig gewobene Gewänder Mode. Perlen aus dem indischen Ozean repräsentieren ganze Vermögen. An Hals und Armen blitzen goldene Ketten und Spangen, mit Edelsteinen besetzt. Am interessantesten sind der Kopf- und Gesichtsform angepaßte Frisuren, vorn abenteuerlichen Turmwerk bis zum einfach gescheitelten, hinten in einen Knoten geschürzten Haar. Keine gleicht der andern, nur das ist allen gemeinsam, daß sie verhältnismäßig viel von der Stirne bedecken. Der Duft der Blumen, vermischt mit dem in Menge verbrannten Weihrauch, berauscht die Sinne. Die Atmosphäre wird immer drückender, und weiße und schwarze Sklavinnen wehen ihren Gebieterinnen mit großen Fächern von Pfauenfedern Kühlung zu. — In der vordersten Reihe sitzen auch die sechs vestalischen Jungfrauen, die Hüterinnen des ewigen Feuers. — Würdevoll repräsentieren sich unseren Blicken die Senatoren in ihrer glänzendweißen, purpurverbrämten Toga. Weiter hinten, auf den amphitheatralisch ansteigenden Sitzen, glänzen die Vertreter der Ritterschaft, die reichen Bankiers Roms. Die zahlreichen Emporkömmlinge dieses Standes, deren Vater zum Teil noch Sklaven oder Freigelassene gewesen sind, tragen einen enormen Luxus zur Schau, der sich namentlich durch die Menge und Pracht der Fingerringe mit wundervoll gearbeiteten Steinen verrät. Entstehende Unruhe und kriegerische Musik verkünden die Ankunft des Kaisers. Ehrfurchtsvoll macht die Menge Platz — Tiber ius, der zweite Kaiser der Römer, naht, getragen in prachtvollem, mit Purpur und Gold verziertem Stuhle. Er ist fast ganz verdeckt durch seine Begleiter, riesige Gestalten im malerischen Waffenschmuck ihrer germanischen Heimat. Stolze Prätorianerkohorten mit einem Musikchor eröffnen und schließen den Zug. Tausende von neugierigen und prüfenden Blicken richten sich auf den Beherrscher der 24 Welt, als er seine Loge betritt. Von Wuchs ist er über Mittelgröße und wohl proportioniert; besonders fallen auf an ihm sein für einen Südländer außerordentlich weißer Teint und die großen, schönen Augen, mit denen er, wie man erzählt, auch des Nachts sieht. Doch gerade aus den Augen, wie übrigens aus allen seinen Zügen und seiner ganzen Haltung spricht trotz aller Selbstbeherrschung eine solche Müdigkeit und Bitterkeit, daß uns fast Grauen befällt. Erst drei Jahre Kaiser — und schon so übersättigt. Der Knechtesinn und die Kriecherei, namentlich der vornehmen Stände, widert ihn an; ihre Falschheit macht ihn mißtrauisch; das Bewußtsein, daß Millionen bereitstehen, das scheinbar Unmögliche zu vollbringen, all das läßt ihn mit grenzenloser Menschenverachtung auf seine Umgebung blicken. Auf sein Zeichen erheben sich die Senatoren in Gesamtheit von ihren Sitzen, um, die Konsuln an der Spitze, in würdevollem Schritt dem siegreichen Heere nach alter Sitte bis zur Porta Triumphalis entgegenzugehen. Das Volk bricht in lauten Jubel aus; zugleich aber beginnt noch ein letztes, wildes Ringen um die besten Plätze. Entsetzlich ist das Gedränge; mit den Verwünschungen der Männer vermischt sich das Wehegeschrei von Frauen und Kindern, die nicht selten verwundet und ohnmächtig zusammenbrechen. — Kriegerische Musik verkündet das Herannahen des Zuges. Eröffnet wird er durch die gefürchteten Liktoren mit den Fasces, den Symbolen der Gewalt über Leib und Leben. Sie schaffen Platz, wo das Militär nicht Spalier bildet. Nun folgen die Konsuln und der Senat, die das siegreiche Heer empfangen haben und nun an dessen Spitze zurückkehren, um wieder die alten, reservierten Plätze einzunehmen. Lautes Jubelgeschrei des Volkes übertönt beinahe den rauschenden Siegesmarsch des Musikchors vor dem langen Zuge der Wagen, auf welchen jetzt die Kriegsbeute vorübergeführt wird. Germanische Schlachtrosse, von Pferdebändigern aus dem Zirkus geführt, ziehen Wagen voll erbeuteter Schutz- und Trutzwaffen. Mit geheimem Grauen betrachtet man den äußerst handlichen, germanischen Speer, welchem Varus mit seinen drei Legionen erlegen. Bewunderung erregen die bemalten Schilde, die selten langen Stoßlanzen und die riesigen, zweihändigen Schlachtschwerter, die noch vorn Römerblute gerötet sind. Zum Sturme erhebt sich das Beifallsgeschrei, als neben den erbeuteten Feldzeichen zwei wiedergefundene Adler der unglücklichen varianischen Legionen vorüber- getragen werden. Den Bernsteinstücken von den Gestaden der 25 « Ostsee, die später verarbeitet am Halse der Römerinnen prangen, folgen Wagen mit ungeheuren Tonnen, deren Aufschriften den Inhalt als germanisches Nationalgetränk bezeichnen, ein Gebräu aus Gerste und Korn. Ihm ist ein schlechter Ruf vorausgegangen und besser gefallen die Gefäße, mit denen das edle Naß in Germanien geschlürft wird, die riesigen, mit Silber beschlagenen Auerochsen- Trinkhörner. Fast erdrückt wird das Fuhrwerk von einem Eichenstamm von wahrhaft riesigen Dimensionen aus einem heiligen Haine der Marser 7 . Aus dem nämlichen Heiligtume stammen auch die schneeweißen, tadellosgebauten Pferde, welche den Wagen ziehen; sie galten den Germanen als heilig und ihr Wiehern und Schnauben war ein günstiges Vorzeichen für Priester und Häuptlinge. Für die kaiserliche Küche bestimmt sind ganze Wagenladungen Mohrrüben vorn Niederrhein, eine zarte Aufmerksamkeit des Germanicus für seinen Stiefvater, der sie leidenschaftlich liebt. Zum ersten Male sieht Rom die kolossalen Tiergestalten des germanischen Waldes: Renntiere, Elentiere und Auerochsen. Was Liktoren und Prätoren mit Mühe zustande gebracht, das gelingt diesen Tieren mit Leichtigkeit. Respektvoll weicht die Menge zurück vor den tückischwilden, blutunterlaufenen Augen und gewaltigen Hörnern der Auerochsen, welche mit Mühe vermittelst Nasenringen, Seilen und Ketten von den Tierwärtern des Amphitheaters gebändigt werden. Unter Vor- antritt der Priesterschaft folgen die zum feierlichen Opfer bestimmten Tiere: über 100 Stiere, alle mit vergoldeten Hörnern, im Schmucke von Bändern und Kränzen; ihre jugendlichen Führer sind mit prachtvollen Gürteln zur Opferhandlung ausgerüstet und von Knaben mit goldenen und silbernen Opferschalen begleitet. Den Abschluß des ersten Teiles des Triumphzuges bildet eine verkörperte Geschichte des Feldzuges: Ansichten von Schlachten, Gegenden, Statuen, welche mühsam durchzogene Waldgebirge und überschrittene Ströme personifizieren. Unter allen ragt der Vater Rhein hervor; um den bärtigen Flußgott mit dem schilfbekränzten Haupt gruppieren sich die minder großen Figuren der Elbe, Weser, Eins und Lippe. Am meisten interessiert der verhängnisvoll gewordene Teutoburgerwald, bis zu dem Germaniens vorgedrungen, um pietätsvoll die gebleichten Gebeine der drei varianischen Legionen zu bestatten. Aufgeregt begrüßt das jubelnde Volk die Liktoren und den Musikchor, welche die zweite Hälfte des Zuges eröffnen.“ Wild schmettern die Tuben und Hörner, bacchantisch’ertönen die Zimbeln und Pau- 26 ken — Germaniens Söhne und Töchter nahen in klirrenden Fesseln. Voran schreiten hochgewachsene Kriegergestalten-vorn Jüngling bis zum Greise, ungebeugt, aus den blauen Augen blitzen Trotz und Verachtung oder Ingrimm über das unverdiente Mißgeschick. Keine Klage geht über die Lippen, keine Trauer spiicht aus den kühnen Zügen. Über den Helm gezogene Köpfe der Bären, Eber- und Auerochsfelle erhöhen ihre Wildheit. Wer unbedeckten Hauptes geht, dem fallen die Haare, die über den Scheitel zusammengebunden sind, zopfartig nach hinten. Wild jauchzt der Straßenpöbel beim Anblick eines besonders gehaßten Führers. Doch plötzlich legt sich der Sturm. Die Rohesten weichen vor der hoheitsvollen Erscheinung, die den Zug der gefangenen Frauen eröffnet, zurück. Es ist Thusnelda, die Gemahlin des Arminus, des Befreiers der Deutschen. Marmorkalt sind ihre Züge, hoch trägt sie das stolze Haupt mit der Fülle blonder Locken; in prächtigen Falten fließt das ärmellose, schneeige Linnenkleid mit eingewobenen Purpurstreifen über ihren schönen Körper. An der Hand führt sie den dreijährigen Sohn, einen kräftigen Knaben mit krausem Blondhaar und trotzigen, blauen Augen. Mit Staunen und Bewunderung schauen die Römer all die schönen, stolzen und ungebeugten Frauen, und Leben kommt erst in sie, als auf dem turmähnlichen Triumphwagen, von schneeweißen, prächtiggeschirrten Pferden gezogen, der Held des Tages naht. Jung und schön, wie der Kriegsgott selbst, ausgerüstet mit allen Vorzügen des Leibes und des Geistes — in seiner glänzenden, goldgestickten Trium- phatorentracht eine prachtvolle Erscheinung — reißt er das Volk zu rasender Begeisterung hin. Ein Blumenregen droht ihn zu erdrücken. „Heil (lern Sieger! Heil Germaniens, dem Freunde des Volkes!“ Alle wollen ihren Liebling sehen. — Bleich vor Erregung erwidert er die Grüße des Volkes, unterstützt von seinen drei jugendlichen Söhnen, die sich mit ihrer Mutter Agrippina und zwei Schwestern ebenfalls auf dem Wagen befinden — ein Bild des reinsten und schönsten Familienglücks, wie es sich in dem sittlichfaulen Rom so selten findet. Neidlos begleitet auf schneeweißem Hengst der Kaisersohn Drusus den berühmten Stiefbruder, zum großen Ärger des Vatern, der allem fremden Ruhme mißtraut. Dem angebetenen Feldherrn folgen die treuen Gehilfen seiner Schlachten und Siege, alle auf weißen Pferden; denn weiß ist des Römers Glücks- und Lieblingsfarbe. Den ruhmgekrönten Führern auf dem Fuße marschieren die tapferen Truppen, auserlesene Abteilungen der acht am Rheine ste- 27 henden Legionen und der dazu gehörenden Hilfsvölker, lauter kräftige, kriegerische Gestalten. Nicht endenwollender Jubel begrüßt‘die tapferen, lorbeergeschmückten Scharen, aus deren Mitte Sieges-, aber auch derbe Spottlieder ertönen. — Hinter den Linientruppen rasseln die gewaltigen Belagerungsmaschinen über das Pflaster. Den Schluß bilden die malerischen Hilfsvölker zu Fuß und zu Pferd in Nationaltracht, gefürchtete Schleuderer, luchsäugige, kretische Bogenschützen und flinke Reitergeschwader. Nach dem Passieren des Zirkus Fla- minius betritt der stundenlange Zug durch ein Tor die innere Stadt und erreicht das Kapitol. Hier legt der Triumphator Germaniens seinen Lorbeerkranz in den Schoß Jupiters, die Priesterschaft beginnt das heilige Opfer. Nach der Opferhandlung zerstreuen sich Soldaten und Volk; der Hof, die hohen Offiziere, Senat und Beamte treten zum großen Festmahl zusammen. Der heutige Tag ist ein Freudentag für den ärmsten Bürger. Im Namen des Triumphal ois hat der Kaiser 300 Sesterzien (66 Fr.) auf den Kopf austeilen lassen. Aus Garküchen und Wirtschaften ertönt der ausgelassene Gesang der Menge, die sich von den ausgestandenen Strapazen erholt und für neue stärkt; denn nachts, bei Fackelbeleuchtung, wird unter dem Vorsitz des Kaisei sohnes ein großartiger Gladiatorenkampf mit Tierhetze stattfinden. Eine dämonische Leidenschaft zieht alles Volk in das Amphitheater auf dem Marsfelde; dämonisch ist die Lust am rauchenden Blute der Arena, und kein verwundeter Gladiator, der mit ausgestrecktem Zeigefinger um Gnade bittet, erhält heute Pardon. Nach Dr. Franz Fröhlich. 1 Ebene gegen den Tiber, wo die militärischen Übungen vorgenommen wurden. 3 Aus Kleinasien. 3 Aus Arabien. 4 Aus Siidrutiland. 3 Aus lllyrien. • Aus Nordafrika. 7 Volk im Nordwesten Deutschlands. Durch Germanicus vernichtet. 10. Der Tod des Tiberius. Tiberius war der Stief- und Adoptivsohn des Kaisers Augustus und mit dessen Tochter Julia verheiratet. Er war ein hochbegabter, aber verbitterter Regent, der ganz zum Despoten ausartete. Sein finsterer Argwohn schickte Unzählige, besonders Vornehme, auf das Blutgerüst. Durch die Abschaffung der Volksversammlung bereitete er auch der Scheindemokratie ein Ende. Er überließ die Regierung immer mehr dem Prätorianerpräfekten Se- janus, der selber nach dem Throne trachtete und viele Verwandte des Tiberius, auch dessen Sohn Drusus, gewaltsam aus dem Wege räumte. Nach dem Sturze des Sejanus folgte Macro als Günstling des Kaisers. Als dieser schon im Todeskampfe lag, erstickte ihn Macro in den Kissen seines Lagers (37 n. Chr.) 28 Bei Kap Misenum winkt ein fürstlich Haus Aus Lorbeerwipfeln zu des Meeres Küsten, Mit Säulengängen, Mosaiken, Büsten Und jedem Prunkgerät zu Fest und Schmaus. Oft sah es nächtlicher Gelage Glanz, Wo lock’ge Knaben, Efeu um die Stirnen, Mit Bechern flogen, silberfüß’ge Dirnen Den Thyrsus schwangen in berauschtem Tanz. Und Jauchzen scholl, Gelächter, Saitenspiel, Bis auf die Gärten rings der Frühtau fiel. Doch heut’ wie stumm das Haus! Nur hier und dort Ein Fenster hell — und wo die Säulen düstern, Wogt am Portal der Sklaven Schwärm mit Flüstern; Es kommen Sänften; Boten sprengen fort; Und jedesmal dann zuckt umher im Kreise Ein Fragen, das nur scheu um Antwort wirbt: „Was sagt der Arzt? Wie steht es?“ — „Leise, leise! Zu Ende geht’s; der greise Tiger stirbt.“ Bei matter Ampeln Zwielicht droben lag Der kranke Cäsar auf dem Purpurkissen. Sein fahl Gesicht, von Schwären wild zerrissen, Erschien noch grauser heut’, als sonst es pflag. Hohl glomm das Auge. Durch die Schläfe wallte Die Fieberglut, daß jede Ader schlug; Niemand war bei ihm als der Arzt, der alte, Und Macro, der des Hauses Schlüssel trug. Und jetzt, mit halb ersticktem Schreckensruf Aus seinen Decken fuhr empor der Sieche, Hochauf sich bäumend: „Schaff mir Kühlung Grieche! Eis! Eis! Im Busen trag ich den Vesuv. 0, wie das brennt! Doch grimmer brennt das Denken Im Haupt mir; ich verfluch’ es tausendmal Und kann’s doch lassen nicht zu meiner Qual; 0, gib mir Lethe, Lethe, mich zu tränken! — Umsonst 1 Dort wälzt sich’s wieder schon heran Wie Rauchgewölk und ballt sich zu Gestalten — Sieh, von den Wunden heben sie die Falten Und starren mich gebrochnen Auges an, Germaniens und Drusus und Sejan — 29 Wer rief euch her? Kann euch das Grab nicht halten? Was saugt ihr mit dem Leichenblick, dem stieren, An meinem Blut und dörrt mir das Gebein? 's ist wahr, ich tötet euch; doch mußt es sein. Wer hieß im Würfelspiel euch auch verlieren? Hinweg 1 Weh mir! — Wann endet diese Pein? 11 Der Arzt bot ihm den Kelch; er sog ihn leer Und sank zurück in tödlichem Ermatten; Dann, aus den Kissen blickt’ er scheu umher Und frug verstört: „Nicht wahr? Du siehst nichts mehr? Fort sind sie, fort, die fürchterlichen Schatten. Vielleicht auch war’s nur Dunst. — Doch glaube mir, Sie kamen oft schon nachts, und wie sie quälen, Das weiß nur ich. — Doch still I — Komm setz’ dich hier Nah, nah; von anderm will ich dir erzählen; Auch ich war jung einst, traut’ auf meinen Stern Und glaubt’ an Menschen. Doch der Wahn der Jugend Versteh zu bald nur; und, ins Innre lugend, Verfault erfand ich alles Wesens Kern. Da war kein Ding so hoch und bar der Rüge, Der Wurm saß drin; aus jeder Großtat sahn Der Selbstsucht Züge mich versteinernd an. Lieb’, Ehre, Tugend, alles Schein und Lüge. Nichts unterschied vorn reißenden Getier Dies Kotgeschlecht, als im ehrlosen Munde Der Falschheit Honig und im Herzensgründe Die größre Feigheit und die wildre Gier. Wo war ein Freund, der nicht den Freund verriet? Ein Bruder, der nicht Brudermord gestiftet? Ein Weib, das lächelnd nicht den Mann vergiftet? Nichtswürdig alle — stets dasselbe Lied. Da ward auch ich wie sie. Und weil nur Schrecken Sie zähmte, lernt’ ich Schrecken zu erwecken, Und Krieg mit ihnen führt’ ich. Zum Genuß Ward ihre Qual mir, ihr verendend Röcheln. Ich schritt ins Blut hinein bis zu den Knöcheln — Doch auch das Grausen wird zum Überdruß. Und jetzt, nur noch gequält vorn Strahl des Lichts, Matt, trostlos, treulos starr’ ich in das Nichts.“ Sein Wort ging tonlos aus; er keuchte leis Im Kampf; von seinen Schläfen floß der Schweiß, Und graß verstellt, wie eine Larve, sah Sein blutlos Antlitz. Zu des Lagers Stufen Trat Macro da: „Soll ich den Cajus rufen, Herr, deinen Enkel, den Caligula? Du bist sehr krank a — Doch jener: „Schlange, falle Mein Fluch auf dich I Was geht dich Cajus ant Noch leb’ich, Mensch! Und Cajus ist wie alle, Ein Narr, ein Schurk’, ein Lügner, nur kein Manul Und wär er’s, frommt’ es nicht; kein Held verjüngt Rom und die Welt, wie er mit Blut sie düngt. Wenn’s Götter gäb’, auf diesem Berg der Scherben Vermocht ein Gott selbst nicht mehr Frucht zu ziehn; Und nun der blöde Knab’l Nein, nein! nicht ihn, Die Rachegeister, welche mich verderben, Die Furien, die der Abgrund ausgespien. Sie und das Chaos setz’ ich ein zu Erben. Für sie dies Szepter ! a — Und im Schlafgewand Jach sprang er auf, und wie die Glieder flogen Im Todesschweiß, riß er vorn Fensterbogen Den Vorhang fort und warf mit irrer Hand Hinaus den Stab der Herrschaft in die Nacht. Dann schlug er sinnlos hin. — Im Hofe stand In sich vertieft ein Kriegsknecht auf der Wacht, Blondbärtig, hoch. Zu dessen Füßen rollte Des Szepters rundes Elfenbein und sprang Vorn glatten Marmorgrund mit hellem Klang An ihm empor, als ob’s ihn grüßen wollte. Er nahm es auf, unwissend, was es sei, Und sank zurück in seine Träumerei. Er dacht’ an seinen Wald im Wesertal, Die düstern Wipfelkronen sah er ragen, Er sah am Malstein die Genossen tagen, Blank jedes Wort, wie ihrer Streitaxt Stahl, Und treu die Hand zum Sühnen wie zum Schlagen. Und an sein liebes Weib gedacht’ er dann; Er sah sie sitzen an des Hüttleins Schwelle Im langen, gelben Haar, wie sie, mit Schnelle 31 Die Spindel wirbelnd, in die Ferne sann, Wohl her zu ihm; und vor ihm spielt am Rain Sein Knabe, der den ersten Speer sich schnitzte, Und dem so kühn das blaue Auge blitzte, Als spräch’s: Ein Schwert nur und die Welt ist mein! Und plötzlich floß dann — wie, verstand er kaum — Ein andres Bild in seinen Heimattraum: Vor seine Seele drängt’ es sich mit Macht, Wie er dereinst in heißen Morgenlanden Als Wacht an eines Mannes Kreuz gestanden, Bei dessen Tod die Sonn’ erlosch in Nacht. Wohl lag dazwischen manch durchstürmter Tag; Doch konnt’ er nie des Dulders Blick vergessen, Darin ein Leidensabgrund unermessen Und dennoch alles Segens Fülle lag. — Und nun — wie kam’s nur? — Über seinen Eichen Sah er dies Kreuz erhöbt als Siegeszeichen, Und seines Volks Geschlechter sah er ziehn, Unzählig, stromgleich; über den Gefilden Von Waffen wogt’ es, und auf ihren Schilden Stand jener Mann, und Glorie strahlt’ um ihn. Da fuhr er auf. Aus des Palastes Hallen Kam dumpf Geräusch; der Herr der Welt war tot; Er aber schaute kühn ins Morgenrot Und sah’s wie einer Zukunft Vorhang wallen. Emanuel Geibel. 11. Gegen die Seeräuber. Die Seeräuberei war eine Hauptplage der alten Zeit. Namentlich Kreta mit seinen Felsenburgen und die Steilküste von Cilicien mit ihren Fjorden und Schären bildeten herrliche Schlupfwinkel für die Freibeuter des Meeres. Besonders während der Wirren des Bürgerkrieges strömten Heimatlose, Verbrecher und Geächtete in Cilicien zusammen. Die Küstenstädte des Mittelmeeres wurden geplündert, die Bewohner in die Sklaverei geschleppt. Italien und Rom selbst litten unter der Plage. Der Handel stockte, so daß die Hauptstadt Mangel an Getreide litt. Erst Pompejus schaffte durch einen umfassenden Seekrieg Ruhe. Er nahm 1300 Piratenfahrzeuge, tötete 10,000 Seeräuber, zerstörte ihre Burgen, nahm 20,000 gefangen und siedelte sie meist landeinwärts an. Aber auch später wurden Verfolgungen nötig. Ein paar Meilen südwestlich von Rom, am gleichnamigen Vorgebirge, lag die Stadt Misenum, einer der wichtigsten Plätze der 32 italienischen Westküste; denn in ihrem Hafen lag die halbe Kriegsersatzflotte Roms vor Anker. 1 Gestern war die Nachricht eingelaufen, daß die Seeräuber den Bosporus heruntergekommen seien, die Galeeren von Byzanz und Chalzedon 2 in den Grund gebohrt hätten und das Ägäische Meer unsicher machten. Der Handel stockte und das unentbehrliche Getreide Kleinasiens blieb aus. Von Ravenna ging eine Flotte von 100 Galeeren dorthin ab, und ihnen hatte sich Arrius als Admiral anzuschließen. Bereits war die Galeere, die ihn aufnehmen sollte, in Sicht. — Das Schiff war lang und schmal, hatte stattlichen Tiefgang und manöverierte infolgedessen sehr leicht. Das zierliche Vorderdeck stieg in doppelter Mannshöhe über das Mitteldeck auf und war mit muschelblasenden Tritonen' geschmückt. Unter der Wasserlinie, vorn am Kiel, befand sich der Schnabel aus festem Holz und mit Eisen beschlagen; denn er diente in der Seeschlacht als Rammbock. Längs dem ganzen Bord lief ein starker Sims, darunter, in drei Reihen, waren die Löcher für die Ruder, sechzig auf jeder Seite. Die Takelung beschränkte sich auf das, was zur Bedienung des großen, viereckigen Segels und der Raa 4 , an der es hing, notwendig war; sonst verließ sich die Mannschaft einzig auf die Ruder. Es waren deren 120, die sich, wie von einer einzigen Hand bewegt, gleichmäßig hoben und senkten und die Galeere mit einer Geschwindigkeit vorwärts trieben, die dem Effekt der heutigen Dampfschiffe kaum nachstand. Mit Tollkühnheit schoß sie gegen das Land. Da fuhr der Mann, der mit Helm und Schild bewehrt vorn am Bug 4 stand, mit der Hand durch die Luft, alle 120 Ruder hielten einen Augenblick in der Luft die Schwebe und schnellten dann senkrecht ins Wasser hinunter. Das Schiff erzitterte in allen Fugen. Dann stand es, wie von jähem Schrecken befallen, still und rührte sich nicht mehr; dann drehte es wie auf einer Achse, um gleich darauf langsam und ruhig mit seiner Breitseite vor den Damm zu legen. Ein Laufbrett flog vorn Deck aus Land hinüber, der Tribun 5 betrat das Schiff, und das Admiralswimpel stieg in die Höhe. Schon stand er auf Steuermannsdeck, neben ihm der Hortator, der Hauptmann der Ruderer. „Wieviel Ruderer?“ fragte er. „250 und 10 Mann Ersatz.“ „Und der Dienst?“ „Ablösung alle zwei Stunden.“ Der Tribun war ein Seemann vorn Scheitel bis zur Sohle. Er machte einen Gang durch die verschiedenen Quartiere, stieg hinunter in die Kajüte und setzte sich zwischen die Mannschaft, der er zur Feier seines 33 Antrittes Wein hatte vorsetzen lassen. Sie lag im Mittelschiff. Drei breite, verschließbare Lücken vermittelten das Licht. Hier konzentrierte sich das eigentliche Schiffsleben: hier wurde gegessen, geschlafen, exerziert; hier war der einzige Ort, wo Ruhe und Erholung gestattet war, überall anderswo herrschte die römische Schiffsdisziplin, die erbarmungslos und rücksichtslos war, wie der Tod selbst. — Am hinteren Ende der Kajüte führten einige Stufen zu einer Plattform, dem Platze des Hortators. Vor ihm stand der Resonanztisch, auf dem er mit hölzernem Hammer den Takt für die Ruderer schlug; neben ihm war die Wasseruhr, nach deren Lauf Wachen und Ablösungen sich regelten. Die Ruderer waren in ein rechtes und linkes Kommando geteilt, in dessen Mitte der Hortator saß. Jedes Kommando hatte drei Bankreihen mit je zwanzig Sitzen, zwischen denen sich immer ein Abstand von einer römischen Elle befand; aber nur zwei Drittel verrichteten ihre Arbeit im Sitzen, das letzte Drittel, dessen Ruder länger waren, mußte stehend arbeiten. Die Ruder waren an den Griffen mit Blei beschwert und hingen im Schwerpunkte an freilaufenden Lederriemen. Aller Verkehr unter sich und mit dem Schiffspersonal war den Ruderern strenge verboten. Einen Tag wie den andern saßen oder standen sie auf ihren Plätzen, ohne ein Wort zu sprechen; keiner konnte während der Arbeit den andern sehen; die kurzen Pausen gehörten der Ruhe und der Ernährung. Die Arbeit war wohl die schwerste, die zu jener unduldsamen Zeit unglücklichen Menschen aufgebürdet wurde, und die Galeeren, gleichviel ob sie dem Krieg oder dem Handel dienten, rafften Menschen über Menschen dahin. Verurteilt zu ihnen wurden Kriegsgefangene, die durch körperliche Stärke zu solchem Dienst sich eigneten. Da die Galeere gleichbedeutend war mit dem Grabe, führte der Ruderer nur eine Nummer. An der Ostküste von Cythere 6 sammelte sich die Flotte und nach genauer Musterung segelte sie nach Naxos, das halbwegs zwischen Griechenland und Asien liegt. Hier brachte eine von Norden kommende Galeere die Nachricht, daß die Seeräuber zur Zeit in den Buchten zwischen Euböa und Hellas einen sichern Unterschlupf suchen, um ihre unermeßliche Beute in Sicherheit zu bringen. Der Tribun war überaus zufrieden. Er teilte seine Flotte in zwei Treffen zu fünfzig Galeeren, die von beiden Seiten in die Meeresstraße vorgingen. „Getrennt schlagen, vereint siegen,“ war für den Kriegserfahrenen ein altes Gesetz. Früher als sonst brannten die Schiffs- 3 (ieschichtalebrmlttel. II. 34 laternen. Die Soldaten zogen die Rüstungen an. Die Waffen wurden inspiziert, Speere, Wurfgeschosse und Pfeile aufgeschichtet, daneben die Ölkrüge gestellt und die Körbe voll entzündlicher Kugeln aus Baumwolle, die wie Kerzendochte lose gewickelt waren. Dann nahm der Tribun in voller Rüstung auf der Plattform Stellung. Gleich darauf erhob sich der Hortator, um unter die Sklaven zu treten. Am Sitze war eine Kette mit Beinschellen festgemacht, die er einem jeden umlegte. Das Schicksal des Schiffes war auch das ihre. „Der Feind in Sicht!“ Gemessen stieg der Tribun auf Deck. Im nu war das ganze Schiff lebendig. Die Offiziere eilten an ihre Plätze, die Soldaten traten auf Deck in Reih und Glied, alle Rudersklaven, die vorn Dienste abgelöst waren, wurden von Wachen umstellt. Über sich hörten sie, wie die letzten Zurü- stungen getroffen, die Segel gerefft, und die Panzer über die Schiffswände gehängt wurden. Da, ein Trompetenstoß, voll und hell. Der Hortator schlug auf den Resonanztisch, die Ruder wurden mit Wucht geführt, die Galeere krachte in allen Fugen und schoß wie ein Pfeil vorwärts .... Neue Trompetenstöße, laute Kommandos, ein Rennen nach vorn, daß die Galeere zu kippen schien .... dann ein wuchtiger Schlag .... die Ruderer flogen auf ihren Sitzen rückwärts .... schrilles Todesgeschrei . . . . Alles unter den Füßen seinen zu prasseln, zu bersten .... alle blickten einander voll Entsetzen in die Augen. Da dröhnte vorn Deck Triumphgeschrei: Der Römer war Sieger geblieben. Und weiter sauste die „Asträa“. Matrosen tauchten die Baum Weltkugeln in Ölfässer und triefend flogen sie auf die feindlichen Schiffe hinüber. Zu allen sonstigen Greueln gesellte sich das Feuer! Noch viermal rannte die „Asträa“ feindliche Schiffe in den Grund .... Da, ein verzweifeltes Geschrei von allen Seiten her! Ein feindliches Schiff war von den Enterhaken des mächtigen Krahns gepackt, in die Höhe gehoben und dann unter Wasser getaucht worden; es versank mit Mann und Maus in die Tiefe .... Aber noch immer war die Schlacht nicht entschieden, und schon mancher Römer war sterbend nach den Lücken geschafft worden. Brenzlicher Qualm drang herein von einem brennenden Schiffe, auf dem die angeschmiedeten Ruderer lebendig verbrannten. Da, plötzlich ein Ruck. Die „Asträa“ hielt so unvermittelt, daß die Ruderer aus den Bänken geschleudert wurden. Dann krachten die Wanten 7 , auf Deck -ein entsetzliches Gestampf .... Zum ersten Male verhallte 35 der Hammer des Hortators unter dem gräßlichen Lärme . . . . Ein Leib flog kopfüber durch die Lücke; es war ein halbnackter Riese des Nordens mit dichtem Blondhaar und einem Schild aus Bullenleder und Weiden, den der Tod um Beute und Rache gebracht hatte. Die Römer waren im Kampfe auf ihrem eigenen Deck; denn ihr Schiff war geentert worden. Alles war in heilloser Verwirrung. Die Ruderer hingen wie gelähmt an ihren Ketten bloß der Hortator, das echte Bild der strammen Mannszucht, ließ den Hammer unbeirrt herniedersausen. Noch immer tobte die Schlacht, noch immer rannten die feindlichen Schiffe gegen die „Asträa“. Die Ruderer rissen wie wahnsinnig an den Ketten und heulten wie wilde Bestien, als sie ihrer Ohnmacht inne wurden. Die Mannszucht war gesprengt, der Schrecken herrschte. Auf dem Hinterdeck wogendes Handgemenge, in welchem der Angreifer viele, der Verteidiger wenige waren. Plötzlich ein Krach, ein Ruck, der Boden schwand unter den Füßen. Das Hinterteil des Schiffsrumpfes war mitten entzwei geborsten, und wild schoß das Meer darüber hin, alles in seinen Strudel reißend. Über dem Meere lag schwarzer Qualm, hin und wieder zuckte eine Flamme darin auf .... brennende Schiffe! Noch immer krachten die Schiffe aufeinander, fliehende Galeeren schössen wie Gespenster vorbei. Quintus Arrius trieb auf einer Planke im Meere und wurde von einer römischen Galeere aufgenommen. Er gönnte sich nur so lange Ruhe, bis alle Leute, die im Wasser trieben, aufgefischt waren. Dann hißte er von neuem seine Flagge und nahm mit aller Kraft die Verfolgung der fliehenden Feinde auf. Nicht ein Piratenschiff entkam, 20 Galeeren wurden eingesungen. In Misenum, wohin Arrius zurücksegelte, wurde er mit allen Ehren empfangen. Im folgenden Monat aber feierte er im Zirkus seinen Triumph mit höchster Pracht. Die Wände waren behängen mit den Trophäen seines Sieges, und im Hintergrund standen die erbeuteten Galeeren. Darüber aber, so daß sie von den hunderttausend Zuschauern, die alle Räume des Zirkus füllten, gesehen werden konnte, prangte die stolze Inschrift; den Piraten, die er in der Bucht von Euripus aufs Haupt schlug, abgenommen von Quintus Arrius, dem Duumvir. 8 Nach Lewis Wallace. 1 Die andere Hälfte stand bei Ravenna. * Am Eingang des Bosporus, Byzanz gegenüber. 3 Meergott mit menschlichem Oberleib und Fischschwanz. 4 Wagrechte Segelstange. 5 Hier Anführer. * Cerigo, südlichste der jonischen Inseln. ’ Starke Taue, die den Mast seitlich stützen. 8 Befehlshaber der Flotte. 36 12. Neros Christenverfolgung. Nero ist auf mütterlicher Seite ein Enkel des Germanicus. Bei ihm zeigt sich ausgesprochener Cäsarenwahnsinn. Er ist der Mörder des Bruders, der Mutter, der Gattin, seines Lehrers und tausend anderer. Schließlich empörte sich der Statthalter von Spanien gegen ihn, und auch die Prätorianer fielen von ihm ab. Nach feiger Flucht ließ er sich durch einen Freigelassenen töten. — Im Jahre 64 n. Chr. legte ein ungeheurer Brand in neuntägigem Wüten die Hälfte der Stadt Rom in Asche. Die verlotterte Regierung Neros hatte weder die finanzielle, noch die sittliche Kraft, dem entstandenen, großen Elend zu steuern. Der Kaiser zog vielmehr aus dem Brande insofern Vorteil, als er das freigewordene Areal größtenteils nicht mehr bebauen ließ, sondern auf ihm eine riesenhafte Palastanlage, sein „goldenes Haus“ schuf. So konnte das Gerücht entstehen, der Kaiser selbst sei Urheber des Brandes gewesen und habe ihn von den Zinnen seines Hauses, die Leier in der Hand, als Brand von Troja besungen. Obgleich ohne Zweifel Nero am Brande keine Schuld trägt, so zeigen diese Gerüchte doch, wessen man in Rom den Kaiser fähig hielt. Sie steigerten den Haß gegen ihn in einem Grade, daß er es für nötig hielt, den Zorn der Menge auf die Christen abzulenken. Das Volk erwartete außergewöhnliche Szenen zu Gesicht zu bekommen, eine äußerst feindliche Stimmung herrschte unter den Zuschauern. Was hatten diese Menschen, auf die man jetzt harrte, nicht alles verschuldet! Durch sie war Rom mit seinen herrlichen Kunstdenkmalen zu gründe gerichtet worden, das Blut kleiner Kinder hatten sie getrunken, die Brunnen vergiftet, die ganze Menschheit verflucht, die schändlichsten Verbrechen begangen. Dafür genügten selbst die härtesten Folterqualen nicht, und das Volk brannte vor Ungeduld, sich darüber zu vergewissern, ob die den Christen auferlegten Strafen auch deren Schandtaten entsprächen. Auf allen Gesichtern malte sich Haß und Abneigung. Drei Schläge tönten gegen die Pforte. Die Eisengitter knirschten und rasch bevölkerte sich die Arena mit unzähligen Geschöpfen, die Waldgeistern glichen. Es waren das die Christen, welche in die Felle wilder Tiere genäht, Wölfen und Bären glichen. An den langen, über die Felle fallenden Haaren konnte man die Frauen erkennen. Manche hielten gleichfalls mit Fellen umhüllte Kinder in den Armen. Alle liefen rasch, feierlich in die Mitte der Arena. Dort sanken sie auf die Knie und hoben die Hände empor. Das Volk betrachtete dies als eine Bitte um Gnade. Wütend über solche Feigheit, geriet es außer sich. Die Zuschauer stampften, pfiffen, schleuderten leere Weinkrüge und abgenagte Knochen auf die Unglücklichen und schrien: „Die wilden Tiere, die wilden Tiere!“ . . . Da geschah etwas Unerhörtes! Die Knieenden stimmten einen lauten 37 Gesang an, und zum ersten Male ertönte in einem römischen Zirkus die Hymne: „Christus regnat!“ Diese Schar bat nicht um Gnade, für sie gab es keinen Zirkus, keine Zuschauer, keinen Senat, keinen Kaiser. Von den Niedersten bis zu den höchsten Spitzen pflanzte sich die Frage fort: „Wer ist dieser Christus, der in den Herzen dieser dem Tode Geweihten herrscht?“ Inzwischen war ein zweites Gitter geöffnet worden, und ganze Rudel wütendbellender Hunde sprangen in die Arena; alle absichtlich ausgehungert, alle mit eingefallenen Flanken und blutgierigen Augen. Das ganze Amphitheater schallte wieder von ihrem Heulen und Winseln. Der Gesang der Christen war verstummt. Unbeweglich, wie versteinert, lagen sie auf den Knien, indem sie im Chor klagend wiederholten: „Pro Christo, pro Christo 1“ Die Hunde witterten wohl, daß sich unter den Fellen der wilden Tiere Menschen verbargen; doch wagten sie nicht, sich sofort auf sie loszustürzen. Einige drückten sich an die Brüstung, als ob sie unter die Zuschauer laufen wollten, andere rannten so toll umher, als ob sie auf ein unsichtbares Wild gehetzt worden wären. Das Volk geriet in Zorn. Ein wahrer Sturm brach los. Etliche der Zuschauer brüllten wie Bestien, manche ahmten das Gekläff nach oder hetzten die Hunde auf die Christen. Die aufgereizte Meute stürzte schließlich auf ihre Opfer. Das Toben und Lärmen in dem Zuschauerraum machte einer plötzlichen Stille Platz, und mit angestrengter Aufmerksamkeit folgte die Menge den Vorgängen. In eine unförmliche Masse zusammengeballt, wälzten sich Hunde und Menschen in der Arena. Das Blut floß in Strömen. Da und dort waren noch einzelne knieende Gestalten zu sehen, bald aber waren auch diese aufs schrecklichste verstümmelt. Doch die errregten, von dem Blute trunkenen, geradezu rasenden Zuschauer schrien mit heiserer Stimme: „Die Löwen, die Löwen heraus 1“ Die Löwen hätten zwar erst am folgenden Tage in die Arena gelassen werden sollen, allein im Amphitheater herrschte das Volk. Sogar der Cäsar mußte sich unter dessen Willen beugen. Nero war bei solchen Gelegenheiten stets nachgiebig gewesen, lag ihm doch vor allem der Beifall des Volkes am Herzen. Und jetzt handelte es sich darum, das durch die Feuersbrunst aufrührerisch gemachte Volk zu beruhigen und die Christen zu verderben, die man zu Brandstiftern gestempelt hatte. Er gab das Zeichen, das Tor zu öffnen, und sofort trat Stille ein, eine solche Stille, daß man das Tor knarren hörte. Sobald die 38 Hunde der Löwen ansichtig wurden, zogen sie sich winselnd, in dichtgedrängten Haufen an das andere Ende der Arena zurück. Die Löwen aber, ungeheure, fahlgelbe Tiere mit langen, zottigen Mähnen, trotteten langsam, einer nach dem andern, in die Arena. Sogar der Kaiser schenkte ihnen volle Aufmerksamkeit und hielt fortwährend den Smaragd an sein Auge. Trotzdem die Löwen hungrig waren, stürzten sie nicht sofort auf ihre Opfer. Von dem rötlichen Scheine in der Arena geblendet, zwinkerten sie mit den Augen, dehnten und streckten sich und rissen gähnend ihre Rachen in einer Weise auf, als ob sie den Zuschauern ihre furchtbaren Zähne weisen wollten. Bald jedoch wurden sie unruhig. Der Blutgeruch, die umherliegenden, zerfleischten Menschenkörper wirkten auf sie ein. Ihre Mähnen sträubten sich, schnaubend blähten sich ihre Nüstern auf. Da, auf einmal stürzte sich ein Löwe auf den Leichnam einer Frau, deren Gesicht vollständig zerfleischt war, legte die Vor- dertatze auf ihren Leib und beleckte mit seiner rauhen Zunge das geronnene Blut. Die anderen Löwen hatten sich inzwischen auf die knieende Christenschar gestürzt. Wohl stießen einige Frauen Schreckensrufe aus; allein die Zuschauer schlugen einen Moment wie rasend in die Hände, hielten aber dann fast den Atem an, um sich ja nicht den kleinsten Vorgang in der Arena entgehen zu lassen. Da verschwanden die Köpfe der Opfer in den Rachen der Löwen. Einige der Löwen packten ihre Opfer an der Seite oder beim Kreuze und setzten mit ihnen in tollen Sprüngen über die Arena, als ob sie, um ungestört fressen zu können, einen verborgenen Winkel aufsuchen wollten. Andere bekämpften sich wechselseitig, indem sie sich unter lautem Gebrüll ihren Raub zu entreißen suchten. Die Zuschauer standen von ihren Sitzen auf. Viele verließen die Plätze und eilten in die unteren Gänge. Dort konnte man alles besser sehen. Es hatte den Anschein, als ob sich das geradezu toll gewordene Volk, gleich den Löwen, auf die Christen stürzen wollten. Der Kaiser ließ den Smaragd nicht von den Augen. Plötzlich neigte sich der Cäsar etwas vor und flüsterte, sei es aus Wahnwitz, sei es aus dem Wunsche, den Römern ein bisher nie dagewesenes Schauspiel zu bieten, dem Stadtpräfekten einige Worte zu.- Staunen ergriff die Menge, als sich das Gitter abermals auftat und allerlei Bestien in die Arena getrieben wurden: Tiger vorn Euphrat, numidische Panther, Bären, Wölfe, Hyänen, Schakale. Mit all diesen gefleckten, gestreiften, braunroten und fahlgelben Tieren 39 glich die Arena bald einem wogenden Meere. In dem Chaos vermochte das Auge nichts mehr zu unterscheiden als die Rückenwirbel der dicht aufeinander gedrängten Tierleiber. Zwischen dem Brüllen, Heulen und Winseln ertönte aus dem Zuschauerraum das durchdringende, krampfhafte Lachen der Frauen, deren Kräfte schwanden. Entsetzen erfüllte die Menge. Auf den Gesichtern der meisten Zuschauer spiegelte die bange Furcht, von allen Seiten schrie man: „Genug, genug!“ Doch es war viel leichter gewesen, die Tiere in die Arena zu bringen, als sie wieder zu entfernen. Allein der Cäsar wußte auch dafür Rat. Er wandte ein Mittel an, das gleichzeitig zur Belustigung des Volkes diente. In den die Sitzreihen durchschneidenden Quergängen erschienen truppweise hochgewachsene Numidier, mit Federn und Ohrgehängen geschmückt, den Bogen in der Hand. Unverweilt traten sie an das Gitter, spannten ihre Bogen und schössen mit ihren Pfeilen mitten in die Schar der wilden Tiere. Dies neue Schauspiel erregte allgemeines Entzücken. Pfeil auf Pfeil flog in die Arena, bis alles Lebende zu Tode getroffen war. — Hunderte von Sklaven schafften die toten Menschen und Tiere hinweg, reinigten den Kampfplatz von dem Blute, ebneten ihn und schütteten frischen Sand auf. Nach „Quo vadis“ von Sienkiewicz. Verlag Benziger & Cie., Einsiedeln. 13. Im Amphitheater. Die Amphitheater, „Rundtheater“, waren große, offene Gebäude, die für die Kampfspiele der Fechter und wilden Tiere dienten. In der Mitte, am tiefsten, lag die Arena, von der die Zuschauersitze treppenartig („amphi- theatralisch“) nach außen emporstiegen. Die Außenmauer bestand gewöhnlich aus mehreren Reihen aufeinandergestellter Arkaden. —■ Das von Nero neugebaute Amphitheater war prachtvoll. Die Brüstungen strotzten von Bronce, Bernstein, Elfenbein, Perlmutter und Schildkrot. Mittelst Kanälen, die unter den Sitzen weiter liefen, wurde von dem Gebirge eiskaltes Wasser hergeleitet und dadurch selbst bei der großen Hitze eine angenehme Temperatur erzielt. Ein ungeheures, purpurrotes Velarium 1 gewährte Schutz gegen die Sonnenstrahlen. Zwischen den Sitzreihen standen Räucherpfannen umher, dazu bestimmt, die feinsten arabischen Düfte zu verbreiten; über den Sitzreihen waren Vorbereitungen angebracht, um die Zuschauer fortwährend mit Wohlgerüchen aus Verbena und Safran zu besprengen. Schon vor Sonnenaufgang harrte eine zahlreiche Volksmenge auf das Öffnen der Zugänge und lauschte voll Entzücken dem Ge- brülle der Löwen, dem heiseren Geknurre der Panther und dem Geheul der Hunde. Seit zwei Tage waren die Tiere nicht gefüttert 40 worden; man hatte ihnen aber blutige Fleischstücke vorgehalten, um ihre Wut und ihren Hunger zu steigern. Bald erschienen auch größere oder kleinere Abteilungen von Gladiatoren vor dem Amphitheater. Einige trugen grüne Büsche in der Hand, etliche hatten sich mit Blumen geschmückt, alle aber waren jung, schön und standen in der Blüte des Lebens. Die Umstehenden kannten viele der Gladiatoren persönlich; es ertönten daher fortwährend die Rufe: „Sei gegrüßt, Furniusl, sei gegrüßt, Leo! sei gegrüßt, Maximus!“ Doch die Aufmerksamkeit der schaulustigen Menge ward nun durch die mit Geißeln bewaffneten Männer erregt, deren Aufgabe darin bestand, die Rümpfenden immer wieder anzutreiben. Nach diesen kam eine lange Reihe mit Mauleseln bespannter Wagen; die darauf aufgetürmten Holzsärge erweckten als neuen Beweis für die große Zahl der zum Tode bestimmten Christen bei dem Volke einen wahren Jubel. Dann rückte eine Schar Männer heran, denen die Tötung der Verwundeten oblag. Ihnen folgten die Leute, welche für die Aufrechterhaltung der Ordnung und für Anweisung der Plätze zu sorgen hatten, sowie die Sklaven, welche die Erfrischungen umher- reichen mußten; schließlich aber kamen die Prätorianer, ohne deren Schutz der Cäsar niemals ein Amphitheater besuchte. — Als endlich die Tore geöffnet wurden, stürzte das Volk geradezu in den Zirkus. Doch die Schar der Schaulustigen war eine so große, daß der Andrang Stunden hindurch währte. Jetzt aber nahte sich auch der Stadtpräfekt inmitten der Vigilien 2 , und ihm folgten in langer, ununterbrochener Reihe die Sänften der Senatoren, der Konsuln, der Prätoren 8 , der Ädilen 4 , der Behörden, der Palastbeamten, der Anführer der Prätorianer, der Patrizier, wie auch die Sänften hervorragender Frauen. Vor einigen der Sänften schritten Liktoren, den Rutenbündel mit dem Beil tragend, vor andern eine Schar Sklaven. Hell glitzerten in der Sonne die Vergoldungen der Sänften, die weißen und farbigen Stoffe, die Federn, die Ohrgehänge, die Juwelen, der Stahl der Beile. Erst nach geraumer Zeit trafen die Priester der verschiedenen Tempel und nach ihnen die Vestalinnen ein, vor deren Sänften auch Liktoren einhergingen. Mit dem Beginn des Spieles wurde nunmeh. noch auf den Cäsar gewartet. Doch Nero, der das Volk nicht ungeduldig machen, sondern es durch Pünktlichkeit gewinnen wollte, erschien rechtzeitig mit der Augusta 6 und umgeben von den Augustianern 6 . Welch ein herrliches Amphitheater! Der Anblick war in der 41 — Tat prächtig. Auf den unteren Sitzen glänzten die blendendweißen Togen 7 wie Schnee. Auf dem von Gold glitzernden Podium saß der Cäsar mit einem Halsband aus Diamanten geziert, einen goldenen Kranz auf dem Haupte, neben ihm die schöne, aber düster blickende Augusta. Zu ihren beiden Seiten reihten sich die Ve- stalinnen, die hohen Würdenträger, die Senatoren in verbrämter Tunika 8 , die Kriegsobersten in blinkendem Waffenschmucke, mit einem Worte alles, was Rom an Macht, Glanz und Reichtum auszuweisen hatte. In den oberen Sitzreihen hatte man den Rittern ihre Plätze angewiesen; in den höchsten Reihen, die für das Volk bestimmt waren, wogte ein wahres Meer von Köpfen, über denen sich von Säule zu Säule Gewinde von Rosen und Lilien, von Herbstzeitlosen, Efeu und Weinlaub hinzogen. Dieses Mal machte man den Anfang mit den Gladiatoren, die mit verbundenen oder von dem Helme bedeckten Augen fochten. Sie schlugen mit den Schwertern in die Lüfte, während die Antreiber bemüht waren, mittelst langer Spieße sie gegeneinander zu treiben. Bei den auserlesenen Zuschauern erweckte dieses Schauspiel nur Gleichgültigkeit und Verachtung, der Pöbel ergötzte sich an den ungeschickten Bewegungen der Gladiatoren und brach in lautes Lachen aus, wenn sie mit den Schultern zusammenstießen und versuchte durch die Rufe: „Mehr nach rechts 1 mehr nach links! in gerader Richtung!“ irre zu leiten. Da sich allmählich verschiedene zusammenfanden, begann der Kampf blutig zu werden. Die mutigeren Gegner warfen ihre Schilde weg, reichten sich gegenseitig die linke Hand, um beisammen zu bleiben und kämpften mit der Rechten um Leben und Tod. Der, welcher fiel, hob die Hand in die Höhe, zum Zeichen, daß er um Gnade bitte. Zu Beginn der Spiele verlangten die Zuschauer gewöhnlich den Tod der Verwundeten, insbesondere, wenn deren Gesichter verhüllt und dadurch unkenntlich waren. Die Zahl der Kämpfenden verringerte sich rasch. Zuletzt waren nur noch zwei übrig geblieben, die derart aufeinander getrieben wurden, daß sie, zusammenprallend, auf den Sand stürzten und sich wechselseitig erstachen. Bedienstete schafften die Leichname aus der Arena, Knaben aber rechten die blutigen Spuren hinweg und streuten Safranblätter auf den Sand. Alle sahen voll Interesse dem Kampfe entgegen, der nun beginnen sollte. Gar häufig gingen die jungen Patrizier Wetten ein, durch die sie Hab und Gut einbüßten. So wanderten auch 42 jetzt Täfelchen von Hand zu Hand, auf denen die Namen der beliebtesten Gladiatoren und die Summe der Sesterzien 9 angegeben waren, die ein jeder auf seinen Günstling wettete. Selbst der Cäsar ging Wetten ein, und seinem Beispiel folgten die Priester, die Ve- stalinnen, die Senatoren, die Ritter und alles Volk. Viele unter den Plebejern, denen es an Geld mangelte, setzten ihre eigene Freiheit zum Pfande. — Todesstille trat unter den Zuschauern ein, als der Schall der Trompete ertönte. Tausende von Augen richteten sich auf eine große, mit einem eisernen Riegel geschlossene Pforte, der sich ein Mann in der Gestalt des Charon 10 näherte und drei gewaltige Schläge darauf führte, wie um anzudeuten, daß alle, die sich hinter ihr bargen, dem Tode geweiht seien. Plötzlich öffneten sich die leichten Torflügel, die das dunkle Gewölbe verschlossen, aus welchem nun die Gladiatoren in die helle Arena schritten. Sie erschienen truppweise, immer 25 Leute zusammen. Anfänglich ließen sich vereinzelte, zustimmende Rufe hören, nach und nach aber brach ein anhaltender Beifallssturm los. Gleichmäßigen, elastischen Schrittes umkreisten die Gladiatoren die Arena. In stolzer, vornehmer Haltung machten sie vor dem Podium des Cäsars halt. Die Fechter erhoben die rechte Hand in die Höhe, richteten den Blick zu dem Kaiser empor und sprachen oder vielmehr sangen in langgezogenen Tönen: Ave 11 Cäsar, Imperator, Wir, die wir sterben, grüßen dich! Dann stoben sie rasch auseinander, um die ihnen angewiesenen Plätze in der Arena einzunehmen. Der Bestimmung zufolge sollten sie in Gruppen gegeneinander kämpfen; doch die Berühmtesten hatten die Erlaubnis erhalten, im Zweikamps ihren Mut, ihre Kraft, und ihre Ausdauer zu beweisen. Aus der Mitte der Gallier trat daher Lanio hervor, der den ständigen Besuchern der Arena unter dem Namen „der Schlächter“ bekannt war. Mit dem großen, schweren Helm auf dem Haupte, Brust und Rücken von einem mächtigen Harnisch umschlossen, glich er in der glänzendgeschmückten Arena einem gewaltigen Stiere. Der nicht weniger berühmte Netzfechter Calendio stellte sich als sein Gegner auf. — Unter den Zuschauern wurden neue Wetten abgeschlossen. „500 Sesterzien für den Gallier 1“ „500 für Calendio 1“ „Bei Herkules 10001“ „20001“ — Der Gallier war inzwischen bis in die Mitte der Arena geschritten. Nun aber zog er sich mit vorgestrecktem Schwerte und gebeugtem Haupte 43 zurück, durch sein Visier aufmerksam seinen Widersacher beobachtend. Der leichtfüßige, wunderbar schön gebaute Netzfechter, der außer einem Gurt um die Lenden völlig nackt war, sprang fortwährend um seinen schwerfälligen Feind herum, voll Anmut das Netz schwingend, den Dreizack hebend oder senkend und den bei den Netzfechtern üblichen Gesang anstimmend: Nicht nach dir ziele ich, nach dem Fisch ziele ich; Was suchst du dich mir zu entziehen, o Gallier? Doch der Gallier floh nicht. Nur wenige Schritte ging er zurück, dann blieb er stehen, durch eine kaum merkliche Bewegung sich stets so wendend, daß er seinen Gegner fortwährend im Auge behielt. Die Zuschauer begriffen sofort, daß dieser geharnischte Gladiator darauf bedacht war, durch einen einzigen Stoß den Kampf zu entscheiden. Der Netzfechter sprang inzwischen bald auf ihn zu, bald wieder zurück, mit seiner zackigen Gabel sehr rasche Bewegungen ausführend, daß das Auge kaum zu folgen vermochte. Nur ein zeitweise ertönender Klang legte Zeugnis dafür ab, daß die Spitzen des Dreizacks den Schild getroffen hatten; doch Lanio wich und wankte nicht — der deutlichste Beweis für seine unendliche Kraft. Seine ganze Aufmerksamkeit war nicht auf den Dreizack, sondern auf das Netz gerichtet, das gleich einem unheilverkündenden Vogel beständig über seinem Haupte schwebte. Die Zuschauer wagten kaum zu atmen. Da plötzlich schien dem Gallier der geeignete Moment gekommen zu sein, und er führte einen raschen Stoß auf seinen Gegner. Doch dieser schoß mit Blitzesschnelle unter dem Schwerte hinweg, richtete sich dann hoch empor und warf sein Netz. Der Gallier jedoch, langsam an seinen früheren Platz zurückkehrend, fing das Netz mit seinem Schilde auf. — Und abermals fingen die Gladiatoren zu kämpfen an, und ihre Bemühungen waren so gleichmäßig und schön, daß es den Anschein hatte, als ob sie nicht auf Leben und Tod stritten, sondern nur ihre Geschicklichkeit zeigen wollten. Die Zuschauer wollten Lanio keine Ruhe gönnen und schrien: „Zum Angriff, zum Angriff! a Er gehorchte und stürzte sich auf Calendio. Ein Blutstrom schoß plötzlich aus dem Arme des Netzfechters. Nun bot der Gallier alle seine Kraft auf. Rasch sprang er vor, um den letzten Streich zu führen. Doch in demselben Augenblicke wich Calendio, der sich absichtlich unfähig zum Netzfechten gestellt hatte, geschickt zur Seite, stieß seinem Gegner den Dreizack zwischen die Beine und brachte ihn dadurch 44 zu Falle. Umsonst versuchte Lanio, sich wieder zu erheben. In einer Sekunde umfing ihn das unheilbringende Gewebe, in dessen Maschen er sich mit jeder Bewegung mehr und mehr verwickelte, während ihn Calendio mit dem Dreizack aufs neue niederstieß. Doch noch einmal wand er sich hin und her, um sich aus dem Netze zu befreien. Es war zu spät. Seiner kraftlos gewordenen Hand entsank das Schwert, er faßte sich ans Haupt und fiel rücklings zur Erde. Calendio aber, den Dreizack mit beiden Händen ergreifend und dessen Spitzen auf den Hals des bezwungenen Gegners setzend, wendete sich gegen das Podium des Cäsars. Der ganze Zirkus dröhnte von dem Beifallsklatschen und den stürmischen Rufen der Menge. Die, welche auf den Netzfechter gewettet hatten, stellten Calendio in diesem Augenblick höher als Nero, gleichzeitig schmolz aber der Haß gegen Lanio, der auf Kosten seines Lebens ihren Beutel füllte; daher war auch, nach den gegebenen Zeichen zu schließen, das Urteil der Zuschauer ein geteiltes. Auf den höheren Sitzreihen stimmte die eine Hälfte der Leute für den Tod des Besiegten, die andere Hälfte war für seine Begnadigung. Calendio aber, nur auf den Kaiser und die Vesta- linnen schauend, harrte auf deren Entscheidung. Zum Unglück für Lanio hegte Nero eine Abneigung für ihn, weil er früher gegen den Gallier gewettet und eine große Summe verloren hatte. So streckte er seine Hand über das Podium und zeigte mit dem Daumen zur Erde. Die Vestalinnen ahmten sofort sein Beispiel nach. Daraufhin kniete Calendio auf die Brust des Bezwungenen, schob dessen Rüstung ein wenig zurück und stieß sein Messer in den Hals des Gegners. Sein Tod war zweifellos. Keiner der Männer fand es notwendig, mit einem glühenden Eisen zu versuchen, ob er noch lebe. Weitere Kämpfe wurden ausgesuchten. Die Menge nahm lebhaften Anteil daran und wandte kein Auge davon. Man heulte, lärmte, pfiff, klatschte Beifall, lachte und stachelte die Gladiatoren auf. Letztere kämpften mit der Wut von wilden Tieren, Brust an Brust. Die Körper verkrümmten sich förmlich in der tätlichen Umarmung, die Knochen krachten, ein Schwertstoß folgte dem andern, über die bleichen Lippen strömte das Blut in den Sand. Allgemach ergriff die Neulinge eine solche Angst, daß sie sich dem Menschenknäuel zu entziehen und zu fliehen trachteten. Allein die Antreiber trieben sie mittelst Geißeln, an deren Ende Blei befestigt war, in den Kampf zurück. Große Blutlachen bildeten sich auf dem Sande. 45 Reihenweise lagen die toten, mit Rüstungen versehenen Körper in der Arena. Doch inmitten dieser Leichname fochten die Lebenden weiter, strauchelten über Harnische und Schilde, rissen sich die Füße an den Waffen blutig und stürzten schließlich auch zur Erde. Zum Tode getroffen lag schließlich die Mehrzahl der Gladiatoren auf der Erde, nur wenige Verwundete knieten in der Mitte der Arena und streckten, mit der Bitte um Gnade, zitternd ihre Hand gegen die Zuschauer aus. Nach der Belohnung der Sieger mit Kränzen und Olivenzweigen trat eine Ruhepause ein, die aber auf Befehl des allmächtigen Cäsars zu einem wahren Festgelage benützt ward. Die Druckwerke verbreiteten einen feinen Regen von Safran und Veilchenwasser über die Zuschauer, Wohlgerüche wurden in Räucherpfannen verbrannt, erfrischende Getränke, Fleischspeisen, süßes Backwerk, Wein, Oliven und andere Früchte herumgereicht. Das Volk tat sich gütlich, schwatzte und rief dem Cäsar „Heil“ zu, um ihn zu noch größerer Freigebigkeit anzuspornen. Nachdem Hunger und Durst gestillt waren, brachten Hunderte von Sklaven allerlei Geschenke in unzähligen Körben herbei, aus denen Knaben in der Gestalt von Amoretten 12 die Gaben nahmen und sie unter die Zuschauer warfen. In dem Augenblicke, da Lotterielose verteilt wurden, entstand jedoch ein wahrer Kampf. Die Leute balgten sich, warfen sich gegenseitig zu Boden, traten sich mit Füßen, riefen um Hilfe, sprangen über die Bänke, würgten sich, alle in der Hoffnung, durch einen glücklichen Treffer ein Haus mit einem Garten, einen Sklaven, ein prächtiges Gewand oder irgend ein wildes Tier zu gewinnen, das dann späterhin an ein Amphitheater verkauft werden konnte. Um diesem wüsten Treiben ein Ende zu machen, mußten die Prätorianer einschreiten; nach der Verteilung der Geschenke aber trug man viele mit gebrochenen Armen und Beinen, manche sogar mit völlig zerstampftem Körper aus dem Zirkus. Nach „Quo vadis“ von Sienkiewicz. 1 Horizontal ausgespanntes Schutztuch. 9 Die Wachen. 3 Vorsitzende der Gerichte; Leiter der Spiele. 4 Leiter der gesamten Polizeiverwaltung (früher auch Leiter der Spiele). 3 Kaiserin. 6 Des Kaisers Gefolge. Meist reiche, ausschweifende Leute aus der Ritterschaft. 1 Mantelüberwurf, Nationalkleid. Die Römer hießen bei den Fremden auch die „Togaträger“. 8 Wurde unter der Toga auf dem Leibe getragen, hemdartig. 9 Silbermünze im Wert von 25 Rp 10 Fährmann, der die Schatten der Verstorbenen über die Flüsse der Unterwelt setzt. 11 Gegrüßt seist du! 19 Liebesgötter. 46 14. Im Zirkus zu yVntiochien. Die Zirkusse waren langgestreckte Gebäude, etwa fünfmal so lang als breit. Arkaden in Stockwerken schlössen die Rennbahn ein. Im Innern stiegen die Sitzreihen amphitheatralisch an. Das Gebäude war unbedeckt; doch schützten gespannte Tücher vor den Sonnenstrahlen. Es gab verschiedene Arten von Wettkämpfen: Pferde- und Wagenrennen, Ring- und Faustkämpfe, Wettlauf usw. Die Wagenrennen erregten das größte Interesse. Sie geschahen einer niederen Mauer entlang, welche die Rennbahn gleichsam in zwei Teile zerlegte. Dann mußte um ihr Ende gewendet und der Lauf auf der anderen Seite zurückgemacht werden und das gewöhnlich siebenmal. Durch Wegnahme von Zeichen — Delphinen und Kugeln — wurden die Umgänge gezählt. Eröffnet wurden die Spiele, die oft ein Fest abschlössen, durch einen glänzenden Aufzug der Spielleiter und Wettkämpfer, wobei auch Götterbilder getragen oder gefahren wurden. Die Zuschauer bildeten Parteien, die weiße, rote, grüne usw., die in der Erregung sich oft in die Haare gerieten, so daß nicht selten Blut floß. Schon am Tage vor dem Spiele besetzte man scharenweise jeden freien Platz in der Nähe des Zirkus, aus Angst, keinen Platz mehr zu finden. Waren nach der Toröffnung die Plätze gestürmt, so hätte nur ein Erdbeben, oder ein Heer mit den Waffen in der Hand das Volk vertreiben können. Ohne Zweifel ernteten die Wagen lenker am meisten Beifall. Jeder trag eine wollene, ärmellose Tunika von der Farbe, unter der er im Programm aufgeführt war. Die Zuschauer erhoben sich, der Jubel wollte nicht enden. Immer dichter wurde der duftige Blumenregen, der sich über die Lenker ergoß. Jeder einzelne der Zuschauer, Kinder, Männer und Frauen trugen ein Band über die Brust oder im Haar, das bei dem einen grün, beim andern blau, beim dritten gelb usw. war. Kurz und scharf erklang die Trompete. Sogleich sprangen hinter den Pfeilern des ersten Zieles sechs Männer hervor, die dazu bestimmt waren, Hilfe zu leisten, falls eines der Gespanne in Verwirrung geriete. Auf einen weiteren Trompetenstoß stürzten die Viergespanne hervor. Jeder Leiter begehrte mit Inbrunst, den Platz an der Mauer zu erlangen, und schon hiebe! mußte sich zeigen, wer den Sieg erringen würde. Messala, der Römer, schwang unerschrocken die Peitsche, ließ die Zügel schießen und gewann mit einem Triumphruf die viel begehrte Mauerseite. „Jupiter mit uns!“ brüllte die ganze Partei des Römers. Als Messala in die Bahn einbog, traf der bronzene Löwenkopf, mit dem das Ende seiner Wagenachse verziert war, das Außenpferd des Atheners. Mit einem unruhigen Seitensprung flog das Tier gegen das Nebenpferd und das Gespann geriet in die tollste Verwirrung. Der Athener wollte es nach der rechten Seite hinlenken, da rannte der Byzantiner, der 47 ihm zur Linken fuhr, mit dem Rade gegen das Hinterteil seines Wagens an, und das Gestell zerschellte unter lautem Krachen; der unglückliche Kleontes stürzte unter die Hufe seiner eigenen Pferde. Während die übrigen Fahrer mit aller ihnen zu Gebote stehenden Geschicklichkeit zu vermeiden suchten, daß sie in den Sturz des Atheners hineingezogen wurden, lenkte der Jude mit wunderbarer Geschicklichkeit seine Araber unter einem Winkel, bei dem so gut wie gar keine Zeit verloren wurde, an den zweiten Platz neben die Mauer. Beifall erscholl auf allen Bänken, und des Juden Freund bot lächelnd enorme Wetten an. Alle Römer aber begannen zu glauben, daß Messala einen ebenbürtigen Gegner, ja vielleicht einen Meister gefunden haben könnte. Seite an Seite sausten sie nun dahin, dem zweiten Ziele zu. Hier herumzukommen, galt als das beste Kennzeichen eines geübten Wagenlenkers. Erst vor der gefährlichen Biegung schien Messala den Gegner zu bemerken. Mit geübter Hand schwang er die Peitsche und versetzte den treuen Arabern des Juden einen Schlag, wie sie ihn wohl Zeit ihres Lebens noch nie gefühlt hatten. Die Rosse machten entsetzt einen wilden Satz, waren sie doch immer nur mit Liebe und Zärtlichkeit behandelt worden. Der Jude aber blieb fest und aufrecht stehen; mit riesiger Kraft hielt er die Rosse zurück, um ihnen im nächsten Augenblick wieder die Zügel zu lassen. Mit schmeichelnden und beruhigenden Worten vermochte er sie um die gefährliche Biegung herumzulenken. Als er sich dem ersten Ziele wieder näherte, war er bereits von neuem an Messalas Seite, überall mit Jubel begrüßt. — Sobald die Wagen das Ziel hinter sich hatten, erstieg ein Mann den Aufsatz am westlichen Ende und entfernte eine der Kugeln, gleichzeitig wurde am östlichen Ende ein Delphin herabgenommen. Auf diese Weise verschwanden die zweite und die dritte Kugel, der zweite und dritte Delphin. — Im Verlaufe der fünften Runde gelang es dem Sidonier, einen Platz neben dem Juden zu erringen, doch verlor er ihn sogleich wieder. Allgemach hatte die Schnelligkeit zugenommen. Überall beugten sich die Zuschauer weit vor und folgten starren Blickes den beiden Gespannen. Messala hatte seine höchste Geschwindigkeit erreicht. Mit halbem Leibe lag er überm Wagenrand. Seine Zügel hingen lose wie flatternde Bänder. „Jupiter mit uns!“ schrien die Römer. Langsam, aber sicher gewann Messala Vorsprang. Tief hielten seine Rosse den Kopf gesenkt, sie schienen mit dem Leibe den Boden zu be- 48 rühren, blutrot glühten ihre Nüstern und die Augen traten aus den Höhlen. — Die sechste Runde hatte begonnen. Als sie sich dem zweiten Ziele näherten, lenkte der Jude hinter den Wagen des Römers. Messalas Freunde heulten vor freudiger Aufregung. Nicht schnell genug konnte des Juden Freund die angebotenen Wetten in sein Täfelchen eintragen. Die ganze sechste Runde hindurch blieb die Reihenfolge die gleiche. Messala hielt jetzt aus Furcht, seinen Platz zu verlieren, ganz scharf neben der Mauer, ein Fuß weiter, und sein Wagen hätte am Gestein zerschellen müssen. Nun lagen nur noch eine Kugel und ein Delphin auf den Gestellen ; das Ende des Kampfes stand bevor. Der Sidonier schwang über dem Viergespann die Peitsche, daß es vor Schreck und Schmerz vorwärts stürzte und eine kurze Zeit lang Aussicht hatte, den ersten Platz zu gewinnen. Doch blieb er bald wieder zurück. Der Byzantiner und der Korinther machten den gleichen Versuch, mit gleichem Mißerfolge. Alle Parteien, außer den Römern, setzten nun ihre Hoffnungen auf den Juden. Wo er vorbeifuhr, ertönten wilde Rufe der Ermunterung. „Laß den Arabern die Zügel! Gib ihnen die Peitsche!“ — Entweder hörte er nicht, oder er konnte nichts mehr ändern. Bis zum zweiten Ziele folgte er auch jetzt hinten- drein. Um herumzulenken, zog Messala die Zügel der linken Pferde straffer, so daß ihre Schnelligkeit vermindert wurde. Er war wohlgemut, Weihgeschenke gelobte er den Göttern, und mehr als einen Altar gedachte er zu schmücken. In diesem Augenblick beugte sich der Jude nach vorn und ließ den Arabern die Zügel schießen; über dem Rücken der Pferde wirbelte, ohne zu treffen, ermunternd und drohend zugleich, die Peitsche. Blitzschnell gehorchten alle vier Pferde wie ein Tier, und mit einem Sprunge war er an Messalas Seite. Der Jude hatte sich diese gefährliche Ecke für seinen Streich ausersehen. Um an Messala vorbeizukommen, mußte er die Bahn kreuzen und zwar in möglichst geringem Abstände. Dies erforderte große Geschicklichkeit, wenn er nicht zurückbleiben wollte. Die tausendköpfige Menge begriff das alles — sah, wie der Jude die Pferde antrieb — sah, wie sie ihm augenblicklich gehorchten — sah, wie die Araber neben dem Wagen Messalas lagen, — sah, wie das Innenrad sich hart hinter Messalas Wagen befand! Da, mit einem Male erscholl ein jäher Krach und ein Regen von weißen und gelben Splittern prasselte über die Bahn hin. Der Wagen des Römers stürzte nach rechts, die Achse prallte vorn harten Boden 49 zurück, der Wagen zerschellte und Messala, in seine Zügel verwickelt, stürzte kopfüber. Dicht hinter ihm sauste der Sidonier an der Mauer dahin, und da er sein Gespann nicht mehr anzuhalten vermochte, jagte er mit all seiner Geschwindigkeit in den Trümmerhaufen. Dann ging’s über den Römer hinweg und zwischen die vor Furcht rasenden Tiere. Der Korinther und der Byzantiner jagten hinter dem Juden her, der nicht eine Sekunde aufgehalten worden war. Die Menge sprang von den Bänken empor und schrie durcheinander. Man sah Messala regungslos unter den Hufen seiner Pferde liegen. Die Mehrzahl aber folgte dem Sieger mit begeistertem Blick. Sie hatten freilich nicht die rasche Bewegung gesehen, mit der er im entscheidenden Moment nach links lenkte und Messalas Rad mit der eisernen Spitze seiner Achse faßte und zerschmetterte; aber sein verändertes, entschlossenes Wesen war ihnen aufgefallen. Und wie seine Pferde liefen! Eben waren der Byzantiner und der Korinther am zweiten Ziele vorbei, da fuhr der Jude schon durch das erste. Das Rennen war gewonnen! Das Volk brüllte sich heiser; der Leiter der Spiele kam und krönte die Sieger. Durch das Triumphtor verließen sie den Zirkus: Das durcheinander-wogende Volk, befriedigt durch den aufregenden Ausgang des Wagenrennens, überschüttete alle mit brausendem Beifall. Nach Lewis Walace. 15. Der Fall des Serapis. Der Serapistempel war der größte aller Tempel der hellenischen Welt und von gigantischem Umfange. Hunderte von Höfen, Sälen, Gängen und Kammern schlössen sich an die gewaltigen, dem Kultus gewidmeten Hallen oder breiteten sich in verschiedenen Stockwerken unter ihnen aus. Da gab es lange Zimmerreihen mit mehr als hunderttausend Bücherrollen, die berühmte Bibliothek des Serapeums, mit Lesehallen, Schreibstuben und Versammlungszimmern für die Leiter des Tempels, für Lehrer und Schüler. An den Tempel des höchsten Gottes, des Schutzherrn der Stadt, schlössen sich Stiftungen und Schulen, welche Tausenden zu gute kamen. In seinem Schutze wurde die Wissenschaft, auf welche der Alexandriner stolz war, noch immer gepflegt; zu dem Serapeum gehörte die medizinische Fakultät, welche noch den unbestrittenen Ruf genoß, die erste der Welt zu sein; auf seiner Sternwarte ordneten Astronomen den Lauf des Jahres, und aus ihr ging der Kalender hervor. An der Hinterwand des eigentlichen Tempelraumes befand sich die turmhohe Nische mit dem berühmten Bilde des Serapis. Würdevoll thronte die reife Männergestalt des Gottes auf dem goldenen Königssitze, der mit Edelsteinen über und über besetzt war. Sinnend und ernst schaute sein schönes Antlitz den Andächtigen entgegen. Von Gold und Elfenbein waren der edle Leib des Gottes — ein Musterbild ruhender Kraft — und 4 Gesebichtalehnnittel. II. 50 das Gewand gebildet. Tadellos und harmonisch vollendet war dieses Abbild übermenschlicher Macht und Götterhoheit. Wenn dieser Fürst sich von seinem Sitze erhob, mußte die Erde wanken und der Himmel erzittern. Gewiß, das Heiligtum war das Herz des hellenischen Lebens in der Stadt Alexanders. Was Wunder, wenn die Heiden wähnten, beim Sturze des Serapis und seiner Behausung werde die Erde, müsse die Welt in einen Abgrund versinken. Und nun hatte Theodosius in Alexandrien verkünden lassen: „Wie in allen Staaten, so wird auch in Ägypten jede Lehre, welche diesem teuren (christlichen) Glauben widerspricht, verfolgt werden.“ Römische Soldaten stürmten den Tempel und nun erschienen der Bischof und die fanatischen Mönche, um den Serapis zu fällen. Hundert Panzerreiter rückten an, mit Äxten in der Hand. Die Menge erwartete etwas Entsetzliches, Haarsträubendes. Selbst die Soldaten waren voller Angst und weigerten sich aus Scheu vor dem Gotte, Hand an das edle, tadellose Bauwerk zu legen. Nach G. Ebers. Da trat der Befehlshaber festen Schrittes auf die Leitern zu, hob mit kräftigen Armen eine derselben von der Wand, lehnte sie an die Brust des Gottes, nahm die Axt, welche ihm am nächsten lag und stieg von einer Sprosse zur andern, und auf einmal verstummte der Lärm der Heiden; es war so still in der weiten Halle, daß man hören konnte, wie sich bei den Panzerhemden eine Schuppe an der andern rieb. Mit atemloser Spannung folgte man jeder seiner Bewegungen. Da stand er schon an der Spitze der Leiter; da warf er den Stiel der Axt aus der Linken in die Rechte, da bog er sich zurück und schaute das Haupt des Serapis von der Seite her an. Er, der Soldat, der Christ, dem der Kriegsherr befohlen, das erhabene Gebilde eines gottbegnadeten Künstlers zu vernichten, schloß die Augen, als scheue er sich, das Werk seiner Hand zu schauen; dann griff er in eine der Locken des göttlichen Bartes, holte mit der Rechten zu einem gewaltigen Schlage aus, ließ die Axt auf die Wange des Serapis niedersausen, so daß schön geglättetes Elfenbein in großen und kleinen Scheiben auf den steinernen Boden niederfiel, von demselben elastisch abprallte oder klirrend in Stücke sprang. Ein Lärm ohnegleichen, wie hallender Donner und das Brausen der Brandung, brach los, als sich das erhabene Götterbild in der Nische in einen formlosen, häßlichen Holzklotz, zu dessen Füßen in wirrem Gehäuf Elfenbeinschalen, Goldplatten und zerbrochene Marmorstücke lagen, verwandelte. Auf den Sprossen der vielen Leitern, die jetzt aufgerichtet wurden, standen nun in buntem Durcheinander Panzerreiter und Mönche und führten das Werk der Zerstörung zu Ende. Es gab keinen Serapis mehr, der Himmel der Heiden hatte seinen König verloren. In dumpfem Ingrimm und doch mit angst- 51 entlasteten Seelen drängten die Anbeter des gestürzten Gottes ins Freie und suchten an dem blauen, reinen, in heiterem Sonnenlichte strahlenden Himmel vergebens nach rächenden Wolken. Mönche rissen den entheiligten Klotz ins Freie und führten ihn im Triumphe durch die Straßen. „Verbrennt ihn, nieder mit den Götzen!“ schrien Tausende. Andere Mönche und christliche Bürger, welche die Zerstörungswut ergriffen, trugen die Glieder Götzen und zerschlagener Statuen des Apollo, der Athene und Aphrodite auf den Schultern, um sie dem hölzernen Serapisklotze nach in die Flammen zu werfen. Der Pöbel hatte die Nasen von den Götterhäuptern geschlagen, den Marmor mit Pech bespritzt oder mit roter Farbe, welche man in der Schreibstube des Serapeums gefunden, wunderlich bemalt. Wer den gefallenen Göttern nahe kam, bespie sie, schlug oder stach nach ihnen und kein Heide wagte es, diesem Treiben Widerstand zu leisten. Glühender Feuerschein schmückte den nächtlichen Himmel, die Mönche hatten Feuer in den Iristempel geworfen. Freveltat auf Freveltat wurden von den Christen begangen. Was die Kunst geschaffen, wurde jubelnd zerstört. — Mit dem Heidentum verlosch auch die Größe und der Glanz der alten Griechenstadt und von all den Herrlichkeiten des zweiten Ortes der Welt, der Stadt des Serapis, ist nichts übrig geblieben » als eine gewaltige, heute noch zum Himmel ragende Säule, welche zu dem hehren Tempel jenes Götterfürsten gehört hat, dessen Sturz das Ende eines großen Abschnittes im geistigen Leben der Menschheit bezeichnet. • Nach „Serapis“ von Georg Ebers. 16. Römische Siedelung und Kultur im Kanton Zürich. Als die Helvetier von ihrem zweiten Auszuge nach Gallien, durch Cäsar geschlagen, 58 v. Chr. heimkehrten, dienten sie im römischen Interesse als eine Art „Wacht am Rhein“. Die römische Herrschaft schlug stärkere Wurzeln, besonders von der Zeit an, da in der östlichen Schweiz auch die Rätier bezwungen wurden, 15 v. Chr. Die Römer organisierten das Land, begründeten eine Verwaltung und Einteilung und ließen sich nach und nach in den fruchtbaren Landstrichen nieder. Für das römische Weltreich bildete bis Ende des 1. Jahrhunderts unser Land als Grenzgebiet einen nicht unwichtigen Bestand- teil. Durch dasselbe führte die große nördliche Militärstraße. die vorn Hauptwaffenplatze der Römer in Helvetien, dem Lagerplatz Vindonissa — wo bis 69 n. Chr. die XXL, später die XI. Legion ihren Standort hatten —, nach Osten, zum Bodensee, sich zog. Diese durchquerte unseren Kanton in der Richtung von West nach Ost. Spuren davon, und Reste der schützenden Kastelle und Hauptansiedelungen lassen erraten, daß sie von Otelfingen über Buchs, bei Rümlang vorbei nach Kloten (Claudia), dann in der Richtung über Brütten auf Oberwinterthur (Vitudurum) zu und in der Richtung gegen Ellikon in den Thurgau nach Pfyn (Ad flnes) führte. Das stärkste Kastell auf dieser Route befand sich bei Vitudurum, wo bei der Kirche und in den Kellern der Häuser ansehnliche Überreste römischen Gemäuers sich finden und das ganze Dorf größtenteils auf römischen Ruinen steht. Im 1. Jahrhundert haben wir uns auf dieser Straße einen regen Militärverkehr zu denken, bis so gegen 100 n. Chr. die Römergrenze weiter an die Donau vorgeschoben wurde. Eine wichtige Zubehör dieser römischen Militärorganisation bildete die Grenzwehr am Rhein. Von den etwa 30 Wachttürmen, die längs des Rheines von Stein a. Rh. bis Basel sich erhoben, entfallen mindestens 6 auf unseren Kanton: bei Feuertalen, bei Benken, Ellikon a. Rh., Berg a. J. (Ebersberg), beim Rheinsberg und bei Weiach. Die Türme waren viereckig; ein Holzstoß, sowie ein Heuschober befanden sich daneben, oft war auch eine Ringmauer da. Von einem dieser Wachtposten konnte man auf den andern sehen und mit Rauch am Tage oder Feuer bei Nacht leicht Zeichen geben. Von einem Wachtturm zum andern patrouillierten römische Soldaten. Nachdem die Grenzlinie nach Norden geschoben worden war, kamen ruhigere Zeiten. Viele Römer ließen sich im Lande nieder; abgedankte Soldaten erbauten Landhäuser (Villen) und erfreuten sich am Landbau. Die Wildnisse begannen sich zu lichten; ein behagliches Leben, mit aller Bequemlichkeit, zum Teil auch mit dem ganzen Luxus und Komfort der römischen Kaiserzeit entfaltete sich. Die Grundbedingungen für die Entwicklung dieser Kultur bildete der Verkehr, gefördert durch den Straßenbau. Außer jener großen Militärstraße legten die Römer noch kleinere Verkehrswege mehr lokaler Art an, wodurch die wichtigsten Knotenpunkte römischen Lebens in Verbindung gebracht wurden. An den Maschen dieses Netzes lagen die römischen Ansiedelungen, deren man mindestens etwa 70 kennt (Kanton Zürich). Auf der Städte des helvetischen Dorfes Turicum erstand auf 53 beiden Seiten der Limmat eine fleckenartige, römische Ortschaft. Den beherrschenden Punkt dieser Niederlassung bildete auf dem Lindenhofe, einem uralten Moränenhügel, ein Kastell (castrum), dessen Mauern jetzt noch im Unterbau der Ringmauer des Linden- hofplatzes erhalten sind. Auf der Nordseite befand sich ein Graben; auf der Südseite war das Tor. In diesem Zentrum stand unter einem Befehlshaber eine Garnison, eine Abteilung der Legion, die in Vindonissa stationiert war; sie sollte den Flußübergang, die Straßen, den Ort und dessen Verkehr schützen und die nahen Wart- türme besetzen. Zürich war dazumal schon ein für den Handel wichtiger Verkehrsplatz, nahe an der Provinz Gallien, gegen Rätien und Vindelicien; darum befand sich hier eine Zollstation, die „Statio Turicensis“, und zwar wahrscheinlich bei der „Schipfe“, wo der Hafen oder Schiffsplatz war, der dieser Stelle den Namen gab, und von wo die Römerbrücke über den Fluß führte. Augenscheinlich war unser Zürich schon dazumal der wichtigste Platz in unserem Lande. Aber schon befanden sich in seiner Nähe viele römische Niederlassungen. Auf der Kuppe des Ütliberges erhob sich ein römischer Wachtturm, der vorn Zentrum auf dem Lindenhof aus besetzt und unterhalten wurde. Trotz dieser Kultur und des angebahnten Verkehrs müssen in Zürichs Nähe noch große, dichte, ungelichtete Waldungen mit viel Wild, selbst gefährlichen Bären, zu finden gewesen sein. Denn aus einer Inschrift zu schließen, muß es da wahrscheinlich Bärenjäger gegeben haben, welche in Fallgruben oder vermittelst starker Netze lebendige Bären einsingen und an die Geschäftsleute verkauften, weiche die Lieferung der wilden Tiere für die Tierhetzen in den Amphitheatern übernahmen. Die Helvetier nahmen vielfach Anteil an der römischen Kultur, und wenn auch ihre einfachen und ärmlichen Lehmhütten stark abstachen gegen die glänzenden Villen der Römer, so nahmen sie doch manchen Luxus von ihnen an. Mit dem 3. und 4. Jahrhundert änderte die Szenerie. Die römische Herrschaft wurde bedroht durch die von Norden anstürmenden, germanischen Völkerschaften, besonders die kriegerischen Alemannen. Öftere Einfälle und Raubzüge derselben offenbarten den Römern ihre gefährdete Lage und stachelte sie zu energischen Verteidigungsmaßregeln auf. Seit zirka 250 n. Chr. wurde der Rhein wieder zur Grenzwehr; das Militär zog sich vorn germanischen Grenz- wall in die verlassenen Kastelle und Lagerplätze unseres Landes 54 zurück. Alte Kastelle wurden verstärkt (Ober-Winterthur) und hie und da neue Schutzwehren gebaut. Aus dieser Zeit stammt das merkwürdige, in seinen Fundamenten bloßgelegte Kastell zu Irgen- hausen, östlich vorn Pfäffikonersee, ein Bau wahrscheinlich aus der zweiten Hälfte das vierten Jahrhunderts, mit Mauern von zwei Meter Dicke und bewehrt von nicht weniger als acht Türmen, je vier in den Ecken und vier in den Mitten der Seiten. Wahrscheinlich diente dieses eigenartige Fort zum Schutze der zahlreichen, in dortiger Gegend befindlichen Siedelungen und der Straße, die von Vitudurum gegen das heutige Rapperswil hinführte, sowie des Zuganges zu den rätischen Pässen. Alle diese Maßregeln hatten auf die Dauer keinen Erfolg. Wie sehr die Furcht vor den wilden, räuberischen Barbaren die Leute beherrschte, davon geben die zahlreichen, mit römischen Münzen gefüllten Töpfe Zeugnis, die man in der Erde vergraben fand. Verzweifelt war nun wieder das Ringen am Rhein. Hinüber und herüber wogten Kampf und Erfolg. Die Überreste römischer Bauten zeigten mitunter eine mehrfache Zerstörung; zuletzt blieb nur der kleinste Teil von Ansiedelungen noch zurück. Die Bevölkerung zog meist ab, und das Land bewahrte nach diesen Kämpfen den Charakter der Verwüstung und Verödung. Ende des vierten Jahrhunderts hören die Spuren der Lebenstätigkeit der Römer in unserem Lande auf. „Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich“. Von Karl Dändliker. Druck und Verlag von Schultheß & Cie., Zürich. 17. Weltanfang und Weitende. Ungeheure Abgründe, „gaffende Gähnungen“, waren der Uranfang aller Dinge. Am äußersten Ende dieser Klüfte lag hoch im Norden Niflheim, wo schaurige Kälte und Dunkelheit herrschte; am entgegengesetzten Ende, im Süden, aber glutete die lodernde Flammenwelt Muspelheim. — Im geheimnisvollen Niflheim war ein ewigsprudelnder Brunnen, von dem sich zwölf Ströme in die unermeßlichen Gähnungen ergossen. Aber die Kälte gewann Macht über die Wasser, daß sie gefroren und die Abgründe mit Eis ausfüllten. Nun war eine feste Welt da, aber noch regte sich kein Leben auf ihr, nur Sturm und Wasser brausten von Niflheim über sie hin. Einst flog ein Funke des ewigen Feuers in Muspelheim herüber in die Eisgefilde, welche die Gähnungen ausfüllten. Wo 00 er niederfiel, schmolz die starre Masse, und riesengroß erhob sich das erste lebende Wesen. — Das war Ymir, der Urriese. Bald kam ein zweiter Funke aus Muspelheim herangeflogen, und aus dem Eise entstand eine Kuh, von deren Milch der Riese sich nährte. Als er sich zum Schlafe niedergelegt hatte, entstanden aus seinen Schultern und Gliedern neue Riesen, die Frost-, Sturm- und Feuerriesen, Vermenschlichungen der ungezügelten Naturgewalten. Aber aus dem Salze des Eises, das aus dem Meerwasser entstand, bildete sich ein neues, geistiges Wesen; denn das Salz ist das Sinnbild aller geistigen Kraft. Der Sohn dieses Wesens war Wodan. Von den Eisgründen hinweg schwang er sich in den blauen Äther, wo er ein Götterreich gründete, das sich zahlreich bevölkerte. Mit Staunen und Schrecken sahen die Riesen dem Werden der Götter zu. Sie fühlten sich im Besitze der Welt bedroht, und darum stürmten sie gegen Wodan, um ihn von seinem Himmelsthron zu stürzen. Aber die Götter erschlugen die Riesen. Aus dem Leichnam Ymirs schufen sie die Erde, die sein Blut als Meer um- floß; seine Knochen wurden zu Bergen aufgetürmt, die seiner Haare wirrer Wald dicht bestand. Die Zähne und Kinnbacken rückten die Götter als scharfe Klippen und Felsen ins Meer hinaus, die Augenbrauen zogen sie als Schutzmauer um das Land, das nun geschützt zwischen dem Reich der Riesen und dem der Götter lag; darum hieß es Midgard (Garten der Mitte). Über das Ganze deckten sie des Riesen Hirnschale, daraus die Wölbung des Himmels sich formte. Dann sammelten die Götter die Funken, die immer noch aus Muspelheim aufsprühten und bildeten die Sonne und den Mond und die Sterne am Himmelsbogen. Aus der Ulme und der Esche erschuf zuletzt Wodan das erste Menschenpaar. Hoch aber über der blauen Himmelswölbung breitet sich das Heim der Götter, Asgard geheißen, wo sich Wodans Walhalla erhebt. Eine lichte Brücke, der Regenbogen, führt von der Erde hinauf; da schreiten die Götter oder Äsen nach Gefallen auf und nieder, aber kein Irdischer kann sie betreten; denn ein Feuerstreif lodert in der Mitte, den niemand, außer den Göttern, unversehrt, betritt. Erhaben thront hier Allvater Wodan, in einen blauen Mantel gehüllt, auf den sein schimmernder Bart lang und breit hernieder- wallt. Auf seinen Schultern sitzen zwei Raben (Gedanke und Erinnerung heißen sie), die er täglich aussendet, die Zeit zu erforschen, und was sie auf ihrem Weltfluge erfahren, raunen die Zurückge- kehrten dem lauschenden Gotte ins Ohr, daß er die Geschicke der Menschen und Völker erkenne und richtig leite. Von der Erde ragt die „Weltesche“, deren Wipfel hoch über Asgard sich wölbet. Mit drei ungeheuern Wurzeln haftet sie in den gähnenden Gründen, aus deren Vereisung einst die Welt entstand. Unter diesen Wurzeln sprudelt ein ewiger Brunnen, der Uranfang alles Lebens; die Nomen, drei ernste Schwestern, hüten ihn; sie kennen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, und mit geheimnisvollen Fäden spinnen und weben sie die Geschicke der Götter und Menschen*. In den laubigen Zweigen des Wipfels reifen goldrote Äpfel, deren Genuß den Göttern ewige Jugend, Schönheit und Kraft gibt. Einst aber wird der Weitenbaum fallen; denn ein heftiges Einhorn sucht ihn nagend zu stürzen; sein Untergang kommt unabwendbar, wenn die Schuld Macht gewinnt über die Unschuld. Umsonst wähnten die Götter, der Riesen Geschlecht sei ausgerottet. Einer von ihnen hatte sich bei Ymirs Tode doch gerettet und in den Öden Nillheims ein neues Geschlecht gegründet. Aus ihren Hinterhalten stürmten diese neuen Riesen gegen die Himmelsburg Wodans. In den schweren Kämpfen gegen sie griffen die Götter, um sich den Sieg zu sichern, zu Hinterlist und Trug und verstrick ten sich so selbst in Schuld und Fehle. Von nun an herrschten Eidbruch u nd Mord in der Welt, wo das Böse rasch überhand nahm. Schon warf es seinen Schatten nach Asgard; es verdunkelte den Lichtglanz Baldurs, des fehllosen Sohnes Wodans, des Lieblings der Götter und Menschen Schwere Träume über das Schicksal seines Lieblings ängstigten den Allvater. In nächtlicher Stille stieg er tief in die Erde hinab zu dem Lebensbruunen an der Wurzel des Welt- eschenbaumes, wo die Nomen woben das Walten der Welt, um von diesen zu erfragen des Sohnes Los. Eines seiner Augen mußte er opfern, ehe er Antwort erhielt. Nun kündeten ihm die Seherinnen den nahen Tod Baldurs und den Untergang des Göttergeschlechtes. Während Wodan bei den Nomen weilte, machte sich Freia. seine Gemahlin, auf, um über die ganze Welt zu schreiten und alle Dinge in Eid zu nehmen, daß sie Baldurs Leib nie verletzen wollten. Nur ein Ding, die kleine Mistelstaude, vergaß sie dabei. Einer dei Götter, der böse, zwiespältige Feuergott Loki, hatte das erkundet, und bei einem Spiele der Götter tötete er damit den arglosen Baidur * Die Erinnerung an die drei Nomen bat auch das Kinderlied: „Rite rite Rößli“, sowie manches Märchen, z. B. die 3 Spinnerinnen, aufbewahrt. 57 Als Wodan wieder zurückkam, war das Unheil, das er abwenden wollte, schon geschehen. Was nützte es nun, daß sie den treulosen Loki auf drei scharfkantige Felsen schmiedeten und eine ungeheure Giftschlange über seinem Haupte befestigten, deren fressendes Gift ihm ins Antlitz tropfte? Sein treues Weib fing die Gifttropfen in einer Schale auf, die sie leerte, wenn sie gefüllt war. Dann freilich brannten die giftigen Eitertropfen wie Feuer im Antlitz Lokis, und er sträubte sich in wütendem Schmerz, daß die ganze Erde schlitterte; das war dann Erdbeben. Alle Zeichen deuteten darauf, daß die Macht der Riesen wuchs. Die goldenen Apfel am Weitenbaum, die den Göttern Kraft und immerwährende Jugend gaben, fielen ab in der eisigen Nachtluft, welche die Reifriesen herausbrachten. Von Mitternacht stieg heran die kalte Nacht, die alles Leben in Schlaf versenkte. Dann kam der schreckliche Fimbulwinter mit seinen rauhen Stürmen, die in ihrem Gestöber Sonne und Mond verschlangen. Da bebte die Erde, und die Berge stürzten ein, und alle Feinde der Götter wurden frei; das Ende der Lichtasen, die Götterdämmerung, brach herein. Ein grimmwütender Kampf entspann sich zwischen den Göttern und den Riesen, die auf der goldenen Brücke das Himmelstor stürmten. Donar, der Blitzschleuderer, fällt, es fallen Ziu und die übrigen Götter, zuletzt auch Allvater Wodan. Da schleudert der Feuerriese Lohen über die Welt, schwarz wird die Sonne, ins Meer sinkt die Erde, vorn Himmel schwinden die heiteren Sterne. Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum; krachend stürzt er zusammen. Das ist der Welt Ende. Nach der Edda und Amerlan. 18. Grenzwache. Auf der Berghohe stand an dem Verhau, der die Wälder der Thüringe von den Katten schied, der junge Wächter und hütete den steilen Pfad, welcher aus den Gründen der Katten nach der Höhe führte. Er trug den Wurfspeer in der Hand, auf dem Rük- ken am Riemen ein langes Horn; nachlässig lehnte er am Baum und horchte auf die Stimmen des Waldes. Plötzlich bog er sich vor und lauschte; auf dem Pfad vor ihm klang leiser Fußtritt, durch das Baumlaub wurde die Gestalt eines Mannes sichtbar, der mit schnellem Schritt zu ihm heraufstieg. Der Wächter drehte den Riemen des Horns und faßte den 58 Speer zum Wurfe; als der Mann aus dem Gehölz auf den freien Grenzrand trat, rief er ihn an, die Spitze des Wurfspeers entgegenhaltend: „Steh, Waldgänger und sage den Spruch, der dich von meinem Eisen löst!“ Der Fremde schwang sich hinter den letzten Baum seiner Seite, streckte die geöffnete Rechte vor sich und sprach hinüber: „Ich grüße dich friedlich, ein Landfremder bin ich, unkundig der Losung! Weit komm’ ich her über Berg und Tal, ich suche das Gastrecht in deinen Höfen.“ — „Bist du ein wald- fremder Mann, so mußt du harren, ,bis meine Genossen dir das Land öffnen. Unterdessen gib mir Frieden und nimm ihn von mir“, sprach der Wächter. Die beiden Männer hatten einander mit scharfen Augen beobachtet, jetzt lehnten sie ihre Speere an die Grenzbäume, traten in den freien Raum und boten sich die Hände. Beim Handschlag prüfte einer des andern Antlitz und Geberden. Dann hob der Wächter sein Horn an den Mund und blies einen lauten Ruf in die Täler seines Volkes. Die wilden Klänge tönten im Widerhall der Berge. Drunten um die Hütten in der fernen Lichtung wurde eine Bewegung sichtbar; nach kurzer Zeit eilte ein Reiter der Höhe zu. Während ihn die beiden Männer beim Verhau erwarteten, tauschten sie Worte über Herkunft und Volksgebräuche. Da trabte der Reiter heran, der Wächter übergab ihm Horn und Speer und bot das neue Pferd dem Fremden an. Dann wandten sie sich dem Tale zu. G. Freitag. 19. Auszug aus der Heimat. In den jungen Männern der Walddörfer des Gaues regte sich die Reiselust, als die Reiser der Bäume vorn Safte schwollen und das junge Laub aus den Knospen brach. Es war ein heimliches Summen in den Höfen, und frische Gesellen hielten im Waldver- steck stillen Rat; denn nicht die Alten und Weisen hatten den Auszug geboten, und nicht die heiligen Opfer sollten ihn weihen, nur Unzufriedene lösten sich von der lieben Heimat willkürlich und auf eigene Gefahr, weil ihnen der Sinn nach bessern Landlosen stand. Anfangs waren nur wenige entschlossen, ihr Glück in der Fremde zu suchen, bald aber ergriff die Sehnsucht auch andere, jüngere Söhne ehrbarer Leute, neben ihnen wilde Gesellen und Waldläufer, die sich lieber rauften als bauten; auch mancher Hausvater, dem die Nachbarn gehässig waren, zog mit. Einzeln und mit wenig Geräusch wollten sie aufbrechen, um sich jenseits der Gaugrenze zu geordnetem Zuge zu sammeln. Im ersten Morgenlicht standen die Wagen mit Saatkorn und Hausrat bepackt. Über dem festen Bohlengefüge spannte sich die Decke von Leder, die gejochten Rinder brüllten, Frauen und Kinder trieben das Herdenvieh hinter dem Wagen zusammen, und große Hunde umbellten das Fuhrwerk. Die Geschlechtsgenossen und Nachbarn trugen zum Abschied herzu, was als Reisekost diente oder ein Andenken an die Heimat sein konnte. Durchaus nicht fröhlich war der Abschied, auch dem mutigen Manne bangte heimlich vor der Zukunft. Unsicher war, ob die Götter der Heimat auch in der Fremde Schutz gewährten. Auch die Kinder fühlten das Grauen, sie saßen still auf den Säcken, und die Kleinen weinten. Mit der aufgehenden Sonne erhoben sich die Fahrenden, der älteste des Geschlechts sprach den Reisesegen, und alle flehten murmelnd um gutes Glück. Die andern Dorfleute aber, welche daheim blieben, blickten scheu auf die Wanderer wie auf verlorene Menschen. Die Wagen bewegten sich knarrend zu den Bergen; von der Höhe sahen sie noch einmal nach dem Lande der Vater zurück; mancher unzufriedene Geselle warf auch einen Fluch zurück wider seine Feinde, die ihm die Heimaterde verleidet hatten. Dann nahm der Bergwald alle auf. Mühsam war die Fahrt auf den holprigen Wegen, in welche das Schneewasser tiefe Furchen gerissen hatte. Oft mußten die Männer von den Rossen steigen und mit Haue und Spaten die Bahn fahrbar machen; wild erscholl Ruf und Peitschen- schlag der Treiber, die Knaben sprangen hinter den Wagen und hemmten den Rücklauf durch Steine, und doch zerrten die Tiere machtlos, bis ein Gespann dem andern half oder Männer und Frauen die starken Schultern an die Räder stemmten. War die Reise wegsamer, dann umritten die Männer spähend den Zug mit gehobener Waffe, bereit zum Kampf gegen Raubtiere oder rechtlose Waldläufer. Als die Wanderer nach der ersten Tagfahrt ein einsames Waldtal erreichten, bereiteten sie sich zur Nachtruhe. Die Zugtiere wurden abgeschirrt, die Wagen zu einer Burg zusammengestoßen und im Ringe herum die Nachtfeuer auf zusammengetragenen Steinen entzündet. Während die Haustiere weideten, von bewaffneten Jünglingen und von Hunden gehütet, bereiteten die Frauen die Abendkost; die Männer schlugen aus Stangenholz den nächtlichen Pferch für die Herde und verteilten die Wachen. Als 60 das Nachtmahl beendet, wurden die wertvollsten Rosse und Rinder im Wagenring gesammelt und die schlaftrunkenen Kinder und die Frauen unter dem Lederdach geborgen. Die Männer hüllten sich in Decken und legten sich an die Feuer oder unter die Wagen. Es wurde stiller, nur der Wind blies von den Bergen, die Wächter umschritten den Wagenring und den Pferch und warfen zuweilen Holzscheite in die lodernden Feuer. Aber unablässig bellten die Hunde; denn aus der Ferne klang heiseres Geheul, und um den Flammenring trabten gleich Schatten im aufsteigenden Nebel die begehrlichen Raubtiere. So zogen sie tagelang durch den Bergwald; der Regen rann auf sie nieder, und der Wind trocknete ihnen die durchnäßten Kleider. Dann durchführen sie eine Grenzwildnis, unfruchtbare Kieshöhen mit knorrigen Kiefern. Niemals hatte ein Siedler hier einen Hof gebaut, selten war hier der Schlag einer Axt erklungen; unheimlich lag der öde Strich. Aber jenseits des Kiefernwaldes sahen die Wanderer von der Höhe freudig in ein weites Tal, das mit ansehnlichen Hügeln und dichtem Laubwald eingefaßt war. Dort hofften sie eine neue Heimat zu finden. Nach wenigen Tagereisen kamen sie hin, und das Volk, das hier wohnte, nahm sie auf. Die Scharen stiegen einen Berg hinauf, wo ein Opferstein war. Um den sammelten sich die Männer des Tales und die neu Angekommenen. Zweimal drei Stiere wurden den guten Göttern an den Stein geführt, drei für jedes Volk. Über dem Opferkessel banden sich die Männer zu einem Bunde und gelobten einander Treue. Nach G. Freitag: „Ingo“. Verlag von 8. Hirzel, Leipzig. 20. Attila. Ein stattlicher Zug von Reitern, Wagen und Fußgängern fuhr eines Tages gen Norden in das Hunnenreich. Als Wegführer schwärmte ein hunnisches Reitergeschwader voraus auf kleinen, zottigen, mageren, aber unermüdlich ausdauernden Pferden. Langsam rückte der Zug vorwärts; denn die schwerfälligen Wagen kamen nur mühselig von der Stelle, obwohl jedes Gefährt von sechs, acht, zehn Maultieren gezogen ward. Die Wagen waren alle hochbeladen und mit eisernen Riegeln und Schlössern versichert. Breite Siegel waren über den Schlüssellöchern und an den Ver- schnürungen der Lederdecken angebracht. Neben den hochräderigen Wagen schritten wohlgewaffnete Krieger; in tiefem Schweigen 61 gingen sie und spähten wachsam in die Runde. Sie bewachten den Tribut, den der oströmische Kaiser Attila zu entrichten hatte. Auf dem Landstreifen zwischen Bodrog und Theiß hatte Attila sein Standlager; denn eine Stadt konnte man es nicht nennen. Der Palast war aus Holz, das in grellen Farben lackiert war, und glich einem kolossalen Zelt, dessen Stil wahrscheinlich aus Sina, dem Seidenland, geholt war. Die Einrichtung schien von allen Völkern und allen Ländern zusammengestohlen zu sein, viel Gold und Silber, seidene und samtene Behänge, römische Möbel und griechische Gefäße, gallische Waffen und gotische Gewebe. Es glich der Wohnung eines Räubers, und das war es auch. Hinter der Unzäunung des Palastes begann das Lager mit seinen verräucherten Zelten, und es waren ebensoviel Pferde wie Menschen da. Außerhalb des Lagers weideten Herden von Schweinen, Schafen, Ziegen und Rindern, lebender Proviant für diese unerhörte Herde, die nur verzehren, aber nichts hervorbringen konnte. Tausende von kleinen Menschen mit krummen Beinen und breiten Schultern, in Rattenfelle gekleidet und die Waden mit Lumpen umwickelt, bewegten sich in diesem Lager. Neugierig blickten sie aus den Zelten heraus, wenn Fremdlinge angeritten kamen. Waren das Menschen? Sie hatten ja keine Gesichter; die Augen waren Löcher, und der Mund war eine Schnarre; die Nase war von einem Totenschädel und die Ohren waren Topfhenkel. Vor diesen Halbnackten, die keinen Harnisch und keinen Schild hatten, waren die römischen Legionen geflohen. Es waren Kobolde, die sich „fest“ machen konnten. — Die Gesandten hatten gehofft, sofort vor den mächtigen Herrscher geführt zu werden. Aber sie erhielten den Bescheid, Attila jage in den Sümpfen Wisent und Ur; denn, habe er gesagt, „Der Kaiser kann warten, aber meine Jagdlaune nicht.“ So mußten sie sich zufrieden geben. Nach einiger Zeit ertönte plötzlich in der Ferne der laute, schrille Ruf des Hifthorns, das die Rückkehr der Jagdgesellschaft ankündigte. Das ganze Lager geriet in Bewegung, vergleichbar einem Ameisenhaufen, der aufgestört wird. Dem Zuge voran ritt ein dichter Haufe hunnischer Reiter. Ein Wams aus ungegerbten Pferdehäuten deckte Brust und Rücken; Arme und Beine waren nackt. Um die Ferse war ein Riemen geschnürt, der den aus einem starken, spitzen Dorn bestehenden Sporn festband. Die Haut an Gesicht, Hals, Armen und Beinen war braun wie gebeiztes Holz:. 62 denn nie wurde der Staub der Steppe abgespült. Das schmutzige, braune Haar hing in langen, dichten Strähnen ins Gesicht; es glänzte und roch weithin; denn die Frauen hatten es mit Pferdetalg eingerieben. Die Wimpern waren schwarz und kurz, die Braunen fehlten den schmalen, geschlitzten Augen fast völlig; die Backenknochen waren spitz und häßlich vorstehend. Nur am Kinn starrte ein Bästehen von steifen, borstenartigen Haaren wagrecht hinaus. Alle Reiter trugen als Waffen den Langbogen und kleine, schwarze Bolzen von Rohr oder Holz, deren Spitze durch Tauchen in den Saft der Tollkirsche oder des Bilsenkrautes vergiftet war; auch trugen sie Lanzen, unter deren Spitzen ein Büschel Menschenhaare flatterte, die mit einem roten Band zusammengeschnürt waren, und eine mörderische Geißel aus fünf bis neun Strängen vorn stärksten Büffelieder. In diese Stränge waren faustdicke Lederknoten geschürzt, in welche Bleikugeln oder Steine eingenäht waren. „At- tila a nannten die Völker diese furchtbare Waffe. — Auf diesen Vortrab folgten in großer Zahl, ebenfalls zu Pferde, hunnische, germanische, slavische Fürsten; die Hunnen starrend und klirrend von Gold und funkelnd und blitzend in dem hellen Schein der Sonne. Hinter ihnen, in beträchtlichem Abstand, ritt ganz allein Attila auf prachtvollem Rapphengst, fast ohne allen Schmuck, auch er hatte Arme und Beine unbedeckt. Die Hunnen jauchzten ihm zu, — es tönte, wie wenn Wölfe heulen. Hinter dem Herrscher kam eine zweite Schar von Fürsten aus allen unterworfenen Völkerschaften seines Reiches, dann folgten wieder Lanzen reite r, welche die große Jagdbeute überwachten. Ein riesiger, von Attila gefällter Auerochs, Bären, Wölfe, Elche, Hirsche, Eber, Luchse, Reiher und Kraniche wurden auf Karren heimgeführt. Die Hunnen vollführten allerlei Reiterkünste. Da sprang einer vorn Roß, holte es im Sprung ein und schwang sich wieder auf den Rücken. Dort faßte einer mit der Linken die Mähne, mit der Rechten den Schweif und hielt sich so wagrecht längs der Seite des Tieres. Ein anderer sprang aus der Herstellung auf den sattellosen Rücken des Pferdes, ein vierter umklammerte mit beiden Füßen Bauch und Rücken des Pferdes und ließ den Kopf nach unten hängen. Wieder ein anderer schoß reitend eine Schwalbe aus der Luft herunter. Der Zug war im Lager. Attila sprang vorn Pferd auf den Nacken eines niedergeknieten Slavenfürsten, der heute diesen Dienst zu versehen hatte. Nach „Attila“ von Dahn und Strindberg 63 21. Hünengräber. Im grünen Eichkamp auf trutzigen Höh’n, Wo die Nebelwolken, die grauen, Mit feuchtem Odem vorüberweh’n, Sind Hünengräber zu schauen. Da schmiegt sich der Ginster auf bröckelnder Lei An des Heidekrauts dunkeln Nacken, Und der Habicht kreiset mit heiserem Schrei Hoch über dem B'elsenzacken. Hier deckt die Erde manch tapferen Held, Der Brust an Brust einst gerungen, Mit wuchtigen Streichen die Feinde gefällt Und kühn die Streitaxt geschwungen. Da bebte der Boden, gepeitscht vorn Huf Der Rosse, da krachten die Schilde, Da klang der Führer gewaltige Ruf Durch weite Gefilde. Da floß in rauchenden Strömen das Blut, Als stünde das Weltall in Flammen, Und in den Fluten und in der Glut, Da stürzten die Reiche zusammen. — — — Heut spielt die Frühlingsonne im Ried, Die Blätter raunen ganz leise sich Zu ein halb verklungenes Lied In märchenhaft seltsamer Weise: Wenn nahet der Herbst mit dem Reife der Nacht Und den prasselnden Hagelschlossen, Dann pocht’s an die Gräber, dann ruft es: Erwacht, Erwacht, Ihr Kampfesgenossen! Und die Toten im Grunde beleben sich, Da hilft kein Zaudern, hilft kein Säumen, Und die Riesenleiber heben sich, Und die Rosse wiehern und schäumen. Sie jagen dahin in rasendem Flug, Die Schwerter rasseln. Wie Wetterwolken wälzt sich der Zug Vorn Berge hinab bis zum Meere. Wo die Brandung tobt und die Sturmflut dräut, Da rasten die Scharen, die bleichen, 64 Da liegen noch Trümmer am Boden zerstreut Von Wodans geheiligten Eichen. Und sie grüßen die Stätte mit jubelndem Laut Und küssen die heilige Erde, Bis der Tag erwacht, bis der Morgen graut, Und steigen dann wieder zu Pferde. Und die Schatten flieh’n und zerstäuben im Wind Wie auf sturmgetragenen Flügeln Zurück, zurück, wo die Gräber sind, Zu den moosbewachsenen Hügeln. Und wieder erstürben ist jeder Laut, Wenn der Tag beginnt sich zu lichten. Fragt das Heidekraut, Das kennt die alten Geschichten. Otto Hausmann. 22. Die Herzogin von Schwaben im Kloster St. Gallen. 1. Ankunft. Von ihrer Burg Hohentwiel fuhr im lichten Schein eines Frühmorgens Hadwig, die gestrenge Herzogin von Schwaben, nach dem Bodensee. Über die kristallklare Fläche brachte sie ein beflaggtes Schiff ans Ufer von Borschach. Von da aus ritt sie mit ihrem Gefolge nach dem Kloster St. Gallen. Auf dem Torturm stand der Wächter, wie immer, treulich und aufrecht im mückendurchsummten Stüblein. Wie er durch den nahen Tannenwald Roßgetrabe hörte, spitzte er sein Ohr nach dieser Richtung. „Acht oder zehn Berittene!“ sprach er nach prüfendem Lauschen. Er ließ das Fallgitter vorn Tor herunterrasseln, zog das Brücklein, das über den Wassergraben führte, auf und langte sein Horn vorn Nagel. Und weil sich einiges. Spinnweb drin festgesetzt hatte, reinigte er dasselbe. Jetzt kamen die vordersten des Zuges am Waldsaum zum Vorschein. Da ergriff der Wächter sein Horn und blies dreimal hinein. Es war ein ungefüger, stiermäßiger Ton. Der jagte im stillen Kloster die jungen, neugierigen Gesichter der Schüler an die Fenster und die Mönche von den Betten, wo sie nach dem Gebot des Ordens sich dem Mittagsschlummer hingegeben hatten. Auch der Abt Cralo sprang aus seinem Lehnstuhl zum offenen Söller und schaute hinab. Nicht gering war sein Schrecken, als er seine Base, die Herzogin, erkannte. Sofort ordnete er seine Kutte, sein Haar, hängte das goldene Kettlein mit dem 65 Klostersiegel um, nahm seinen Abtstab und stieg hinab in den Hof. Die Herzogin, die schon ungeduldig geworden war, begehrte Einlaß. Aber der Abt entschuldigte sich, daß nach der Klostersatzung kein Weib den Fuß über des Klosters Schwelle setzen dürfe. Doch die Herzogin bestand auf ihrem Begehren. Da schritt der Abt zurück, um die heikle Sache der Ratsversammlung der Brüder vorzutragen. Fünfmal erklang jetzt das Blockiern von der Kapelle neben der Hauptkirche. Lautlos kamen die berufenen Brüder; die Beratung ward stürmisch, lange redeten sie hin und her. Da hob sich unter den Jungen einer, der hieß Ekke- hard und erbat das Wort. Er sprach: „Die Herzogin ist des Klosters Schirmvogt und wenn keine Frau den Fuß über des Klosters Schwelle setzen darf, kann man sie ja darüber tragen.“ Da heiterten sich die Stirnen, beifällig nickten die Kapuzen und Ekkehard ward gewählt zum Vollstrecker des eigenen Rates. Abt Orale eröffnete der Herzogin die Bedingung, die auf den Eintritt gesetzt ward. Sie war damit einverstanden, und mit starkem Arm trug Ekkehard sie über die Schwelle. Weil aber kein weltliches Wesen in den Klosterräumen weilen sollte, nahm der Abt aus einer geöffneten Truhe im Gang eine funkelneue Kutte und sprach: „So ernenne ich des Klosters Schirmvogt zum Mitglied und Bruder und schmücke ihn mit des Ordens Gewandung.“ Die Herzogin fügte sich. Das Gefolge mußte sich der gleichen Umwandlung unterziehen. 2. Im Kloster. Als Frau Hadwig am Grabe des heiligen Gallus ihre Andacht verrichtet hatte, mußte ihr der Abt des Klosters Schmuck, Zierat und prächtige Gewandung zeigen. Er ließ die gebräunten Schränke öffnen; da war viel zu bewundern an purpurnen Meßgewändern, an Priesterkleidern mit Stickereien und gewirkten Darstellungen aus heiliger Geschichte. Hernach wurden die Truhen aufgeschlossen; da glänzte es vorn Schein edler Metalle, silberne Ampeln gleißten herfür und Kronen, Streifen getriebenen Goldes zur Einfassung der Evangelienbücher; Mönche hatten sie, ums Knie gebunden, aus welschen Landen über unsichere Alpenpfade gebracht. Köstliche Gefäße in seltsamen Formen, Leuchter in Delphinengestalt, Leuchttürmen gleich, Weihrauchbehälter und viel anderes war da — ein reicher Schatz. Auch ein Kelch von Bernstein war dabei, der schimmerte lieblich, so man ihn ans Licht hielt. Dann lenkten die Herzogin und der Abt ihre Schritte in den Klostergarten. Der war weitschichtig angelegt und trug an Kraut GesehichtsIehrmitteJ. II. 5 66 und Gemüse viel nach Bedarf der Küche, zudem auch nützliches Arzneigewächs und heilbringende Wurzeln. Beim Baumgarten war ein großer Raum abgeteilt für wild Getier und Gevögel, wie solches teils in den nahen Alpen hauste, teils als Geschenk fremder Gäste dem Garten verehrt war. Da erfreute sich Frau Hadwig am ungeschlachten Wesen der Bären, daneben erging sich ein kurzuasiger Affe, der mit einer Meerkatze zusammen an einer Kette durchs Leben tollte. Ein Steinbock stand in seines Raumes Enge, er senkte sein Haupt still und geduckt. In anderm Behältnis waren dickhäutige Dachse. Wieder anderswo lief ein Rudel Murmeltiere den Ritzen zwischen künstlich geschichteten Felsen zu. Dort standen Kraniche und Reiher und ein schmucker Silberfasan, der sein perlgrauglänzendes Gefieder im Sonnenschein wiegte. — Herr Cralo führte seinen Gast nach seinen Gemächern. Sie kamen an einem Gelaß vorbei; des Tür war offen. An kahler Wand stand eine niedere Säule, von der in halber Manneshöhe eine Kette niederhing. Über dem Portal war in verblaßten Farben eine Gestalt gemalt, sie hielt in magern Fingern eine Rute. Frau Hadwig warf dem Abt einen fragenden Blick zu. „Die Geißelkammer!“ sprach er. Wer gegen die Ordensregel fehlte, ward an die Säule gebunden und nach Ausziehung der Oberkleider mit den Büß Werkzeugen, die ihrem Range nach an der Wand hingen, von der einfachen „Wespe“ bis zum neunfältigen „Skorpion“ hinauf gegeißelt. 3. Mahlzeit im Kloster. Nachdem die Herzogin ihren Rundgang durch das Kloster gemacht hatte, ruhte sie in einem einfachen Lehnstuhl vorn Wechsel des Erschauten aus. Es war noch eine Stunde bis zum Abendimbiß. Jeder Bewohner des Stiftes fühlte, daß einer Frau Huldigung gebühre. Dem grauen Tutilo, der am liebsten vor der Schnitzbank saß und wunderfeine Bildwerke in Elfenbein schnitzte, war es aufs Herz gefallen, daß der linke Ärmel seiner Kutte mit einem Loch geschmückt war, jetzt besserte er den Schaden, mit Nadel und Zwirn auf seinem Schrägen sitzend; sonst wär’s wohl bis zum nächsten hohen Feiertag ungeflickt geblieben. Und weil er gerade im Zug war, legte er auch seinen Sandalen eine neue Sohle an und festigte sie mit Nageln. Er summte eine Melodei, daß die Arbeit besser gedieh. In einer andern Zelle saßen der Brüder sechs unter dem riesigen Elfenbeinkamm, der an eiserner Kette von der Decke herabhing. Die vorgeschriebenen Gebete murmelnd, erwies einer dem andern den Dienst sorglicher Glättung des Haupthaares. 67 Jetzt läutete das Glöckleiu; es war der Ruf zur Abendmahlzeit. Abt Orale geleitete die Herzogin ins Refektorium (Speisesaal). Sieben Säulen teilten den luftigen Saal hälftig ab; an vierzehn Tischen standen des Klosters Mitglieder. Abwechselnd hatte jedes eine Woche lang das Amt des Vorlesers vor dem Imbiß zu übernehmen. Diese Woche stand es bei Ekkehard. Nun erhob er seine Stimme und begann einen Psalm zu lesen. Dann gab der Abt das Zeichen, daß sich männiglich zu Tische setze. Die Mahlzeit begann. Zuerst erschien ein dampfender Hirsebrei, wie er für gewöhnliche Tage vorgeschrieben war. Heute aber folgte Schüssel auf Schüssel, bei mächtigem Hirschziemer fehlte der Bärenschinken nicht, sogar der Biber vorn obern Fischteich hatte sein Leben lassen müssen; Fasanen, Rebhühner, Turteltauben und kleinere Vogel folgten, der Fische aber eine unendliche Auswahl. Dem Kämmerer der Herzogin, der ein großer Trinker war, hatte man Veltliner aufgestellt, den der Bischof von Chur dem Kloster gespendet hatte. Der stattliche Nachtisch, auf dem Pfirsiche, Melonen und trockene Feigen geprangt hatten, war verzehrt. Lebhaftes Gespräch an den Tischen deutete auf nicht unfleißiges Kreisen des Weinkrugs. Dann zupften und nötigten einige an Tutilo; sie wollten ein schönes Lied anstimmen. Wie er endlich nickte, stürmten etliche hinaus; bald kamen sie wieder mit Instrumenten, Der brachte eine Laute, jener eine Geige, worauf nur eine Saite gespannt war, ein anderer eine Art Hackbrett mit eingeschlagenen Metallstiften, wiederum ein anderer eine kleine, zehu- saitige Harfe. Und sie reichten ihm den Taktstock von Ebenholz. Da erhob sich lächelnd der greise Künstler und gab ihnen das Zeichen zu einer Musik, die er selbst in jungen Tagen aufgesetzt hatte; mit Freudigkeit hörten’s die andern. Zu unterst am Tische aber saß ein stiller Gast mit blaßgelbem Angesicht und schwarzkrausem Gelock. Er war aus Welschland und hatte von des Klosters Gütern im Lombardischen die Saumtiere mit Kastanien und Öl herübergeleitet. In wehmütigem Schweigen ließ er die Flut der Töne über sich erbrausen. Dann erhob er sich und schlich leise von dannen. Es hat’s keiner im Kloster zu lesen bekommen, was er in jener Nacht noch ins Tagebuch seiner Reise eintrug: „Wahrhaft barbarisch ist die Rauheit solch abgetrunkener Kehlen; wenn sie einen sanften Gesang zu ermöglichen suchen, klingt es wie das Fahren eines Wagens, der in der Winterszeit über gefrorenes Pflaster dahin knarrt.“ 68 Endlich sprach die Herzogin: „Es ist Zeit, schlafen zu gehen!“ und ging mit ihrem Gefolge nach dem Schulhaus hinüber, wo ihr Nachtlager sein sollte. 4. In der Klosterschule. Als der Abt die Herzogin durch den Garten geleitet hatte, kamen sie an einen Apfelbaum, worauf ein Bruder Apfel pflückte, die er in Körbe sammelte. Da ertönte es wie Gesang zarter Knabenstimmen. Die Zöglinge der innern Klosterschule kamen heran, der Herzogin ihre Huldigung zu bringen; blutjunge Bürschlein, trugen sie bereits die Kutte, und mancher hatte die Tonsur aufs elfjährige Haupt geschoren. Wie sie aber in Prozession einherzogen, geführt von ihren Lehrern, den Blick zur Erde geschlagen, und ernst und langsam singend, da flog ein leiser Spott über Frau Hadwigs Antlitz. Mit starkem Fuß stieß sie den nahestehenden Korb um, daß die Apfel lustig unter den Zug der Schüler rollten und an ihren Kapuzen emporsprangen. Aber unbeirrt zogen sie ihres Weges; nur der Kleinsten einer wollte sich bücken nach der lockenden Frucht; doch streng hielt ihn sein Nebenmännlein am Gürtel. Frau Hadwig war gerührt. „Sind alle Schüler so gut gezogen?“ fragte sie. „So Ihr Euch überzeugen wollt“, sprach der Abt, „die Großen in der äußern Schule wissen nicht minder, was Zucht und Gehorsam ist“. Die Herzogin nickte. Da führte sie der Abt zur äußern Klosterschule, wo zumeist vornehmer Herren Söhne und diejenigen erzogen wurden, die sich weitgeistlichem Stande widmen wollten. Sie traten in die Klasse der Ältesten ein. Auf der Lehrkanzel stand Ratpert, der Vielgelehrte, und unterwies seine Jungen im Griechischen. Geduckt saßen die Schüler über ihren Pergamenten, kaum wandten sich die Häupter nach den Eingetretenen. Der Lehrmeister gedachte Ehre einzulegen. „Notker Labeo!“ rief er. Der war die Perle seiner Schüler, die Hoffnung der Wissenschaft; auf schmächtigem Körper war ein mächtiges Haupt, dran eine gewaltige Unterlippe in die Welt hervorragte; sie war die Ursache seines Übernamens. Der Aufgerufene ließ seine Äuglein über den griechischen Text hingleiten und übersetzte mit gewichtigem Ernst. Aber unterdessen steckten etliche die jungen Köpfe zusammen und flüsterten und flüsterten lauter —• selbst der Schüler Hepidan, der einen Teufel mit doppeltem Flügelpaar und Ringelschwanz in die Bank einschnitt, stellte seine Arbeit ein. Die Bewegung in den Schulbänken wurde stärker, es summte und brummte wie ferne Sturmglocken. Plötzlich stürmten die Schüler auf die Herzogin ein, 69 rissen sie von des Abts und des Kämmerers Seite. „Gefangen! Gefangen!“ schrien sie und begannen sich mit den Schulbänken zu verschanzen: „Gefangen! Wir haben die Herzogin von Schwaben gefangen! Was soll ihr Lösegeld sein?“ Die Herzogin fügte sich in ihre Gefangenschaft, weil das einen neuen Reiz für sie hatte. Rat- pert, der Lehrmeister, holte eine mächtige Rute hervor und schwang sie dräuend zur Umkehr. Erneuter Halloruf war die Antwort. Schon war der Saal durch Schulbänke und Schemel abgesperrt. Der Abt war sprachlos, die Keckheit war ihm lähmend in die Glieder gefahren. Die hohe Gefangene stand am andern Ende des Saales, umringt von ihren fünfzehnjährigen Entführern. „Was soll das alles, Ihr schlimmen Knaben?“ fragte sie lächelnd. „Was heischet Ihr für ein Lösegeld? — „Der Bischof Salomon von Konstanz war auch unser Gefangener“, sprach ein Schüler, „der hat uns drei weitere Ferientage erwirkt im Jahr und Fleisch und Brot für eine Pause.“ „0 nimmersatte Jugend!“ sprach Frau Hadwig, „so muß ich’s zum mindesten dem Bischof gleichtun. Habt Ihr schon Reichen aus dem Bodensee verspeist?“ „Nein“, riefen die Jungen. „So sollt Ihr jährlich sechs Reichen zum Angedenken an mich erhalten. Der Fisch ist gut für junge Schnabel.“ „Gebt Ihr’s mit Brief und Siegel?“ — „Wenn’ssein muß.“ — „Langes Leben der Frau Herzogin in Schwaben. Heil ihr, Heil, sie ist frei.“ Die Schulbänke wurden in Ordnung gestellt, der Ausgang geöffnet, springend und jubelnd geleiteten sie die Herzogin zurück. Im Hintergrund flogen die Pergamentblätter als Freudenreichen in die Höhe und Frau Hadwig sagte: „Sie waren recht huldvoll, die jungen Herren, wollet die Rute wieder beiseite tun, Herr Professor.“ ; Nach „Ekkehard“ von J. V. Scheffel. Verlag von Adolf Bonz & Cie., Stuttgart. 23. Vorbereitungen zur Ungarnschlacht. Der März kam heran; schwere Stürme brausten übers Land; in der ersten Sternennacht stand ein Komet am Himmel, und der Storch, der auf der Burg Dachfirst wohlgemut hauste, war acht Tage nach seiner Rückkehr wieder von dannen geflogen. Unheimliche Stimmung lagerte sich über die Gemüter. Ein Mann kam von der Reichenau zu der Herzogin auf dem hohen Twiel. „Was bringt ihr Gutes?“ fragte sie ihn. „Nichts Gutes! Sie sind wieder auf dem Wege zwischen Donau und Rhein.“ — „Wer?“ „Die alten Freunde von drüben herüber, die Kleinen 70 mit den tiefliegenden Augen und den stumpfen Nasen. a Er zog ein seltsam geformtes Hufeisen mit hohem Absatz aus dem Gewand: „Kennt Ihr das Zeichen?“ Kleiner Huf und kleines Roß, Krummer Säbel, spitz Geschoß, Blitzesschnell und sattelfest, Schirm uns der Herr vor dieser Pestl“ „Die Ungarn?“ fragte die Herzogin betroffen. „Ja!“ sprach der Bote. „Der Bischof Pilgrim hat’s von Passau melden lassen. Über die Donau sind sie schon geschwommen, wie die Heuschrecken fallen sie aufs deutsche Land, geschwind wie geflügelte Teufel sind sie, eher fängst du den Wind auf der Ebene und den Vogel in der Luft. Seit Jahren schwärmen ihre Haufen durch das zerrüttete Reich, von den Ufern der Nordsee, wo die Trümmerstätte von Bremen Zeugnis ihres Einfalls gibt, bis hinab an die Südspitze Kalabriens, wo der Landeingeborene, Mann für Mann, ein Löse- geld für seinen Kopf zahlen muß.“ Die Herzogin verabschiedete den Boten mit einem Geschenk. Fest entschlossen traf sie die Vorbereitungen zum Empfang des Feindes. Vorn Turme des hohen Twiel wehte die Kriegsfahne weit ins Land hinaus; durch Wald und Feld bis an die fernsten, in den Talgründen versteckten Meierhöfe klang das Heerhorn, die Mannen aufzubieten; nur Armut befreite von Kriegspflicht. Der hohe Twiel sollte der Sammelplatz sein. Boten durchsingen das Hegau; das Land hub an, sich zu rühren. An die Türen der Pfarrherren, der Alten und Bresthaften ward geklopft; wer nicht ausziehen konnte, sollte beten. Der Hofraum ward in den nächsten Tagen zum fröhlichen Heerlager. Emsig ward geschafft an allem, was des baldigen Krieges Notdurft heischte. Schon ehe die Sonne aufstieg, weckte der Schmiede Gehämmer die Schläfer. Pfeile und Lanzenspitzen wurden gefertigt; beim Brunnen im Hof stand der große Schleifstein, dran wetzten sie die rostigen Klingen. Der alte Korbmacher von Weiterungen war auch heraufgeholt worden; der saß mit seinen Buben unter der Linde, die langen, zu Schilden zugeschnittenen Bretter über- sponnen sie mit starkem Flechtwerk von Weidengezweig, dann ward ein gegerbtes Fell darüber genagelt: der Schild war fertig. Am lustigen Feuer saßen andere und gössen Blei in die Formen zu spitzem Wurfgeschoß für die Schleuderer — eschene Knittel und Keulen wurden in den Flammen gehärtet: „Wenn der an eines Heiden Schädel klopft,“ sprach einer und schwang den Prügel, 71 „so wird ihm aufgetan“. Die Gelegenheit zu ernster Tat sollte bald kommen. J. V. Scheffel: „Ekkehard“. 24. Der Bannspruch Gregors VII. wider Heinrich IV. Heiliger Petrus, Fürst der Apostel, verleihe mir ein gnädiges Gehör und höre mich, deinen Knecht, den du von Kindheit an beschützet und bis auf diesen Tag aus der Hand der Gottlosen errettet hast, welche mich um deinetwillen haßten und noch hassen. Du bist mein Zeuge, daß ich wider meinen Willen zur Leitung deiner heiligen Kirche berufen worden bin. Und deshalb glaube ich, daß es dir gefällt, daß die Christenheit mir besonders folgsam sei, und daß mir von Gott die Gewalt gegeben sei, zu binden und zu lösen im Himmel und auf Erden. Auf diese Zuversicht bauend, und zur Ehre und zum Schutz der Kirche spreche ich ab im Namen des allmächtigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes dem König Heinrich, der sich gegen die Kirche mit unerhörtem Hochmut erhoben hat, die Herrschaft des gesamten Reiches über Deutschland und Italien. Ich löse alle Christen von dem Bande des Eides, welchen sie ihm geleistet haben oder noch leisten werden, und ich untersage jedem, diesem König fürderhin zu dienen. Und weil er es verschmäht hat, wie ein Christ zu gehorchen und meine Ermahnungen verachtet und sich von der Kirche losreißt, indem er sie zu spalten trachtet, so binde ich ihn mit dem Bande des Fluchs, daß alle Völker es wissen und erkennen sollen, daß du Petrus bist, der Felsen, auf den der Sohn Gottes seine Kirche gebaut hat, die auch die Pforten der Hölle nicht zu überwältigen vermögen. Der gewöhnliche Bannfluch lautete: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und in der Kraft des heiligen Geistes schließen wir den N. N. von dem Schoße der Kirche aus und verfluchen ihn zu ewiger Verdammnis, so daß er nie wieder aufgenommen werden oder mit Christen Umgang haben kann. Verflucht sei er in der Stadt und auf dem Felde, verflucht sei seine Scheune, verflucht seine Gebeine, verflucht die Frucht seines Landes. Verflucht sei sein Eingang und sein Ausgang, verflucht sei er im Hause, und wenn er übers Feld geht. Es sollen über ihn kommen alle Flüche, welche Gott durch Moses über das Volk kommen zu lassen beschlossen hat. Alles ewige Verderben werde über ihn gehäuft. Kein Christ biete ihm den Gruß des Engels (Ave Maria). Kein Priester wage es, vor ihm eine Messe zu halten, seine Beichte zu hören, wenn er krank ist, noch ihm die heilige Kommunion (Abendmahl) selbst im Augenblicke des Todes zu reichen. Sein Begräbnis sei das eines Esels, und auf einem Düngerhaufen über der Erde soll er liegen, damit er ein Beispiel der Schmach und des Fluches sei für die gegenwärtigen und zukünftigen Geschlechter.“ 25. Juden und Kreuzfahrer. In der kleinen Stadt Tiberias am See Genezareth saß der alte Jude Eleazar mit seiner Familie, bereit, Passah oder die Auswanderung aus Ägypten zu feiern. Es war der zehnte Tag im Monat Nisan 1 des Jahres 1098. Der See lag klar, und seine Ufer grünten, die Oleander blühten, die Lilien waren aufgegangen in der lieblichen Zeit, da „der Boden sich freut“. Der Abend war da; alle Mitglieder der Familie waren wie zur Reise gekleidet, die Füße beschuht und den Stab in der Hand. Sie standen um den gedeckten Tisch, auf dem das gebratene Lamm in der Schüssel dampfte. Der Wein füllte den von den Vatern ererbten Becher, und das weiße, ungesäuerte Brot lag auf einer Schüssel daneben. Nachdem der Hausvater seine Hände gewaschen, segnete er die Gaben Gottes und trank vorn Wein, dankte und lud die andern zum Trinken ein. Darauf nahm er von dem bitteren Kraut auf der Schüssel des Lamms und aß und gab den andern zu essen. Dann las er aus den Büchern Mose über die Bedeutung des Festes vor. Jetzt wurde der zweite Becher Wein eingeschenkt, und der jüngste Sohn des Hauses trat vor, um zu beten. Und darauf, als er aus dem zweiten Becher trank, sprach er; „Lobe den Herrn meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Darauf sangen alle einen Psalm Davids. Jetzt wurden die ungesäuerten Brote und das gebratene Lamm gesegnet, und man setzte sich nieder, um zu essen, mit vergnügtem Sinn und unter unschuldigem Gespräch. Und der alte Eleazar sprach von vergangenen Tagen und den Zeiten, wie sie jetzt waren. Der letzte Becher wurde getrunken, und nach einem neuen Lobgesang war die Feier zu Ende. „Nun Jakob“, sagte Eleazar da, „du bist redelustig, kommst von einer Reise, wenn auch etwas spät, und hast etwas Neues zu erzählen — still, ich höre Schritte im Garten!“ Alle eilten an die Fenster; denn es waren unruhige Zeiten; da aber niemand draußen 73 zu sehen war, setzte man sich wieder zu Tisch. „Sprich, Jakobs fing Eleazar wieder an. „Ich komme von Antiochia, wo die Kreuzfahrer vorn Emir aus Mosul eingeschlossen sind. Der Hunger hat gerast, und von 300,000 Christen sind nur noch 20,000 übrig. Jetzt erzählt man auf den Landstraßen von einer neuen Schlacht, welche die Christen gewonnen haben, und gleichzeitig hält man für gewiß, daß die Kreuzfahrer direkt nach Jerusalem ziehen.“ „Hieher kommen sie wohl nicht!“ „Sie finden den Weg nicht, aber sie finden Verräter.“ Da wurde die Tür aufgerissen, und auf der Schwelle erschien ein kleiner Mann, wie ein Skelett abgemagert, mit brennenden Augen. Er war mit Lumpen bekleidet, trug ein Kreuz in der Hand und ein rotes, kreuzähnliches Zeichen auf der Achsel. „Seid ihr Christenmenschen?“ fragte er, „da ihr aus dem Kelch trinket und vorn Brot esset, wie unser Herr Jesus Christus in der Nacht, da er verraten ward?“ „Nein“, antwortete Eleazar, „wir sind von Israels Haus.“ „Dann habt ihr euch selbst zur Verdammnis gegessen und getrunken, und zur Zauberei habt ihr das heilige Sakrament mißbraucht! Hinaus, an den See hinunter und laßt euch taufen, sonst werdet ihr des Todes sterben!“ Da wandte sich Eleazar zu dem Eremiten und rief: „Nein, ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen, wie wir diesen Abend getan haben nach dem Gesetze unserer Vater!“ Der Eremit war zu seinen Leuten hinausgegangen; die Fensterladen wurden geschlossen und die Türe ebenfalls. — „Feuer aus Haus!“ schrie man draußen. Die Mutter hatte den jüngsten Sohn in ihre Arme genommen, als wolle sie ihn schützen gegen das Feuer, das jetzt die Wände ergriff. Da stimmte Eleazar den Gesang der drei Männer im feurigen Ofen an, und als sie zu den Versen kamen: Danket dem Herrn; Denn er ist freundlich, Und seine Güte währet ewiglich .... wurden ihre Stimmen erstickt, und wie die Makkabäer beschlossen sie ihre Tage. Strindberg. 1 Jüdischer Monat; fällt in unsern März und April. 26. Die Eroberung Jerusalems 1099. Nachdem die ersten, ungeordneten Scharen hauptsächlich infolge ihrer Zügellosigkeit aufgerieben worden waren, erfolgte der erste, große Kreuzzug. 1096 zogen zu Lande und zu Wasser 300,000 wohlausgerüstete Krieger mit zahlreichem Troß, meist Niederländer, Franzosen und Normannen nach dem 74 Sammelpunkt Konstantinopel. Sie waren angeführt von den grüßten Helden jener Zeit; darunter sind zu nennen: Gottfried von Bouillon, Herzog von Lothringen, und seine Bruder Balduin und Eustach, Hugo, Graf v. Vermandois, Herzog Robert von der Normandie, die Grafen Robert von Flandern, Raimund von Toulouse, Boemund, Fürst von Tarent und Tankred von Apulien. Nach siegreichen Kämpfen mit seldschukkischen Fürsten in Kleinasien und unter großen Entbehrungen langten sie vor Antiochien an, das nach neunmonatlicher Belagerung genommen wurde. Nun wurden die Sieger selber durch den Fürsten von Mosul eingeschlossen und konnten erst nach furchtbaren Leidenszeiten mit größter Mühe die Belagerer vertreiben. (Heilige Lanze). Boemund wurde Fürst von Antiochien, Balduin Fürst von Edessa. Streitigkeiten unter den Führern des christlichen Heeres gefährdeten die Erreichung des Zieles. Nur 20,000 Krieger gelangten vor Jerusalem, das im Besitz des Kalifen von Ägypten war. 1099 Erstürmung. Besiegung der Ägypter in der Schlacht bei Askalon. Gottfried von Bouillon wurde unter dem Titel „Beschützer des Heiligen Grabes“ erster König von Jerusalem. Als nur noch eine kleine Strecke nach Jerusalem zurückzulegen war, löste sich alle Ordnung im Heere. Von heißester Andacht getrieben, stürmten die Scharen dahin. Endlich lagen die Mauern und Türme vor ihren Blicken. Ein tausendstimmiger Schrei durchbrauste die Luft; „Jerusalem! Jerusalem! Gott will es! Gott will es!“, und alle Hände zeigten nach der heiligen Stadt. Die Kreuzfahrer sanken auf die Knie und priesen den Herrn, der sie ans Ziel geführt hatte. Sie weinten über ihre Sünden und über den Tod des Erlösers. Demutsvoll beugten sie ihre Häupter, legten Gold, Seide, Helmschmuck und jeden eitlen Tand ab; die Reiter stiegen von den Pferden und gingen nackten Fußes. — Schon am folgenden Tage eröffneten sie den Angriff. Sie besaßen weder Leitern noch Belagerungsmaschinen und versuchten in ihrer Begeisterung, mit dem bloßen Schwerte in der Hand, die Stadt zu erstürmen. In dichten Scharen, die Köpfe mit den Schilden gedeckt, drangen sie gegen die Mauern, um sie mit Schwert- und Pikenstößen und Hammerschlägen zu durchbrechen. Ihrem Ungestüm gelang es, die vorderste niederzuwerfen; aber an der Hauptmauer scheiterten alle Bemühungen. Nun begann die Leidensgeschichte. Um die Christen aller Hilfsmittel zu berauben, hatte der Statthalter der ägyptischen Kalifen die benachbarten Ebenen verwüstet, die Dörfer verbrannt und die Brunnen verschüttet. Die größte Sommerhitze hatte begonnen; eine verzehrende Sonne brannte auf die gewappneten Krieger herab, und heiße Südwinde, die Wüstensand herbeiführten, beklemmten die Brust. Die Quellen und Bäche versiegten; ein Schlauch halb faulen Wassers, das aus großer Entfernung herbeigeholt wurde, 75 mußte mit schwerem Gelde bezahlt werden. Mit ihren Schwertern höhlten die Krieger den Boden aus und drängten sich in die frische, aufgewühlte Erde, um die feuchten Schollen an die Lippen zu drücken. Jeden Morgen sah man sie die mit Tau befeuchteten Marmorsteine ablecken. Im Heere wuchs die Entmutigung so stark, daß viele nach den Meerhäfen flohen, um sich nach Europa einzuschiffen. Nun beschleunigte man die Vorbereitungen zum allgemeinen Angriff. Ungeheure, bewegliche Türme wurden errichtet, die alle Mauern der belagerten Stadt überragten. Vor dem Hauptsturm führte man ein dreitägiges Fasten durch; mit nackten Füßen, aber schwer bewaffnet, schritten die Krieger rund um die Stadt. Voran gingen Priester mit heiligen Bildern, Psalmen und Lieder singend; die Fahnen wehten, Trompeten und Zimbeln erschallten. In Andacht und Gebet wollte man sich von den Sünden reinigen und die Gnade des Herrn zur Eroberung der heiligen Stadt erflehen. Während der Nacht wurden die beweglichen Türme und andere Kriegsmaschinen vor die Mauern gebracht. Die Arbeit war schwer, da eine Menge Geschosse von den Mauern her die Arbeiter belästigte. Überall fanden die Christen hartnäckigen Widerstand. Zwölf Stunden dauerte der Kampf; erst die Nacht trennte die Streitenden. Am Morgen wurde der Sturm erneuert. Aber auch jetzt schien ein Erfolg auszubleiben. Die Maschinen der Christen brannten; es fehlte an Wasser, das Feuer zu löschen; ein Turm fiel in Trümmer — die Sarazenen erhoben ein wildes Freudengeschrei. Da erblickten die Kreuzfahrer auf dem Ölberg einen glänzenden Ritter, der einen Schild schwang. Neuer Mut entflammte die Christen. Einer der Türme rückte trotz des Hagels von Steinen und Pfeilen und trotz des griechischen Feuers vor und ließ seine Fallbrücke auf die Mauer. Brennende Pfeile entzündeten die Säcke und Wollballen, welche die Belagerten aufgehäuft hatten. Der Wind verbreitete den Brand und wehte die Flammen den Sarazenen entgegen, die, in Feuer- und Rauchwirbel gehüllt, zurückwichen. Die Christen drangen über die Fallbrücke in die Stadt; unter den ersten befand sich Gottfried von Bouillon. Die Muselmänner flohen nach allen Seiten, und in Jerusalem erschallte das Siegesgeschrei der Kreuzfahrer: „Gott will es haben! Gott will es haben!“- Ein wildes Blutbad wurde allgemein. Die Sarazenen wurden in den Straßen und Häusern niedergemetzelt. Die Moschee Omars widerhallte von dem Geschrei und Geröchel 76 der Sterbenden, von dem Geklirr der Waffen und den Schreckensrufen der Fliehenden. Unter dem Tore und im Vorhofe standen die Rosse bis zu den Knien im Blute. Mehr denn 70,000 Sarazenen und eine ungezählte Schar von Juden fielen dem Schwert oder den Flammen zum Opfer. Nach Verschiedenen. 27. Das Turnier. Es gab kein größeres Fest im Reiche, bei dem nicht ein Turnier im Mittelpunkt gestanden hätte. — Besondere Boten eilen von Burg zu Burg, von Stadt zu Stadt, um „den turnei“ anzubieten. Die Ritter setzen ihre beste Rüstung in stand, die ritterlichen Damen wählen die prächtigsten Kleider aus und suchen den schönsten Schmuck hervor. Der Turnierort liegt auf freiem Felde, der Hof der benachbarten Burg oder der Marktplatz der nahen Stadt vermögen nicht, die Menge der kämpfenden Ritter und der Zuschauer zu fassen. Die Tribünen sind reich besetzt; vor allen kenntlich ist der Einberufer des Turniers, gewöhnlich ein reicher Landesherr. Unter dem Klang einer betäubenden Musik reiten die Ritter paarweise durch die Schranken und halten einen feierlichen Umzug, um den Herrn und die Frauen zu begrüßen. Bei einem „turnei ze ernste“ ist das Speereisen scharf, bei einem „ze schimpfe“ aber durch Quereisen oder ein dreizackiges Krönlein ersetzt. Eröffnet wird die Festlichkeit gewöhnlich durch einen Tjost, den ritterlichen Zweikampf mit dem Speere. Die Mitte des Schildes oder den Helm zu treffen, das sind die besten Stöße. Wer die meisten Tjoste besteht, ohne auf den Boden geworfen zu werden, erntet den höchsten Ruhm. Dann folgt das eigentliche Turnier, bei dem wie in der Schlacht ganze Scharen von Rittern miteinander ringen. Der Einberufer gibt vielleicht noch die Erlaubnis zu einem „turnei umbe guot“, wo das Beutemachen die Hauptsache ist; denn Roß und Reiter gehören dem Sieger. — Stolz kehren die Sieger in die Herberge zurück, traurig und niedergeschlagen die andern; sie haben Schande geerntet und müssen „ze den juden farn und köstliches phant setzen“, um Roß und Rüstung auszulösen. Mancher aber, der frohgemut ausgezogen ist, wird schwerverwundet oder tot heimgebracht. — Wer am meisten Speere zerstochen, am meisten Ritter überwunden hat, dem wird der Preis durch den Landesherrn oder von schöner Hand überreicht. Höher gilt aber die erworbene Ehre; denn des Siegers Ruhm verbreitet sich weit über die Lande. Sein Lehensherr ehrt ihn wohl durch ein einträgliches Amt, und seine Herzensdame schenkt ihm ihre Liebe. Der Tjost. Endlich, als die langgezogene, stolze Fanfare geblasen war, wurde sie von einer einzelnen Trompete beantwortet. Aller Augen wandten sich nach dem neuen Kämpfer. Seine Rüstung war von Stahl und reich mit Gold ausgelegt. Er ritt ein feuriges, schwarzes Roß, und wie er durch die Schranken kam, grüßte er den Prinzen und die Damen durch Senken der Lanze. Zum Erstaunen aller Anwesenden berührte er mit dem spitzen Ende seines Speeres den Schild des gefürchteten Templers, ihn so zum Kampfe auf Leben und Tod herausfordernd. Dieser vertauschte sein Roß 77 2 » mit einem frischen voll Feuer und Kraft, wählte einen neuen, tüchtigen Speer; auch legte er den beschädigten Schild beiseite und ließ sich vorn Knappen einen andern reichen. — Schon standen die Beiden an den zwei Enden der Schranken. Ein Trompetenstoß! Mit Blitzesschnelle sprengten sie gegen die Mitte der Bahn und prallten mit donnerndem Krachen aufeinander. Die Lanzen splitterten bis. zum Griff. Der gewaltige Stoß warf beide Pferde auf die Hinterfüße; aber die Gewandtheit der Reiter brachte sie rasch wieder in ihre Gewalt. Jeder machte eine halbe Volte und ritt nach den Schranken zurück, wo sie von ihren Knappen neue Lanzen erhielten. — Eine Pause nur von wenigen Minuten, die er Rittern und Pferden zur Erholung gönnte, und Prinz Johann ließ wiederum zum Angriff blasen. Mit gleichem Ungestüm stießen die zwei Kämpen zusammen. Der Templer traf seinen Gegner so kunstvoll in die Mitte des Schildes, daß sein Speer zersplitterte und der fremde Ritter im Sattel wankte. Der andere hatte im Anfang seines Anlaufes ebenfalls den Schild zum Ziele genommen, im Augenblick des Zusammentreffens aber die Spitze seiner Lanze gegen den Helm gerichtet — ein weit schwererer Stoß, der jedoch, wenn er traf, unwiderstehlich war. Allein auch jetzt behauptete der Templer seinen hohen Ruf. Er hätte sich im Sattel gehalten, wäre nicht sein Sattelgurt gesprungen. So aber fuhren Sattel, Mann und Roß, von einer Staubwolke umhüllt, auf den Sand. Den Freu den ruf von vielen Tausenden begleitete die einstimmige Erklärung des Prinzen und der Marsebälle, daß die Ehre des Tages dem fremden Ritter gebühre. Das allgemeine Turnier. Eine halbe Wegstunde von Erfurt waren auf großer Wiese die starken Pfähle der Turnierschranken errichtet und durch Querriegel verbunden, mit zwei Eingängen an den entgegengesetzten Seiten. Der freie Raum ringsumher stieg allmählich zu den bewaldeten Höhen. Dort standen unter den ersten Bäumen die buntfarbigen Zelte der Kämpfenden; wo ein Edler sich gelagert hatte, wehte ein Banner mit seinen Farben und Wappenzeichen. Bei jedem Zelte stampften Rennpferde und drängten sich buntgekleidete Knechte, Spielleute und neugierige Zuschauer. Dazwischen hatten die Erfurter Buden und Tische aufgestellt, in denen sie Speise und Trank feilboten. Hier und da war in Holzhütten ein Herd errichtet mit dem Blasebalg, und die Schmiede warteten am Amboß mit ihren Hämmern, um an Rüstungen und Hufbeschlag ihre Kunst zu zeigen. Zwischen dem Waldesrand und den Schranken 78 trieben sich Städter und Dorfleute zu Fuß und zu Roß. Viele waren aus großer Entfernung aufgebrochen und hatten die Nacht bei Bekannten in der Nähe oder gar im Freien am flammenden Feuer zugebracht. Lange vor Beginn des Festes schallte der Lärm zum Himmel. Unweit der Eingänge zu den Schranken standen in großen Haufen die Turniergehilfen, die sich in das Gewühl der Männer und Rosse werfen mußten, um Geworfene zu retten, Speertrümmer aus dem Wege zu räumen und kleine Schäden an Riemenzeug und Rüstungen zu bessern. Endlich erklangen die Posaunen, und vier Scharen Geharnischter sprengten mit geschlossenen Helmen auf der Straße heran, jede gefolgt von ihren Knappen. Die Kämpfer ritten durch die beiden Tore; es waren etwa 80 Speere, welche sich so aufstellten, daß die Herausforderer den Osten und Süden, die Gegner den Norden und Westen des umhegten Raumes inne hatten. Die eine Partei war kenntlich an einem weißen Schleier, die andere an einem Taimen- reis an den Helmen. Wer den Speer verstochen hatte oder sich an die Schranke drängen ließ, durfte nach Turnierrecht gezwungen werden, den Helm abzubinden und sich gefangen zu geben. Roß und Rüstung verfielen dem Sieger. Posaunen und Pfeifen erklangen. Das Kampfspiel begann. Ivo ritt mit seinem Haufen in schnellstem Laufe gegen den Grafen Markwart von Gleichen, der den andern führte und seine Schar jenen entgegen sprengen ließ, um den Anprall nicht stehenden Fußes zu erwarten. Laut krachten die Speere des ersten Gliedes in jeder Schar, die Trümmer sanken zu Boden, und im Nu fuhr das zweite Glied durch die Zwischenräume des ersten in den Vorkampf, damit die speerlosen Genossen Zeit erhielten, von den Knappen, welche sich in das Gewühl stürzten, neue Speere zu empfangen. Mit diesen Waffen drängte, wer von der ersten Reihe freie Hand erhielt, wieder den Genossen nach, um die Reihen der Gegner zu durchbrechen und die Hintersten des feindlichen Haufens an die Schranken zu drücken. Ein wildes Getümmel erhob sich; von allen Seiten ertönte der Schlachtruf und das Geschrei nach Speeren, und an der einen Seite des Kampfplatzes wogte ein unsäglich wirres Durcheinander von Rossen und Menschenleibern. Die Zuschauer schrien und jauchzten in wilder Aufregung, bis sich die beiden Scharen nach den entgegengesetzten Seiten der Schranken zurückzogen, während ihre Gefangenen von den Knappen gewaltsam aus der Einfriedigung 79 weggezerrt wurden. Jetzt sprangen die fahrenden Leute in den Rennplatz und säuberten ihn von dem zerbrochenen Holze und den gestürzten Rossen, die sich nicht mehr zu erheben vermochten. Wieder riefen die Posaunen; die beiden andern Scharen, welche gegenüber hielten, rannten ebenso wie die ersten zusammen. In solcher Weise wurde viermal gerannt. Dann erhob sich nach einer Pause, in welcher nur Einzelne gegeneinander ritten," ein allgemeiner Kampf der beiden Parteien. Der Eifer war gestiegen, der Zusammenhalt der Scharen wurde gelockert, immer schärfer gellten die Rufe; die Pfeifen und Posaunen schrien dazwischen, und gleich dem Gebrüll empörter Meereswogen tönte Zuruf, Jubelgeschrei und Klage der Schauenden. Die Führer blieben im dichten Kampfgewühl; denn um beide scharten sich die Genossen am engsten, weil die Ehre der Partei daran hing, daß ihr Vorkämpfer nicht gefangen werde. „Gebt Raum“, rief Ivo, den zugereichten Speer einlegend, „jetzt bring ich's zu Ende“, und er fuhr mit so gewaltigem Roßsprung auf Herrn Markwart zu, daß diesem das Tier auf das Hinterteil gesetzt wurde und mit dem Reiter zu Boden rollte. Hilflos lag der Graf unter dem Rosse, und um ihn begann das Stoßen und Zerren, so daß die Zuschauer nur einen Strudel von Helmen und Roßhäuptern sahen, der sich kreisend um den unsichtbaren Mittelpunkt bewegte. Aber die Mannen des Ivo drängten mit ihren Speeren dicht um den Grafen, und Ivo rief ihm zu: „Gebt euch, Graf, damit meine Knappen euch nicht die Arme schnüren“. Der Betäubte vermochte kaum die Hand zu heben zum Zeichen der Ergebung. Ivo sprang ab, löste ihm die Schnur des Helmes und half ihm auf das zitternde Roß. Da gab der Kampfrichter den Bläsern das Zeichen, das Ende auszurufen. Wer nach dem letzten Posaunenton noch weiter kämpfte, verlor seine Rüstung; darum schwand allmählich das Getöse, die Kämpfer banden die Helme ab und suchten ihre Zelte. Nach Heymann und Übel, Walter Scott und Gustav Freitag. 28. Zwei Lieder Walthers von der Vogelweide. Walther von der Vogelweide ist der bedeutendste Liederdichter des Mittelahers. Er war von ritterlicher Geburt, aber arm, und verlebte seine Jugendzeit in Österreich, dann führte er viele Jahre ein Wanderleben, das ihn an fast alle deutsche Fürstenhöfe brachte. Er war ein eifriger Gegner päpstlicher Anmaßung und ein Parteigänger Kaiser Friedrichs II., von dem er später mit einem kleinen Lehen beschenkt wurde. Er starb 1230 in Würz- 80 bürg. — Die Sprache Walthers und seiner Zeitgenossen heißt die mittelhochdeutsche (mhd). Sie entstand aus den Mundarten der oberdeutschen Stämme, und hat datier mit der alemannischen Mundart mehr Ähnlichkeit, als mit der neuhochdeutschen (nhd) Schriftsprache. Frühlingssehnsucht. Uns hat der winter geschadet über al: beide unde walt sint beide nü val, da manic stimme vil suoze inne hal. saehe ich die megde an der strüze den bal werfen! so kaeme uns der vögele schal. Möchte ich versläfen des winters zit! wache ich die wile, so hün ich sin nit, daz sin gewalt ist so breit und so wit. weizgot, er lät ouch dem meien den stritt so lise ich bluomen, da rife nü lit. Der Opfer stock. Sagt an, her Stoc, hat iuch der hübest her gesendet, daz ir in rieftet unde uns Tiutschen ermet unde pfendet? Swenn im diu volle mäze kumt ze Lateran, so tuot er einen argen list, als er e hüt getan: Er seit uns danne, wie das riche ste verwarten, unz in erfüllen! aber alle pfarren. ich waen des Silbers weide kumet ze helfe in gotes lant: grözen hört zerteilet selten pfaffen hant. her Stoc, ir sit üf schaden her gesant, daz ir üz tiutschen hüten suochet toerinn unde narren. Bachmann: Mhd. Lesebuch. 29. /Aktenstücke zur Geschichte der Stadt Zürich. a) Aus dem Zürcher Richtebrief von 1304. Über die Gesetze und das Leben und Treiben in den Städten geben viele Sammlungen und Verordnungen, die Stadtbücher und Stadtverfassungen Auskunft. Im Zürcher Richtebrief, einer im Jahre 1304 angelegten Gesetzessammlung, findet sich folgendes Zunftverbot: „Wir, der Rat und die Bürger von Zürich, setzen mit gemeinem Rat und haben auch geschworen zu den Heiligen, es ewiglich zu halten, was hienach geschrieben steht: Daß niemand werben noch machen soll irgend eine Zunft noch Meisterschaft noch Gesellschaft 81 mit Eiden, mit Worten noch mit Werken. Wer es aber trotzdem täte, dem soll man sein bestes Haus niederbrechen, und er soll dazu der Stadt 10 Mark (490 Franken Geldwert, zirka 3000 Franken heutiger Kaufwert) Buße geben. Ist aber, daß er kein Haus hat in der Stadt, so soll er fünf Jahre von der Stadt sein, und soll nimmer wieder hereinkommen, ehe er der Stadt 50 Mark Buße gebe?' b) Aus dem geschworenen Brief von 1336. Trotz dieser hohen Buße konnte die Bildung von Zünften nicht verhindert werden, und 1336 wurden die Meister der durch die Brunsche Revolution gegründeten 13 Zünfte zu Mitgliedern des Rates. Der geschworene Brief von 1336 enthält darüber folgendes: So haben wir, Rudolf Brun, Bürgermeister, der Rat und die Bürger gemeiniglich der Stadt Zürich einhellig mit guter Vorbe- trachtung und mit gemeinem Rate aller unserer Bürger von Zürich die Gewalt aller Räte abgeworfen, also daß in Zürich nimmer ein Rat mehr sein soll mit vier Rittern und acht Bürgern von den besten, wie bisher gewöhnlich gewesen war, sondern, daß man einen Bürgermeister und Rat von Rittern, von Bürgern und von den Handwerkern zu Zürich haben soll, wie hienach geschrieben steht. Dies ist der Rat von Zürich: Zum ersten soll der Bürgermeister zweimal im Jahr ohne Gefährde aus dem abgehenden Rat zwei Ritter oder Edelknechte und vier, die ihn bei seinem Eid die allerbesten dünken, kiesen, daß sie ihm helfen einen Rat kiesen. Und dieselbe sechse und auch der Bürgermeister, die sollen dann sechs Ritter oder Edelknechte kiesen und sieben ehrbare Bürger von der Konstaffel; dero werden dreizehn. Dazu kiesen dreizehn Zünfte, die wir zu Zürich haben, jegliche Zunft auch einen Zunftmeister, wie oben gesagt ist, und gehen die Zunftmeister auch in den Rat, so daß jährlich zweimal im Jahre je 26 dem Rat von Zürich schwören sollen, wie es Sitte und Gewohnheit und altes Herkommen ist. c) Verhütung von Feuersgefahr. Nachdem im Jahre 1280 ein großer Brand die Stadt Zürich heimgesucht hatte, trachtete man, durch Erstellung von Ziegeldächern die Feuersgefahr zu vermindern. Der Richtebrief von 1304 enthält darüber folgendes: Der Rat und die Bürger sind insgemein übereingekommen, eines ewigen Gesetzes der Stadt zu Ehren und zu Nutzen, daß sie Fünfe gewählt haben auf St. Gallus Fest und von da an auf drei Jahre, daß dieselben Fünfe auf diese Zeit oder fünf andere nach der Zeit, die dann der Rat wählt, der zu Zürich sitzt, schwören sollen zu den Heiligen, daß sie in der ganzen Stadt bei ihrem Eiden bauen Geschichtslehrmittel. II. 6 82 heißen für Verhütung von Feuersgefahr und mit Ziegeln oder Terrassen (Terrazzo — mit Steinehen besetzter Mörtel) decken und nach ihrem Ermessen und nach der Leute Lage und nach ihren Umständen. Wofern die Fünfe übereinkommen oder der Mehrheit unter ihnen, die sollen es dann dem Rate vorlegen, der dann zu Zürich sitzt. Und derselbe Rat soll den Bau eifrig fördern bei seinem Eide. Brach einmal ein Feuer aus, so leisteten bei den damaligen mangelhaften Löscheinrichtungen (es gab noch keine Spritzen) die Zimmerleute das Hauptwerk, indem sie durch das Abbrechen von Häusern ein Weitergreifen des Feuers verhinderten. Darüber enthält der Richtebrief von 1304 folgende Stelle: Art. 50. Die Räte und die Bürger sind gemeinsam übereingekommen: Wofern ein Feuer zu Zürich in der Stadt oder in den Vorstädten ausbliebt, wofern ein Haus oder Häuser niedergebrochen werden und an denen das Feuer dann aufhört, soll man den (Eigentümern) ihren Schaden vergüten von der Genossenschaft derer, deren Häuser noch unverbrannt bleiben, und von dem Rate, in dem Maße und in der Art, wie dann ein Rat, der zu Zürich ist, erkennt auf seine Ehre und sein Ermessen. d) Strahenpflästerung und Reinigung in Zürich. Erst zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts begann man dem Straßenwesen größere Sorgfalt zuzuwenden. 1403 wurden in Zürich die Straßen gepflastert und im Zusammenhange damit folgende zwei Verbote erlassen: Im Jahre des Herrn 1403, am sechsten Tag des Monats November, sind der Bürgermeister, die Räte und der Große Rat der Zweihundert übereingekommen, daß fortan in Zürich von den nächsten Weihnachten an auf ein Jahr niemand in der Stadt Mist vor seinem Haus, noch an den Straßen länger liegen lassen soll, denn acht Tage; sondern daß er schaffen soll, daß er vor die Stadt hinausgeführt werde. Wer ihn aber trotzdem an der Straße liegen ließe, der gibt von dann an alle Tage 5 s. 1 Buße ohne alle Gnade all die Weile, so er den Mist über acht Tage liegen läßt. Im Jahre des Herrn 1403, am sechsten Tag November, sind der Bürgermeister, die Räte und der große Rat der Zweihundert übereingekommen, daß von den nächsten Weihnachten an, so nun kommt, auf ein Jahr zu Zürich in der Stadt niemand Schweine haben soll, außer in seinem Haus in Ställen, also daß man sie nicht hinaus an die Straße gehen lassen soll. Wohl mag jedermann seine Schweine zweimal tränken an dem Wasser, unter der Bedingung, daß sein Bote dabei sei. Wollte auch einer seinen Stall misten, so mag er seine Schweine hinauslassen unter der Bedingung, daß er seine Boten 83 dabei habe, und soll man auch die Schweine nach der Tränke und dem Misten förderlich wieder eintreiben ungefährlich. Würde aber trotzdem ein Schwein in den Straßen gefunden, da soll man von jeglichem Schwein 5 s. Buße geben, so oft das geschieht, und soll man die Buße einziehen von dem, dessen die Schweine sind. Uchsli: Quellenbuch. 1 1 solidus = 1 Fr. Metallwert — 6 bis 7 Fr. Kaufwert. 30. Der Markt. Am lebhaftesten spielte sich das öffentliche Leben in den Stadtteilen ab, wo die Bedürfnisse zum täglichen Unterhalte ausgeboten wurden. Das geschah nicht wie heute in Kaufläden und Wirtschaften, die in allen Gassen zerstreut sind, sondern für jede Art von Lebensrnitteln in besondern Gruppen von Verkaufslokalen. Dabei scheinen die gekochten Fleischwaren, wie jetzt noch, besonders beliebt gewesen zu sein. In Basel nannte man die Gaden 1 , worin sie ausgeboten wurden, „unter den Köchen“. Wüstes Leben und Geschrei, das bis in die Nacht hineindauerte, verriet schon von weitem diesen Lieblingsort der Schlemmer. Da gab es gesottenes und gebratenes Fleisch, Würste, gespickte, wohlzubereitete Vogel, darunter namentlich die lieblichen Singvogel, Amseln und Drosseln, zu kleinen Gruppen an hölzerne Spieße gesteckt. Nicht weit davon standen die Heringstonnen mit ihrem gesalzenen Inhalte, der sich im Mittelalter einer viel größeren Beliebtheit erfreute, als dies später der Fall war. In dem abgesonderten Gaden der Kuttler wurden die Eingeweide der geschlachteten Tiere, die Mäuler und Füße, sowie die Blut- und Leberwürste zum Verkaufe gesotten. Der Rat setzte nicht nur die Fleischpreise fest, sondern sorgte auch dafür, daß den Bürgern preiswürdige Ware geliefert wurde. Die Fleischbänke wurden den Metzgern vorn Rate um einen bestimmten Jahreszins auf Lebenszeit verliehen. Starb der Inhaber, so hatten die nächsten Verwandten, auch die weiblichen, das erste Anrecht auf die Bank, sofern die letzteren in das Handwerk „manneten“. Kein Stück Vieh durfte anderswo als im „Schind- hause“ geschlachtet werden, worauf die Schauer das Fleisch untersuchten. Im Jahre 1412 setzte der Rat von Zürich die Fleischpreise folgendermaßen fest: Hammel- und Lämmerfleisch 13,8 Cts., Schaffleisch 12'/z Cts. und Rindfleisch 11 Cts., das Pfund zu 470 84 Gramm. Dabei ist wohl zu bedenken, daß der Metallwert damals ein sechs- bis achtfach größerer war, so daß sich in Wirklichkeit die Fleischpreise nicht wesentlich von den heutigen unterschieden. Ungesundes Fleisch und gefallenes Vieh (Reiben) wurden in die Flüsse geworfen oder dem Schinder zum Vergraben überliefert. An besonderem Platze fand auch der Verkauf des importierten Weines statt, in Basel auf dem sogenannten heißen Steine, der auch zeitweise als Richtstätte diente. Das Recht dazu wurde nur gegen besondere Abgaben bewilligt. Dafür stand auch das Getränk zum Schutze der Bürgerschaft gegen Übervorteilung der Händler unter scharfer Kontrolle. Kranker oder zu schwach befundener Wein wurde dem Verkäufer genommen und samt dem Faß ins Wasser geworfen oder jenem der Boden ausgeschlagen. Auch war es strenge untersagt, zwei Weine mit einander zu mischen. Im übrigen sorgten die Räte überall dafür, daß es an einem guten Tropfen in ihren Kellern nicht fehlte. Brotlauben und Brotbänke verteilten sich dagegen zu größerer Bequemlichkeit der Bürgerschaft wenigstens in bedeutenderen Ortschaften über die ganze Stadt; denn sie vermittelten den Verkauf des unentbehrlichsten Nahrungsmittels; die größte Brotlaube befand sich in Zürich im Erdgeschoß des Rathauses. Sie wurden den Bäckern vorn Rate, aber auch von einzelnen Stiften und Klöstern und sogar von Privaten gegen jährlichen Zins vermietet. Nur hier durften die Ofenbrote, Wecken und Ringe ausgelegt werden. Der Verkauf in ihren Häusern war den Bäckern in Basel noch im vierzehnten Jahrhundert nicht gestattet. Die Aufsicht über Qualität und Gewicht übten wieder vereidigte Personen. Diese hatten alle Verkaufsstellen wöchentlich wenigstens ein- bis zweimal zu prüfen und die Fehlbaren zu bestrafen. Denn schon seit dem 13. Jahrhundert gab es Bäcker, die in betrügerischer Absicht Bohnenmehl und Hopfen unter den Teig mischten. In gutes Korn durften weder Roggen noch Gerste gemischt werden. Dagegen war in Zürich zu Anfang des 15. Jahrhunderts gestattet, daß die Bäcker auf 40 Mütt Kernen einen gegen Bohnen austauschen durften. Zu leichtes oder schlechtes Brot wurde von den Aufsehern zerschnitten, so daß die Pfister es nicht mehr auf der Brotlaube auslegen konnten. Dadurch sollte arm und reich, wie die Zürcher Verordnung von 1416 sagt, gleichmäßig vor Schaden bewahrt werden. Nach Lehmann „Die gute, alte Zeit“. * Hölzerne, überdeckte Hallen. 85 31. Bei Nacht. Es ist Abend geworden. Über den schmalen Gassen hat sich schon die Dämmerung gelagert, und nur auf den Türmen schimmern die Fähnchen und Kreuze noch im Glänze des verglimmenden Tages. Bald tönt der Glocke mahnender Ruf. Er verkündet, daß das Tagewerk zu Ende ist und alles Feuer getilgt werden soll, damit sich der Bürger ohne Sorge vor drohender Gefahr der Ruhe hingeben kann. Auch wir wenden uns darum der Herberge zu. Geschäftig räumen die Handwerker und Krämer ihre ausgelegten Waren in die Gaden, und knarrend werden die großen Fensterladen in die Höhe gezogen. Hühner und Gänse suchen ihre Schlupfwinkel auf, und der Hunde Gebell verstummt mit dem Geschrei der spielenden Kinder. — Inzwischen ist es Nacht geworden. Abermals gibt die Glocke das Zeichen, daß nun der Bürger die Stube nicht mehr verlassen solle. Denn die Nacht, welche Straßen und Gassen in ihren dunkeln Mantel hüllt, leistet allen Vergehen gegen Sitte und Gesetz zu leichten Vorschub. Wehe darum dem, der jetzt noch ohne Licht sich draußen blicken läßt. Gehört er nicht einer ehrbaren Familie an, dann legt man ihn ohne Gnade in den Turm, und selbst, wenn er sich genügend ausweisen kann, harrt ihm eine empfindliche Buße. Auch in den Häusern ist es meist dunkel geworden, und nur auf den Trinkstuben der Zünfte und Gesellschaften wird noch lebhaft gesprochen. Aber nicht mehr lange. Denn schon gibt die Nachtglocke das Zeichen zum Schließen der Weinhäuser. Wer ihm nicht folgt, wird gebüßt, und kann er nicht bezahlen, so bleibt ihm die Stadt bis auf einen Monat verschlossen. Aber nicht alles darf sich dem süßen Schlummer hingeben. Denn wenn der Rat einerseits von seinen Bürgern verlangt, daß sie sich seinen Verordnungen fügen, so hat er anderseits auch die Pflicht, sie Tag und Nacht vor Schaden zu bewahren. Darum mußten sich z. B. in Zürich jeden Abend ein Ratsherr und ein Zunftmeister auf das Rathaus begeben, um selbst zu wachen und die bestellte und besoldete Scharwache zu beaufsichtigen. Und damit sich niemand in dieses Haus, das alle wichtigen Akten und Wertsachen barg, einschleiche oder Schaden verursache, hatte man an der Treppe ein eigenes Häuschen errichtet, worin sich der Rathauswächter gegen die Unbilden der Witterung schützen konnte. Aber selbst damit begnügte sich die fürsorgliche Obrigkeit nicht. Wie leicht konnte es noch irgendwo unter der Asche glimmen und I — 86 - ein verheerendes Feuer die Bewohner aufschrecken, wenn es für ihre Rettung bereits zu spät war. Darum blinkten hoch vorn Wendelsteine (Kirchturm) und den Toren herab freundliche Lichtlein, und aus einsamem Stäbchen spähten zwei scharfe Augen hinunter auf die dunkeln Giebel und in die finstern Gassen, ob nirgends etwas Verdächtiges sich zeige. Damit aber kein Wächter seiner schweren Pflicht vergesse, riefen sie sich mit ihren Hörnern von Zeit zu Zeit an, und kamen die Scharwächter in ihre Nähe, oder bemerkten sie eine drohende Gefahr, dann meldeten auch sie sich ihren Kameraden. Den Bürgern aber, welchen der Schlaf vorn Lager gewichen, war das ein beruhigendes Zeichen dafür, daß kein Unglück sie unter dem Schutze der Dunkelheit überraschen konnte. So klangen die Hörner durch die einsame Nacht, bis der Wächter auf dem Wendelsteine den Morgen ankündigte. Kurz darauf erschollen die hellen Stimmen der Glocken, welche die Geistlichkeit zum Chordienst und die Bürger zum Morgengebete mahnten. Vorsichtig öffneten sich die Fensterladen und knarrten die Haustüren, und bald erklang wieder überall aus den Werkstätten das muntere Treiben des neugestärkten Volkes. Aus Lehmaim: „Die gute, alte Zeit“. 32. Der reisige Kaufmann. Ich aber bin ein Handelsmann, Hab mancherley Wahr bei mir stau, Wurtz, Arlas, Thucli, Weiln und Flachß, Sammet, Seiden, Honig und Wachß, Und ander Wahr hie ungenannt, Die führ ich eyn und auii dem Land, Mit grosser sorg und gfehrlichkeit, Wann mich auch offt das Unglück reit. Der Kaufmann des frühen Mittelalters mußte in der Regel selbst reisen; er hatte noch keine Angestellten, die die Mühseligkeiten und Gefahren einer Reise für ihn hätten übernehmen können. So zog er selbst aus, schon in seinem Äußern bekundend, daß ihn „sorg und gfehrlichkeit“ nicht zu schrecken vermögen. Sein Reisekleid war grob und dauerhaft, aus festem Leder die roten Schuhe. Den Rock hielt ein starker Gurt zusammen, an dem die Geldtasche hing und ein langes Messer. Es fehlte aber auch nicht das ritterliche Schwert. — Der Kaufmann brauchte seine kriegerische Ausrüstung nur zu oft. Die Straßen waren vielfach von wüsten Wegelagerern beherrscht. Die Ritter stürmten von ihren Burgen herab, den Kaufmann anzu- 87 halten und ihm zu rauben, was man fortschleppen konnte. Aus dem Hinterhalt der Wälder brachen tückische Räuber hervor, die wohl unadelig waren, aber zu rauben und morden verstanden wie die Adeligen und die Landstraßen nicht minder unsicher machten als diese. Die Kaufleute wagten nicht mehr einzeln zu reisen. Sie schlössen sich zu großen Karawanen zusammen. Aber auch diese waren vor Überfällen nicht gefeit. Um all dem zu entgehen, pflegten sie „Geleitschutz“ anzunehmen. Sie schlössen mit dem Territorial- herrn, durch dessen Gebiet sie zogen, einen Vertrag, daß sie unter dem sicheren Geleite einer Schar Bewaffneter das Gebiet passieren konnten. Dieses Geleite kostete die Kaufleute ein schönes Sümmchen Geld. Wehe, wenn sie sich erkühnten, den vorsorglichen Schutz des frumben Ritters oder Grafen abzulehnen. Das Geleit war so recht eigentlich ein erpresserischer Wegzoll. Läßt du dich nicht von mir beschützen, dann gnade dir Gott! Am frühen Morgen wird von der Herberge aufgebrochen. Die Knechte schieben die Wagen hervor, spannen unter Schimpfen und Schelten die Pferde ein und packen auf, was noch an Wegzehrung für Menschen und Tiere mitzunehmen ist. An der Spitze des Zuges reiten, begleitet von einer Schar wohlbewaffneter Diener, die Kaufherren. In einer langen Reihe folgen die schwerbepackten Rührwerke. Den Schluß bildet wieder eine Anzahl Kaufleute mit Bewaffneten. So geht es dahin mit Hü und Hott, mit großem Lärmen und kräftigem Fluchen auf schlechten Wegen durch feuchten Grund. Schlammige Pfützen, rieselnde Bäche w erden gekreuzt. Die Pferde dampfen unter der schweren Last. Ein Wagen bleibt stecken. Ernster ist der Unglücksfall, wenn einer der schwer bepackten Wagen umkippt oder wenn ein Wagenrad bricht. Dann dauert es Stunden, bis der Zug wieder ■weiterziehen kann. Gegen den Mittag macht man Rast. Die Wagen bleiben auf offenem Felde stehen, in ihrem Schatten lagern sich die Männer, um einen kleinen Imbiß zu sich zu nehmen. Sind dann auch die Pferde gefüttert und ausgeruht, setzt sich schwerfällig die Karawane wieder in Bewegung. •— Wenig Leuten begegnet man auf der Landstraße. Da und dort einem Bauersmann, den seine Geschäfte über Land führen, einem wandernden Handwerksburschen, der fröhlich seiner Wege zieht, oder „fahrenden Leuten“, Komödianten, Schnurrenmachern und Schwarzkünstlern, wohl ab und zu auch einem Krämer, der, seine Habe auf dem Rücken, neidischen Blickes dem reichen Kaufmannszuge folgt. 88 Mit einemmal taucht eine Staubwolke vor den Blicken der an der Spitze Reitenden auf. Die Sonne blitzt gleisnerisch auf hellfunkelnde Gegenstände; der Troß kommt näher, man vermag schon deutlich das Geklirr von Waffen zu hören. Die Kaufherren wechseln besorgte Blicke, sie gebieten ihrem Zuge halt und greifen zu den Schwertern. An der Spitze der Bewaffneten sprengt ein Ritter mit geschlossenem Visier daher. Nun hält er. Laut und vernehmlich klingt seine Stimme über das Feld. Ob die würdigen Herren — aus Bamberg oder Fürth, aus Augsburg oder Ulm — ihm, dem edlen Herrn Soundso, wollten geziemende Abgaben leisten? Der älteste der Kaufherren wechselt einen Blick des Einverständnisses mit seinen Genossen und erwidert hierauf dem Ritter, daß ihm von seiner Abgabepflicht nichts bekannt sei, daß er und seine Freunde aber wohl ein übriges tun würden, so ihnen der edle Herr ein sicheres Geleite gäbe. Nach einigem Feilschen hat man sich geeinigt. Friedlich kann die Karawane am Abend in ihre Herberge einziehen. Manchmal geht es aber schlimmer aus. Die kleinen Adeligen, die nicht so leicht hoffen dürfen, als Geleite angenommen zu werden, die aber nicht minder geldgierig sind als die großen, überfallen an einer geeigneten Stelle den Kaufmannszug. Im dunklen Walde, auf einem schluchtartigen Wege oder an der Furt eines Flusses erscheinen sie plötzlich wie aus dem Boden gestampft und greifen an. In das Gewieher und Stampfen der Pferde mischen sich nun grelle Kommandorufe, das Klirren der Schwerter, das Splittern der Lanzen, das Krachen der Äxte. Dazwischen wimmert das Stöhnen der Verwundeten und das Ächzen der Sterbenden. Wehe den Kaufleuten, die in diesem Kampfe unterliegen! Sie verlieren das Gut, das sie mit sich führen. Geraten sie in Gefangenschaft, dann müssen ihre Angehörigen noch ein erkleckliches Lösegeld zahlen, vorausgesetzt, die Räuber ziehen es nicht vor, sie gleich niederzustoßen oder im Turmverließ elendiglich verschmachten zu lassen. — Ein ehrlicher, gründlicher Haß trennte die Kaufleute und Ritter. Gelang es den Bürgern, einen adeligen Straßenräuber zu fangen, dann wanderte er unweigerlich an den Galgen. Das war die ausgleichende Gerechtigkeit. Nach Jul. Deutsch: „Aus alten Tagen“. 33. Sankt Peter mit den Landsknechten. Hans Sachs (1494—1676) war Bürger der Stadt Nürnberg. Er hatte eine gute Schulbildung (Lateinschule) genossen, auf fünfjähriger Wander- 89 sehaft durch Deutschland sich im Schuhmacherberuf ausgebildet und den Meistergesang kennen gelernt. Nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt betrieb er den erlernten Beruf und pflegte daneben eifrig die Dichtkunst. Aul den Singstuben trugen sich die dichtenden Meister ihre Gesänge vor. Drei Merker paßten auf, ob das Versmaß und die Einteilung der Strophen richtig sei und ob der Inhalt des Liedes nicht gegen die Religion verstoße. Für die besten Leistungen wurden Kränze ausgeteilt. Neben solchen Meistergesängen dichtete Hans Sachs noch über 1000 spaßhafte Erzählungen, Schwanke, alle in Versen. Im hohen Alter von 82 Jahren starb er, ein eifriger Freund der Reformation und mit seinen 6000 Dichtungen der fruchtbarste Dichter der Reformationszeit. Neun armer Lantsknecht zogen aus Und garteten 1 von Haus zu Haus, Dieweil kein Krieg im Lande was; Eins Morgens da trug sie ihr Straß Hinauf bis für das Himmeltor; Da klopften sie auch an darvor. Wollten auch in dem Himmel garten. Sankt Peter tet der Pforten warten. Als er die Landsknecht darvor sach. Wie halt er zu dem Herren sprach: „Herr draußen stet eine arme Hott, Laß sie herein, es tut in' Not, Sie wollten geren hinnen 2 garten.“ Der Herr sprach: „laß sie lenger warten!“ Als nun die Lantsknecht mußten harren, Fiengens an zu fluchen und scharren: „Marter, Leiden und Sakrament!“ Sankt Peter dieser Fluch nit kennt, ' Meint, sie redten von geistling 3 Dingen, Gedacht in Himmel sie zu bringen Und sprach: „o lieber Herre mein, Ich bitte dich, laß sie herein, Nie frömmer Leut hab’ ich gesehen!“ Da tet der Herr hinwider jehen : 4 „O Petre, du kennst ir nit recht, Ich sich wol, daß es sint Landsknecht; Sollten wol mit mutwillig Sachen Den Himmel uns zu enge machen!“ Sankt Peter, der bat aber mer: „Herr, laß sie herein durch dein Eer!“ 90 Der Herr sprach: „du magst’s lassen 'rein Du mußt mit in’ behängen sein ; 5 Schau’, wie du’s wider bringst hinaus!“ Sankt Peter war froh überaus Und ließ die frommen Lantsknecht ein. Balt sie in Himmel kamen ’nein, Gartens herum bei aller Welt. Und balt sie z’sam brachten das Gelt, Knockten 6 sie nieder auf ein Plan 7 Und fiengen zu umbschanzen 8 an; Und e einvierteil Stunt vergieng, Ein Hader sich bei in’ anfieng. Von wegen einer Umbeschanz 9 So wurden sie entrüstet ganz, Zuckten von Leder 10 sie allsamen Und hauten da mit Kreften z’samen, Jagten einander hin und wider In dem Himmel da auf und nider. Sankt Peter diesen Strauß vernum, Kam, zant ’ 11 die Lantsknecht an darum Sprach: „wolt ir in dem Himmel balgen? Hebt euch hinaus an hechten Galgen!“ Die Lantsknecht in tückisch ansahen Und teten auf Sankt Peter schlahen Daß in’ Sankt Peter must entlaufen Zum Herren kam mit Echzen und Schnaufen Und klagt im über die Lantsknecht. Der Herr sprach: „dir g’schicht nit Unrecht. Hab’ ich dir nit gesaget heut: Laß sie drauß, es sint freche Leut?“ Sankt Peter sprach: „o Herr, der Ding Verstaut ich nit, hilf, daß ich’s bring Hinaus, soll mir ein Witzung 12 sein Daß ich kein Lantsknecht laß herein, Weil sie sint so mutwillig Leut.“ Der Herr sprach: „eim Engel gebeut, Daß er ein Trummei nem zuhaut Und für des Himmels Pforten stant Und einen Lerman 15 davor schlag!“ 91 Sankt Peter tet nach seiner Sag. Balt 14 der Engel den Lerman schlug, Loffen die Lantsknecht on Verzug Eilent aus durch das Himeltor, Meinten ein Lerman wer 15 darvor. Sankt Peter b’schloß die Himelporten Versperrt die Lantsknecht an den Orten Da keiner seit 16 hinein ist kummen, Weil Sankt Peter tut mit in’ 17 brummen. — Doch nemt auf schwankweis 18 diß Gedicht, Wie Hans Sachs on alls Arges spricht. Hans Sachs. 1 bettelten. * gerne hier drinnen. 3 geistlichen. * sagen. 5 Du muht sie hüten. 6 Hockten. 7 Ebene. 8 Würfelspielen. 8 eine Partie Würfelspiel. 10 zogen die Schwerter. 11 ansprechen, schelten. 18 Warnung. 13 Lärmen, Alarm. 14 sobald. 15 wäre. 16 seitdem. 17 ihnen. 18 spaßweise. 34. Aktenstücke zur Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. a) Der Freiheitsbrief der Urner von König Heinrich. Hagenau, 26. Mai 1231. Heinrich, von Gottes Gnaden König der Römer und allezeit Mehrer des Reiches, entbietet seinen Getreuen, allen im Tale Uri wohnhaften Leuten, denen der gegenwärtige Brief erzeigt wird, seine Gnade und alles Gutei Des Willens, allezeit das zu tun, was zu eurem Nutzen und Vorteil dienen kann, haben wir euch hiemit von dem Besitze des Grafen Rudolf von Habsburg losgekauft und befreit und versprechen euch, daß wir euch niemals weder durch Verleihung noch durch Verpfändung von uns veräußern, sondern euch stets zu unsern und des Reiches Diensten handhaben und schirmen wollen. Wir ermähnen daher eure Gemeinde mit aufrichtigster Zuneigung, daß ihr Betreff der Einforderung unserer Vogteisteuer und ihrer Bezahlung glaubet und tut, was unser Getreuer Arnold von Aa (? de Aquis) euch in unserm Namen sagen und zu tun heißen wird, auf daß wir eure bereitwillige Treue loben dürfen, weil wir ihn mit Vorwiesen unseres Rates zu euch abzuordnen für gut gefunden haben. Gegeben zu Hagenau am 26. Mai in der vierten Indiktion. 1 1 Indiktion = kaiserliche Zahl. Ein Zyklus von 15 Jahren, in welchem die alten, römischen Kaiser dreimal von fünf zu fünf Jahren eine Kopfsteuer erhoben. 92 b) Der Bundesbries von 1*291. Im Namen Gottes Amen. 1. Man sorgt für Ehrbarkeit und ist auf die öffentliche Wohlfahrt bedacht, wenn man Bündnisse zu gebührendem Bestand der Ruhe und des Friedens befestigt. Jedermann möge daher wissen, daß die Leute des Tales Uri und die Landsgemeinde des Tales von Schwiz und die Gemeinde der Waldleute des unteren Tales, in Anbetracht der Arglist der Zeit, damit sie sich und das Ihrige eher zu verteidigen und besser im gebührenden Stande zu bewahren vermögen, in guten Treuen versprochen haben, sich gegenseitig beizustellen, mit Hilfe, mit jeglichem Rat und jeglicher Gunst, mit Leib und Gut, innerhalb der Täler und außerhalb, mit ganzer Macht und aller Anstrengung, gegen alle und einzelne, welche ihnen oder irgend einem von ihnen irgend welche Gewalttat, Beschwerde oder Beleidigung zufügen und gegen ihr Leib und Gut irgend etwas Böses im Schilde führen würden. 2. Und auf jeglichen Fall hat jede Gemeinde der andern versprochen, ihr beizuspringen, wann es nötig sein wird, Hilfe zu leisten, und in eigenen Kosten, so weit es erforderlich sein wird, dem Angriff Böswilliger zu widerstehen und Beleidigungen zu rächen, indem sie hierüber einen leiblichen Eid darauf geleistet haben, dies ohne Hintergedanken zu halten, und die alte eidlich bekräftigte Gestalt des Bundes durch Gegenwärtiges erneuern. 3. So jedoch, daß jedermann nach dem Stande seines Geschlechts gehalten sein soll, seinem Herrn nach Gebühr gehorsam zu sein und zu dienen. 4. Wir haben auch in gemeinsamem Ratschlag und mit einhelligem Beifall einander versprochen und beschließen und verordnen, daß wir in den vorgenannten Tälern keinen Richter, der dies Amt um irgend welchen Preis oder um Geld irgendwie erkauft hätte oder der nicht unser Einwohner oder Landsmann wäre, in irgend einer Weise weder an- noch aufnehmen. 5. Wenn aber zwischen irgend welchen Eidgenossen Streit entstünde, sollen die Einsichtigsten von den Eidgenossen herzulreten, um die Mißhelligkeit zwischen den Parteien zu schlichten, wie es ihnen zu frommen scheint, und dem Teil, welcher jenen Vorschlag verschmähen würde, sollen alsdann die andern Eidgenossen Gegner sein. 6. Über dies alles aber wurde zwischen ihnen festgesetzt, daß, wer einen andern vorsätzlich und ohne Schuld tötet, falls er ergriffen wird, das Leben verlieren soll; er sei denn im stände, die 93 Unschuld in betreff der genannten Missetat zu erweisen, wie es seine verruchte Schuld erfordert, und wenn er etwa entweichen würde, soll er niemals zurückkehren. Die Hehler und Schirmer des genannten Missetäters sollen aus den Tälern verbannt sein, bis sie von den Verbündeten absichtlich zurückberufen werden. 7. Wenn aber jemand einen von den Eidgenossen am Tage oder in der Stille der Nacht vorsätzlich durch Feuer schädigen würde, soll der nimmer für einen Landsmann gehalten werden. 8. Und wenn jemand den genannten Missetäter schirmt und verteidigt innerhalb der Täler, so soll er dem Geschädigten Genugtuung leisten. 9. Ferner wenn einer von den Verbündeten einen andern des Gutes beraubt oder in irgend einer Weise schädigt, so soll das Gut des Schuldigen, wenn es innerhalb der Täler gefunden werden kann, mit Beschlag belegt werden, um dem Geschädigten der Gerechtigkeit gemäß Genugtuung zu verschaffen. 10. Überdies soll keiner den andern pfänden, er sei denn offenkundig sein Schuldner oder Bürge, und dies soll nur geschehen mit besonderer Erlaubnis seines Richters. 11. Und wenn einer dem Urteil sich widersetzt und in Folge seiner Hartnäckigkeit jemand von den Eidgenossen geschädigt wird, so sind sämtliche Verbündeten gehalten, den vorgenannten Widerspenstigen zu zwingen, daß er Genugtuung leiste. 12. Wenn aber Fehde und Zwietracht zwischen irgend welchen Eidgenossen entstehen würde und ein Teil der Streitenden sich weigert, Recht oder Genugtuung anzunehmen, sind die Verbündeten verpflichtet, dem andern zu helfen. 13. Diese obengeschriebenen, zu gemeinem Wohle und Heile verordneten Bestimmungen sollen, so Gott will, auf ewig dauern, und zum Beweis dessen ist auf Verlangen der Vorgenannten gegenwärtige Urkunde gefertigt und mit den Siegeln der drei vorgenannten Gemeinden und Täler bekräftigt worden. Geschehen im Jahre des Herrn 1291, zu Ansang des Augustmonats. öchsli, Quellenbuch. 35. Vasco da Gama in Kalikut 1498. Beinahe ein Jahr war seit der Abfahrt des Geschwaders von Lissabon verflossen. Die Handelssaison für Kalikut war bereits vorüber; die fremden Barken hatten den Hafen schon seit Monats- 94 trist verlassen. Man war im Lande nicht wenig erstaunt, zu so ungewohnter Zeit Schiffe ankommen zu sehen, die offenbar mit diesen Gewässern nicht vertraut waren. Aus Furcht vor der starken Brandung war Gama in einiger Entfernung vorn Hafen vor Anker gegangen. Bald näherten sich Boote, von denen die Portugiesen Fische, Kokosnüsse und andere Nahrungsmittel einhandelten. — Schon jetzt mußte man erkennen, daß nicht alle Einwohner sie willkommen hießen. Schiffer brachten zwei Männer aus Tunis, die spanisch und italienisch sprachen. Diese begrüßten die Portugiesen mit den Worten: „Schert euch wieder zum Teufel, der euch hergebracht hat.“ Nach längeren Unterhandlungen erst erhielt Gama die Erlaubnis, vor dem „Herrn des Hügels und der Woge“, wie man den Herrscher nannte, zu erscheinen. Er fürchtete aber Verrat und sicherte sich durch eine Anzahl vornehmer Geiseln aus dem angesehenen Kriegerstande. Dann bestieg er mit zwölf tapferen und wohlbewaff- neten Leuten ein Boot, das mit Kanonen bewehrt war. In festlichem Aufzuge, Trompeter, in weiß und rot gekleidet, an der Spitze, betrat er die Stadt. Hier bestieg er, angestaunt von einer neugierigen Menge, die prachtvolle königliche Sänfte. Mann an Mann standen zu beiden Seiten des Weges seltsam gerüstete, braune Krieger mit schwarzfunkelnden Augen und reichem Kopfputz. Beim Palaste des Herrschers wurde Gama von den Großen des Reiches in Empfang genommen und in einen Saal geführt. Der König saß auf einem Diwan. Er war von sehr dunkler Hautfarbe, mit nacktem Oberkörper, von der Mitte des Leibes bis zu den Knien in Weiß gekleidet. Eines seiner Kleidungsstücke endigte in einer langen Spitze, an welcher mehrere goldene Ringe mit großen, glänzenden Rubinen angereiht waren. Am linken Arme über dem Ellbogen trug er eine Spange, die aus drei Ringen zusammengesetzt schien und von Juwelen strotzte; namentlich der mittlere hatte höchst wertvolle Steine, und von ihm hing noch ein Diamant von der Dicke eines Fingers herab. Um den dunklen Hals wand sich eine helle Perlenschnur, deren Glieder die Größe einer Haselnuß hatten. Zweimal umgeschlungen reichte diese Schnur vorn bis auf die Mitte der Brust herab, und darüber trug er eine feine Goldkette mit einem Schmuck in Gestalt eines Herzens, welches aus einem Geschmeide von Perlen und Rubinen bestand, dessen Mitte ein großer Smaragd bildete. Das lange, schwarze Haar war auf dem Wirbel in einen Knoten geschürzt und mit Perlenschnüren umwunden; an den Ohren prang- 95 ten zahlreiche Goldringe. — Rechts und links vorn Throne standen Leibpagen mit reichverzierten Waffen und einem goldenen Spuck- napf. Der erste Brahmane reichte dem Fürsten von Zeit zu Zeit ein Blatt Betel, das dieser kaute und dann in den goldenen Napf aus- spie. — Nachdem Gama sich tief vor der indischen Majestät verbeugt hatte, reichte ihm dieselbe die rechte Hand entgegen und berührte mit den Fingerspitzen die des Admirals. Dieser trug seinen Bericht in portugiesischer Sprache vor, und Übersetzer gaben die Worte an den König weiter. Dann überreichte Gama knieend den Brief seines Königs, worin das Gleiche, d. h. der Wunsch nach einem Freundschaftsbündnis und friedlichem Handelsverkehr ausgedrückt war. Der König nahm die Botschaft freundlich entgegen, und Gama wurde feierlich aus dem Palaste geleitet. Die Ankunft der Portugiesen hatte jedoch Neid und Angst bei den arabischen Kaufleuten geweckt, die bisher den Handel mit dem König in den Händen gehabt hatten. Sie bezeichneten die Portugiesen als gemeine Seeräuber, so daß der Herrscher mißtrauisch und zurückhaltender wurde. Immerhin erhielt Gama auf einem Palmblatt eine Antwort an seinen König. Sie enthielt die Stelle: „Yasco da Gama, ein Edelmann aus Eurem Hause, hat mein Reich besucht, worüber ich mich sehr gefreut habe. In meinem Lande gibt es Zimmt, Gewürznelken, Ingwer und Pfeffer in Fülle; ich habe Perlen und Edelgestein. Was ich von Euch wünsche, ist Gold, Silber, Koiallen und Scharlach.“ Nach Rüge und Thomas. 36. /\us dem Berichte Ferdinand Cortez’ über JVIexiko. Von Cuba aus ging Ferdinand Cortez mit einem kleinen Heere, das 400 spanische Soldaten, 200 Indianer, ferner 16 Reiter und 14 Kanonen umfaßte, nach Mexiko. Dort herrschte König Montezuma über ein hochgesittetes Indianervolk, die Azteken. Das wohlangebaute Land enthielt viele Städte mit Steinhäusern und war von guten Verkehrswegen durchzogen. Zierlich gearbeitete Schmucksachen, eine Bilderschrift, Baumwollgewänder u. s. f. zeugten von einer hohen Kultur, obgleich das Eisen und unsere Haustiere unbekannt waren. Aber eine blutige Schreckensherrschaft lastete auf dem großen Reiche; denn die Azteken verlangten für ihre Götzenaltäre von den unterworfenen Stämmen zahlreiche Menschenleben. Deshalb war ihre Regierung verhaßt Montezuma versuchte, die Eindringlinge durch kostbare Geschenke zur Umkehr zu bewegen, weckte aber dadurch nur die Habsucht der Spanier. Mit Hilfe rebellischer Stämme gelang es Cortez, die Hauptstadt zu erreichen. Sie lag sehr geschützt in einem See und zählte Hunderttausende von Einwohnern. 96 Der Empfang durch Montezuma. Dicht an der Stadt befindet sich eine hölzerne IJrücke, zehn Schritte breit, unter welcher der Damm für den Zufluß und Abfluß des Wassers, sowie auch zur Befestigung der Stadt geöffnet ist; denn die sehr langen und breiten Balken können nach Willkür fortgenommen und wieder hingelegt werden. Nachdem wir die Brücke überschritten hatten, kam zu unserem Empfange jener Herr Montezuma mit etwa zweihundert anderen Herren entgegen; diese sämtlich barfuß, aber in einer anderen, gleichförmigen Tracht, ebenfalls nach ihrer Gewohnheit sehr reich gekleidet. Sie kamen in zwei Zügen zu beiden Seiten der Straße, die sehr breit, schön und gerade ist. Zu beiden Seiten hat sie sehr gute und große Gebäude, sowohl Wohnhäuser wie Tempel. Montezuma ging in der Mitte der Straße mit zwei Herren, einer zu seiner Rechten, der andere zur Linken. Alle drei waren in gleicher Weise gekleidet, nur daß Montezuma eine Fußbekleidung trug, die beiden anderen aber barfuß gingen. Beide unterstützten ihn mit dem Arm. Als wir zusammentrafen, stieg ich vorn Pferde und ging auf ihn zu, um ihn zu umarmen; aber die beiden Herren, seine Begleiter, hielten mir die Hände vor, so daß ich ihn nicht berühren konnte, und sie sowohl, als er selbst küßten die Erde. Er selbst ging mit dem andern eine kurze Strecke vor mir her, und nachdem er mit mir geredet hatte, kamen auch sämtliche Herren, die in den beiden Zügen gingen, um ein gleiches zu tun, in großer Ordnung, einer nach dem andern, und unmittelbar nachher kehrte jeder wieder in seine Reihe zurück. Als wir nun die Straße etwas hinuntergegangen waren, kam einer seiner Diener mit zwei in einem Korbe verpackten Hummerhalsbändern, aus roten Muschelschalen hergestellt, die sie hoch halten; an jedem hingen wohl acht goldene Hummer von vortrefflicher Arbeit, etwa einen halben Fuß groß. Montezuma wandte sich zu mir und legte sie mir um den Hals. Dann verfolgte er wieder seinen Weg in der schon beschriebenen Ordnung, bis wir bei einem sehr großen und schönen Haus ankamen, welches er zu unserem Quartier wohl eingerichtet hatte. Er nahm mich bei der Hand und führte mich in einen großen Saal. Hier ließ er mich auf einer reichen Estrade niedersetzen, die er für sich selbst hatte machen lassen, sagte mir, ich möchte ihn hier erwarten und entfernte sich. Kurze Zeit nachher aber, als alle meine Leute schon einquartiert waren, kehrte er zurück mit vielen und mannigfaltigen 97 Kleinodien von Gold und Silber und Federbüschen, sowie mit fünf- bis sechstausend Stück baumwollener Gewebe, sehr reich und in verschiedener Art gewoben und gearbeitet. Die verhängnisvolle Sage. Nachdem er mir das übergeben hatte, setzte er sich auf eine andere Estrade, die schnell für ihn neben der meinten bereitet wurde, und sitzend redete er zu mir folgendes: „Seit langer Zeit bereits besitzen wir durch unsere Urkunden von unsern Voreltern Kenntnis, daß weder ich, noch alle jetzigen Einwohner dieses Landes Eingeborene desselben sind, sondern vielmehr Fremde, die aus sehr entfernten Gegenden stammen. Gleichfalls wissen wir, daß unser Geschlecht durch einen Herrn hierher geführt wurde, der darauf nach seinem Geburtslande zurückkehrte, später aber wiederkam. Als er die Zurückgebliebenen wieder mit sich hinwegzuführen gedachte, wollten sie nicht folgen und ihn nicht einmal mehr als ihren Herrn erkennen, und so entfernte er sich wieder. Wir aber haben stets dafür gehalten, daß jemand von seinen Nachkömmlingen dereinst erscheinen würde, um dieses Land zu unterjochen. Und nach der Gegend, aus welcher Ihr gekommen zu sein versichert, das heißt vorn Sonnenaufgange her und nach Euren Erzählungen von jenem großen Herrn oder Könige, der Euch von dort entsendet hat, glauben wir und halten es für gewiß, daß derselbe unser angestammter Herrscher sei; besonders da Ihr sagt, daß auch er von uns seit langer Zeit schon Kunde besessen. Seid deshalb überzeugt, daß wir Euch gehorchen und Euch als Gebieter und als Statthalter jenes großen Herrn anerkennen werden, von dem Ihr redet. Und da Ihr Euch nun in der Heimat und im eigenen Haus befindet, so eriustigt Euch und ruhet aus von der Mühseligkeit des Weges und den Kriegen, die Ihr gehabt habt. Ich weiß wohl, daß man Euch viel Übles von mir gesagt hat: glaubt aber nicht mehr davon, als Ihr mit eigenen Augen sehen werdet, besonders jenen nicht, die meine Vasallen waren und die bei Eurer Ankunft gegen mich rebelliert haben. Auch weiß ich, daß sie Euch gesagt haben, ich besäße Häuser mit Wänden von Gold und die, Teppiche der Fußböden und andere Gegenstände des häuslichen ' Bedarfs seien ebenfalls von Gold und ich wäre ein Gott oder erhöbe mich zum Gott. Von den Häusern seht Ihr nun, daß sie von Steinen, Kalk und Erde sind.“ Darauf lüftete er seine Gewänder, zeigte mir seinen bloßen Leib und fuhr fort: „Hier seht Ihr auch, daß ich von Fleisch und Bein bin wie Ihr selbst und 7 Geschichtslehrmitte]. II. 98 jeder andere und daß ich sterblich und belastbar bin“ — wobei er sich mit den Händen an die Arme und an den Leib griff — „seht also, daß sie Eüch belogen haben 1“ Ich antwortete nun auf alles und bestärkte ihn besonders in dem Glauben, daß wirklich Ihre Majestät (Karl V.) der längst von ihm Erwartete sei. Hierauf empfahl er sich, und als er*fort war, wurden wir mit vielen Hühnern, Brot, Früchten und andern Notwendigkeiten, besonders auch für die Einrichtung unseres Quartiers, sehr gut versorgt. Die Stadt. Die Hauptstadt liegt in einem Landsee, und von jedem Endpunkt des Festlandes bis zum Weichbild, von welcher Seite man auch kommen möge, sind es stets zwei Stunden. Sie hat vier Eingänge, alle auf Steingängen zugänglich, die von Menschenhand gemacht und etwa zwei Reiterlängen breit sind. Ihre Hauptstraßen sind sehr breit, sehr gerade und zur Hälfte fester Boden, zur andern Hälfte aber Wasser, auf dem die Kähne fahren. Alle Straßen sind in größeren Zwischen räumen durchschnitten, so daß zwischen ihnen die Wasserverbindung besteht. Alle diese Durchschnitte haben ihre Brücken, aus großen und starken zusammengefügten Balken sehr gut verfertigt, so daß zehn Reiter in Front hinüberziehen können. Die Eingeborenen brauchten, wenn sie irgend einen Verrat spielen wollten, nur die Brücken der Zugänge abzuwerfen, um uns sterben zu lassen, ohne daß es uns möglich wäre, ans Festland zu gelangen. — Es gibt in dieser Stadt viele Götzentempel von sehr schöner Bauart. Alle Priester gehen schwarz gekleidet, und von der Zeit ihres Eintrittes an schneiden sie weder ihr Haar, noch kämmen sie es, bis sie wieder herauskommen. Alle Söhne vornehmer Familien und des Bürgerstandes treten in diesen Priesterstand von ihrem siebenten oder achten Jahre an, bis man sie verheiratet. Kein Weib darf die gottesdienstlichen Häuser betreten. — Alle großen Herren des Landes haben ihre Häuser in der Stadt, wo sie eine gewisse Zeit des Jahres residieren; außerdem gibt es darin viele reiche Bürger, die gleichfalls prächtige Häuser besitzen. Sie alle haben außer sehr schönen, großen Gemächern auch sehr hübsche Blumengärten, sowohl in den obern, als in den untern Gemächern. Längs des einen der in die Stadt führenden Steindämme laufen zwei Röhren von Mörtelwerk, jede etwa zwei Schritt breit und eine Mannslänge hoch. Durch eine derselben kommt sehr gutes 99 Wasser bis mitten in die Stadt und alle bedienen sich desselben und trinken es. Die andere leere Röhre wird nur benützt, wenn die erstere gereinigt werden muß. Man fährt in Kähnen das Wasser zum Verkauf durch alle Straßen. Der Markt. Die Stadt hat viele öffentliche Plätze, auf denen beständig Markt gehalten wird und allerlei Handel in Kauf und Verkauf stattfindet. Dann hat sie auch einen öffentlichen Platz, rings von Säulenhallen umgeben, wo sich täglich über sechzig- tausend Menschen zusammenfinden — Käufer von Vorräten und Lebensrnitteln, von Kleinodien aus Gold und Silber, Blech, Messing, Knochen, Muscheln, Hummerschalen und Federn. Auch verkauft man Werksteine, behauene und unbehauene, Kalk- und Ziegelsteine, Bauholz, zugerichtet und roh, in allerlei Gestalten. Auch ist da eine Jägerstraße, wo alle Vogelgeschlechter feilgehalten werden, die das Land erzeugt: Rebhühner, Wachteln, wilde Enten, Turteltauben, Papageien, Geier, Adler usw. Es gibt eine Baumgärtnerstraße, wo alle im Lande erzeugten, heilkräftigen Wurzeln und Kräuter sich beisammenfinden. Es gibt Apotheken, wo man zubereitete Arzneien verkauft, sowohl Tränke, als Salben und Pflaster. Es gibt Barbierstuben, wo die Köpfe geschoren und gewaschen werden. Es gibt Häuser, wo man für Geld Essen und Trinken verabreicht. Es gibt alle Arten dort vorhandener Gartengewächse, Früchte vielerlei Art, darunter auch Kirschen und Pflaumen. Man verkauft Bienenhonig und Wachs; auch einen Sirup von der Maisstaude, honigartig und süß. Auch steht mannigfaltiges Baumwollen- gespinst in allen Farben zum Verkauf. Man verkauft Töpferwaren von ganz vorzüglicher Güte, alle aus einem ganz besonderen Ton verfertigt und alle oder doch die meisten glasiert und bemalt. Man verkauft Pasteten von Geflügel und Torten von Fischen etc. etc. Kurz, man verkauft alle Gegenstände, die sich irgend auf der ganzen Welt finden. Jede Gattung Waren steht in ihrer besonderen Straße feil, ohne daß sich irgendwelche Ware dazwischen mischen dürfte, und es wird darin scharfe Ordnung gehalten. Alles wird nach Zahl und Maß verkauft. Dann gibt es Personen auf dem Platze, die beständig unter dem Volke umhergehen, auf alle acht haben, was verkauft wird und auf das Maß, womit man verkauft. Ich habe gesehen, daß man manches zerbrach, weil es als falsch erfunden wurde. Die Hofhaltung Montezumas. Die Art seiner Hofhaltung war die, daß täglich mit Sonnenaufgang etwa 600 Herren und Standes- 100 personen sich in sein Haus verfügten, ohne dort hineinzukommen, wo er sich persönlich aufhielt. Ihre Dienerschaft und die Personen ihres Gefolges füllten zwei oder drei Höfe und außerdem noch die Straße, die sehr geräumig war. Dort blieben sie den ganzen Tag bis Sonnenuntergang. Wenn man Montezuma das Mittagsmahl brachte, wurde es jenen Herren ebenfalls und ebenso zubereitet gebracht, und auch Diener und Leute empfingen ein jeglicher seine Ration. Täglich standen Speisekammern und Keller für alle offen, die da essen oder trinken wollten. 3 bis 400 Jünglinge brachten die Gerichte, die zahllos waren. Unter jeder Schüssel oder Schale waren Wärmepfannen mit glühenden Kohlen, damit die Speisen nicht erkalten. Alle wurden zusammen in seinem großen Eßsaal aufgetragen, so daß dieser beinahe ganz angefüllt wurde. Er war schön mit Matten belegt und sehr reinlich. Montezuma aber saß auf einem kleinen, sehr schön gearbeiteten, ledernen Polster. Ein Diener stand in Bereitschaft, ihm die Gerichte vorzuschieben und wegzunehmen und ließ sich von andern zureichen, was zum Dienste nötig war. Zu Anfang und zu Schluß der Mahlzeit wurde ihm stets Wasser zum Händewaschen gereicht. Das Handtuch aber brauchte er niemals wieder; auch wurden dieselben Schüsseln und Schalen niemals wieder aufgesetzt- und ebenso auch die Wärmepfannen. Er kleidete sich täglich viermal auf verschiedene Art und jedesmal in ganz neue Gewänder, von denen er keines zum zweiten Male anzog. Alle Herren mußten barfuß eintreten, und sie trugen Kopf und Augen gesenkt, den Körper in sehr demütiger Haltung; sie benahmen sich so aus großer Scheu und Ehrfurcht. Wenn er ausging, so beugten alle, die ihn begleiteten, das Antlitz und hüteten sich wohl, ihn anzusehen, und alle übrigen warfen sich nieder, bis er vorüber war. Schauerlich waren aber die zahlreichen Menschenopfer, die dem Kriegsgott Huitzilopochtli auf der Plattform eines Riesentempels, der einer Stufen- pyramide glich, dargebracht wurden. Boden und Wände waren schwarz von geronnenem Menschenblut. Die alte Prophezeiung raubte Montezuma jedes Selbstvertrauen. Cortez nahm ihn gefangen. Die Härte und Habsucht der Spanier entzündete aber einen Aufstand, in dem Montezuma, der im Auftrage der Spanier das Volk beruhigen wollte, von den eigenen Landsleuten getötet wurde. Cortez mußte die Stadt räumen und beim Rückzug über die gefährlichen und von den Feinden besetzten Dämme büßte er */a seiner spanischen Soldaten ein. („Die Nacht der Trübsal“.) Nachdem Cortez sich wieder verstärkt hatte, nahm er trotz des heldenhaften Widerstandes des neuen Königs Guatemotzin die Stadt im Sturme. Dabei war er wieder von zahlreichen 101 Indianerscharen unterstützt, die ihre Unabhängigkeit zu erkämpfen hofften. — Das eroberte Land geriet aber in drückende Knechtschaft. 37. Die Bauern vor Töß. Am Pfingstmontag 1525 erschienen gegen viertausend Bauern in Wehr und Waffen mit Trommeln und Pfeifen in Töß. Von Zürich kamen zur Beruhigung der Gemüter die Bürgermeister Böist und Wälder und fünf Räte, von Winterthur die zwei Schultheißen Hans Unser und Hans Meyer, der Stadtschreiber Hegner und einige angesehene Bürger, von der Kiburg herunter erschien der beliebte Landvogt Lavater, alle, um womöglich Frieden zu stiften und das Frauenkloster Töß zu schützen. Die Nonnen hatten ihre Kostbarkeiten in die Winterthurer Stadtkirche geflüchtet und die Pforten des Klosters wohl verwahrt. Allmählich nahm die Versammlung ein drohendes Aussehen an. „Heute ist Zürich am höchsten gewesen“, wurde gerufen, „wir wollen auch einmal die Herren spielen und zu Rosse sitzen; die Herren können dann zu Fuß gehen“, riefen andere. Wieder andere meinten: „Den Herren in der Stadt müssen wir ihre Vollbäuche auslassen“ usw. Einige der Eifrigsten rieten, das Kloster anzuzünden und nicht eher zu weichen, als bis es verbrannt sei und die Herren nachgegeben. Da diese die Leibeigenschaft aufgehoben, müßten sie nun Zins und Zehnten ebenfalls freigeben. Inzwischen hatten aber die Ratsboten aus Zürich und Winterthur mit verschiedenen ruhigeren Männern gesprochen und namentlich Landvogt Lavater hatte die Leute besänftigt. Die Bauern verlangten jetzt zu essen und zu trinken, und während der Vogt bereitwillig die Vorratskammern des Klosters öffnen ließ, beschlossen die Bauern, auf einem neuen Tag zu Kloten zusammenzukommen. Während des Gelages, in welchem der Wein in Kübeln aus den Klosterkellern gebracht und Gebackenes und Gebratenes in Menge serviert wurde, entfernten sich die gemäßigteren Bauern immer mehr, und nur die unruhigsten und hitzigsten blieben noch vor dem Kloster. Dieses aber hatte 30 Saum Wein, 18 Mütt Kernen (1 Mütt gab 100 Pfund Brot), dreißig Schafe und zwei Ochsen gespendet, um Hunger und Durst der Versammelten zu stillen. Als der Abend kam, luden die Winterthurer die Bauern zu sich in die Stadt ein, wo es zu essen und zu trinken genug gebe. Etwa zweitausend sollen der Einladung gefolgt haben; sie wurden auf den 102 Gaststuben reichlich bewirtet und in Bürgerhäusern beherbergt, doch verwahrte man die Waffen der Zecher und bewachte diese die ganze Nacht. Die Ratsboten von Zürich blieben im Kloster, das während der Nacht ebenfalls bewacht wurde; denn eine Anzahl Bauern, die in Töß geblieben waren, versuchten dreimal, den Klosterkeller mit Blöcken zu stürmen. Am folgenden Morgen wurden die Bauern geweckt und mit einer Strafpredigt nach Hause geschickt. Die Kosten der Verpflegung, auch derjenigen in Winterthur, zahlte das Kloster Töß, und noch einige Wochen lang erschienen aus verschiedenen Dörfern des äußern Kantonsteiles Rechnungen für die Zehrung, die heimkehrende Bauern dort genossen hatten. Nach Sulzer. Bilder aus der Geschichte des Klosters Töß. 38. Vor der Schlacht. Als sich im ersten Kappelerkriege die Zürcher im Felde befanden, dichtete und komponierte der im Lager weilende Reformator untenstehendes Lied, das später weit und breit in Städten und an Fürstenhöfen gesungen und geblasen wurde. Herr, nun heb den Wagen selb’! Schelb 1 wird sust All unser Fahrt. Das brächt Lust Der Widerpart, 2 Die dich Veracht so freventlich. 1 Schief. 1 Gegner. Gott, erhöch 3 den Namen din In der Straf Der bösen Bock! Dine Schaf Widrum erweck, Die dich Lieb haben inniglich 1 3 F.rhöhe. 1 Fern. Hilf, daß alle Bitterkeit Scheide feer 4 Und alte Treu Wiederkeer Und werde neu, Daß wir Ewig lobsingen dir. G. Finsler, Ulrich Zwingli. 39. Die Kappeler Mchsuppe, Juni 1529. n Nun war es in den V Orten sehr teuer und großer Mangel und Hunger. Auf eine Zeit nahmen viel tapfere Gesellen eine große Mutte mit Milch und stellten sie mitten auf die Grenzmark, schrien den Zürchern zu, sie hätten da wohl einen guten Brocken Milch, aber nichts darein zu brocken. Da liefen redliche Gesellen von den Zürchern hinzu mit Brot und brockten ein, und lag jeder Teil auf seinem Erdreich und aßen die Milch miteinander. Wenn dann einer über die halbe Mutte hinausgriff und aß, schlug ihn der 103 andere Teil auf die Hände und sagte: „Friß auf deinem Erdreich!“ Und solche Scherze geschahen noch mehrere, daß, da es dem Stadtmeister von Straßburg, Jakob Sturm, der auch unter den Schiedleuten war, zu Ohren kam, er sagte: „Ihr Eidgenossen seid wunderbare Leute; wenn ihr schon uneins seid, so seid ihr eins und vergoßt der alten Freundschaft nicht. Nach Öchsli, Quellenbuch. 40. Die Wiedertäufer auf dem Schnurrenberg. In der Novelle „Ursula“ schildert Gottfried Keller das Treiben der Wiedertäufer im Zürcher Oberland und das tragische Lebensende Ulrich Zwinglis. Ursula Schnurrenberger und der Reisläufer Hansli Gyr sind Nachbarskinder. Sie haben sich liebgewonnen; aber Ursulas Vater ist ein eifriger Täufer geworden und hat dabei sein Heimwesen vernachlässigt. Hansli Gyrs Vater dagegen hatte seinen Hof verkauft, und der Junge war in die italienischen Kriege gezogen, von wo er als Rottmeister heimkehrte. Er ist ein eifriger Anhänger Zwinglis und haßt die Wiedertäufer, unter denen es neben solch harmlosen Narren, wie die in diesem Stücke geschilderten, auch studierte und sehr gescheite Leute gab. Enoch Schnurrenberger war in letzter Zeit mit den Seinigen zurückgekehrt, nachdem man in den Nachbargebieten mit der Sache der Wiedertäufer wegen zu großer Tollheit aufgeräumt hatte, die eigentlichen Häupter aber entweder tot oder verbannt oder eingekerkert waren. 1 Neuestens hatte er den Spruch: „Wer sich nun selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größeste im Himmelreich!“ wörtlich auszulegen und auszuüben begonnen. So saß er denn schon am Vormittage des 10. Weinmonats 1531, 8 statt der Arbeit nachzugehen, mit dem Anhange, der ihm geblieben und ihm heimlich nachzog, auf seinem abgelegenen Hofe und spielte kleines Kindlein. Er war gebückt und eingefallen, hatte einen langen, weißen Bart, der ihm bis zum Bauche ging. Mit nackten Beinen hockte er in einem roten, alten Weiberrock, der ein Kinderröcklein vorstellen sollte, auf dem Stubenboden und baute ein kleines Fuhrwerklein von Brettchen, das er mit Spreuer belud und dazu mit Kinderlauten stöhnte: Lo lo lo, da da dal wobei ihm die eingetretene Engbrüstigkeit zu schaffen machte. Der Schneck von Agasul 8 hatte sich von Zaunstecken einen Laufstuhl gezimmert, in welchem er umherhumpelte, einen Lutschbeutel im Munde. Manchmal zog er diesen heraus und rief: „Schneck heiß’ ich, Schneck bin ich und hole dennoch den geschwinden Herrgott ein, der auf der Windsbraut reitet“. Der kalte Wirz von Goßau an seinem Orte hatte eine Schnur um einen Ofenfuß gebunden und peitschte den Ofen 104 unablässig mit einer Kindeigeißel, bald auf dem Boden kauernd, bald auf dem Ofen sitzend wie auf einem Pferde. Den besten Teil hatte Jakob Rosenstiel erwählt; er lag auf einem Strohsack in der Ecke und stellte das Kind in der Wiege vor, indem er versuchte, die große Zehe des rechten Fußes zum Munde zu bringen, was wegen seiner Beleibtheit nicht wohl möglich war. Ein paar fremde Weiber zogen Tannzapfen an langen Faden in der Stube herum weil sie kein anderes Spielzeug zu schaffen wußten oder solches ihren eigenen Kleinen abgesehen hatten. Die alte Schnurrenbergerin stand in der Küche vor dem Herde, unter dem Arme eine von Lumpen gemachte Puppe haltend und ein blaues Kindermützchen, in welchem einst Ursula getauft worden, auf den grauen Haaren tragend, an welche es notdürftig festgebunden war, doch so, daß es schief auf dem linken Ohre saß Sie kochte einen Haferbrei für die sämtliche Gesellschaft. Zuweilen vereinigten sich alle die bejahrten Leutchen, bildeten einen Ring und tanzten im Kreise, sangen Kinderliedchen, klatschten in die Hände und hüpften in die Höhe. Zuweilen hielt der eine oder der andere eine kurze Predigt im Kinderton; dann aßen sie, was sie dürftig zusammengetragen hatten, und zankten sich scheinbar wie die kleinen Kinder um die großem Bissen. Als es aber gegen Abend ging, erhob sich Enoch plötzlich und sagte mit seiner gewöhnlichen, unverstellten Stimme: „Nun haben wir genug getan für heute, ihr Kinder! Nun wollen wir Feierabend machen und noch ein wenig zusammensitzen!“ Sogleich juckten alle mit einem Frohgefühl in die Höhe, so rasch sie es in ihren verschiedenen Altersjahren vermochten, dehnten ihre Glieder, kratzten sich die Beine und saßen dann unverweilt um den Tisch herum, wo sie wie ehemals mit nüchternem Ernste anheben, Karten zu spielen. Kaum hatten sie aber eine halbe Stunde in tiefstem Ernste die Köpfe zusammengesteckt und die Karten auf den Tisch geschlagen, so wurden die Türen aufgestoßen, und es stürmten zwei Männer in Waffen so aufgeregt herein, daß die Spieler zusammenfuhren und meinten, die öffentliche Gewalt breche wieder über sie los. Es war jedoch der benachbarte Landmann, der den Hof des Hansli Gyr erworben hatte mit seinem Sohn. „Hört Ihr denn gar nichts, was in der Welt vorgeht?" riefen die Männer, „macht doch die Fenster auf! der Rottmeister Gyr reitet wie der wilde Türst durch die Dörfer und rafft Volk zusammen! die fünf Orte sind aufgebrochen unl stehen in großer Zahl an der Grenze; alles muß nach Zürich! 105 Hört Ihr wie der Landsturm geht? Lasset Eure Narrenspossen und wahret Haus und Hof, so gut Ihr könnt, und eile mit, wer noch Kraft hat! Denn Euch geht’s erst recht um Leib und Leben.“ Damit liefen sie davon und den Berg hinunter. Die erschreckten Leute traten vor das Haus und hörten, wie es überall Sturm läutete, Trommeln tönten und sahen die Feuerzeichen auf den Hochwachten weit ins Land hinaus. Aus „Ursula“ von Gottfried Keller. 1 So Konrad Grebel und Felix Manz. 2 Am Tage vor der Schlacht bei Kappel. 3 Bei lllnau. 41. Die Schlacht bei Kappel. 1531. Alle Straßen waren beleuchtet, und es wurde gerufen, befohlen, gerüstet, ab- und zugegangen. Die Vorhut war schon am Nachmittag nach Kappel gezogen; jetzt sammelte sich nur langsam das überraschte Volk. Es wurde eingereiht und abgezählt, gespeist und getränkt, was da war. Ursula huschte unter der wogenden Bevölkerung hin und her und sah den Hansli Gyr deutlich und genau, wie er im Fackellichte, jetzt zu Fuß und ganz ruhig, auf und nieder ging und die Züge ordnen half. Sie erkannte ihn, hütete sich aber, ihm unter das Gesicht zu kommen, und ebenso, ihn aus den Augen zu verlieren. Als gegen Mittag des folgenden Tages endlich das Banner abzog, war sie schon auf der Straße nach dem Albisberge vorausgegangen und schlüpfte längs derselben in den anstoßenden Wäldern unverdrossen dahin. Mitte Wegs ruhte sie wieder aus und sah durch die Bäume hindurch das unvollständige und in Verwirrung aufgebrochene Heer vorüberziehen. Reiter, Geschütz und Fußvolk waren durcheinander gemengt; doch der tiefe Ernst, welcher über den Ziehenden schwebte, und das schöne, der Ursula ungewohnte Aussehen derselben mutete sie wie reinere Luft an. Unter den stattlichen Männern, die in der Nähe des Banners ritten, war Ulrich Zwingli selbst, und sein sympathischer Anblick erhellte die Seele des unverwandt schauenden Weibes. Der schlanke Mann trug über dem langen Gelehrten- oder Predigerrock einen guten Stahlharnisch, seinen Kopf schützte ein eigentümlicher, runder Stahlhut mit breitem Rande, auf der Schulter lehnte eine halblange, eiserne Halbarte oder eher Streitaxt von zierlicher Form, und an seiner linken Seite hing das Schwert. Aber trotz allen diesen Waffen lag auf seinem schön ge- 106 prägten Gesichte ein ahnungsvoll trauriger, frommer und ergebener Ausdruck. Sie rührte sich aber nicht und setzte ihren Weg erst wieder fort, als der Zug vorbei war und die Berghöhe überschritten hatte und sich zu sammeln begann. In weitem Bogen umkreiste die farblose Gestalt, vorn Erdboden kaum zu unterscheiden, alle Bewegungen des kleinen Heeres, das seine Hauptstärke erst noch erwarten sollte, während verbündete Kriegsmassen untätig fern im Westen lagerten, die feindlichen Brüder aber achttausend Mann stark heranzogen. Sie stand jetzt vor jenem Gehölze zur Linken der Zürcher Stellung, welches zu besetzen diese versäumt hatten, und sah beide Heere; der Geschützkampf, der schon seit geraumer Zeit angefangen, scheuchte sie jedoch in das Innere des Waldes. Sie fand eine alte Buche, deren starke Wurzeln eine Bucht bildeten und überdies eine kleine Erdhöhle umspannten; in diesen Schutzort schmiegte sie sich hinein und saß da wohl geborgen, wie sie glaubte. Sie öffnete jetzt rasch ihr Reisebündelchen, da die Zeit gekommen war, sich zu stärken, und zog ein Fläschchen Wein und ein Stück getrockneten Fleisches mit Brot hervor, aß und trank und war ziemlich guter Dinge. Jetzt knisterte und schallte es aber auf einmal in den Bäumen und in ihrem Rücken; die wenigen Schützen von Uri, welche die Stellung und die hier mögliche Umgehung der Zürcher erkundeten, hatten das Gehölz besetzt und schössen aus demselben, worauf die Zürcher einen Teil ihres Geschützes herwendeten und ihre Kanonenkugeln über Ursulas Haupt in die Bäume schlugen. Dann wurde es wieder still um sie her; die Schützen hatten das Gehölz verlassen, um die bisher zum Angriff noch unentschlossene Hauptmacht der Katholischen heranzurufen. Dann nahte das Gewitter in Ursulas Rücken wirklich heran; zu vielen Tausenden brach der Gewalthaufe der fünf Orte durch Wald und Gebüsch und zu beiden Seiten darüber hinaus, daß ein so gewaltiges Getöse, Prasseln und Brausen entstand, als ob die Erde erbebte und der Wald brüllte. Ursula duckte sich mit gefalteten Händen; aber es schien kein Ende nehmen zu wollen. Links und rechts stürmten unaufhörlich neue Scharen ergrimmter Männer an ihr vorüber, sie sah jedoch fast nur deren breite Füße, unter welchen der Waldboden samt dem Unterbusch sich bald in eine zerstampfte Heerstraße verwandelte. Zum Glück zerteilte der alte Buchenbaum, in dessen Wurzeln sie saß, den Strom des wilden Heeres in ihrem Rücken; um so betäubender 107 tönten die Landhörner, Trompeten und Trommeln ihr in die Ohren, und sie lehnte sich zuletzt halb ohnmächtig an das gute und sichere Baumfundament. Endlich aber wurde es abermals stille um sie her. Die Letzten waren vorübergeeilt, die ganze Heermenge war nun zwischen ihr und der geringen Schlachtordnung der Reformierten, welche zudem eben im Vollzug einer Wendung begriffen war. Jetzt hörte Ursula das Geschrei des Angriffs die Luft erschüttern, ein Sturm von Schmäh- worten, die mit ebenso lauten und bitteren Schelten erwidert wurden, hierauf das Getöse eines heftigen Schiagens, das aber nicht lange dauerte, da die Schlacht von jetzt an den unglücklichen Verlauf nahm, der für die Zürcher in den Sternen geschrieben stand. Die Sonne neigte sich dem Untergänge; unter den Gefallenen der Wahlstatt lagen bis auf wenige die angesehensten Zürcher, die ausgezogen, gegen dreißig Ratsglieder, ebenso viele reformierte Seelsorger, vielfach Vater und Sohn und Brüder nebeneinander, Land- und Stadtleute. Zwingli lag einsam unter einem Baume. Er hatte nicht geschlagen, sondern war nur mannhaft bei den Seinigen im Gliede gestanden, um zu dulden, was ihnen bestimmt war. Er war mehrmals gesunken, als die Flucht begonnen, und hatte sich wieder erhoben, bis ein Schlag auf und durch den Helm ihn an der Mutter Erde festgehalten. Die sinkende Sonne glänzte ihm in das noch feste und friedliche Antlitz; sie schien ihm zu bezeugen, daß er schließlich nun doch recht getan und sein Amt als ein Held verwaltet habe. Aus „Ursula“ von G. Keller. 42. Der armen Frow Zwinglin Klag. O Herre Gott, wie heftig schluog Mich dines Zornes Ruothen! Du armes Herz, ist’s nicht genuog, Kannst du noch nicht verbluoten? Ich süfz: 0 Nacht, wärst du verbracht; Möcht doch din Dunkel wychen! Entschlafen koum, plagt mich der Troum Mit itel Bluot und Lychen. Ich renn in Stryt, ich suoch und kann Durch Spieß und Schwerter dringen. Find Mann, Sün 1 , Bruoder 2 , Schwestermann 3 Im Bluot und Tode ringen. Man zeiget ouch den schwarzen Rouch, Sich hoch zum Himmel schwingen. Ich seh die Rott mit Hohn und Spott Ihr Greweltat vollbringen . 4 Es gellet ouch das Jammergschrey 5 Mir stäticklich in Oren: „Uf, WaSen, Waffen, alls herbyl Ach Gott, wir hand verloren! Uf Wyb und Mann, louf, louf wer kann! Der Feynd ist vor den Thoren. So helf uns Gott, alls, alls ist tod! Louft, louft zu Mur und Thoren!“ Ich fürcht die Nacht, ich fürcht den Tag, Ich schüch mich vor den Lüten; Ich hör nur Jammer, Angst und Klag, Nur Bschuldigen und Stryten, Man ficht mich an; „Dein Mann hat’s than!“ Les ich in vielen Ougen. Es bucht der Hohn: „Das Alt muß koh’nl“ Bald offenbar, bald t ougen . 6 Komm du, o Buoch! du warst sin Hort, Sin Trost in allem Übel. Ward er verfolgt mit That und Wort, So griff er nach der Bibel, Fand Hilf bey ihr. — Herr zeig ouch mir Die Hilf in Jesu Namen! Gieb Muoth und Stärk zum schweren Werk, Dem schwachen Wybe! Amen. (Martin Usteri.) Aus Salomon Heß: Anna Reinhard. 1 Junker Gerold Meyer; Anton Wirtz, Tochtermann; der andere Tochtermann, Balthasar Keller, war auf den Tod verwundet (alle drei Kinder aus erster Ehe). 2 Bernhard Reinhart. 3 Hans Lütschy. 4 Vierteilung und Verbrennung. 3 Die Unglücksnachricht kam in der Nacht nach Zürich; es trafen Verwundete ein, ein Jammer folgte dem andern. 3 Heimlich, versteckt. 109 43. Ulrich Zwingli. Ulrich Zwingli wurde im Toggenburg geboren, und die helle, frische, klare Art der Toggenburger blieb ihm immer eigen. Wie er aussah, wissen wir nicht genau, weil alle Bilder, die es von ihm gibt, erst nach seinem Tode angefertigt worden sind. Doch wird er als ein schöner, stattlicher Mann von gesunder Gesichtsfarbe geschildert. Seine Gegner nannten ihn etwa den „roten Uli“, und der deutsche Reformator Luther erboste sich einmal über das klare Leuchten seiner schwarzen Augen. Seine Stimme war eher schwach als stark, Da sie aber hell klang, vermochte sie auch die weiten Hallen des Großmünsters zu Zürich zu füllen. AIs Prediger hatte er eine gewaltige Wirkung. Ein Zuhörer berichtet, es sei ihm bei Zwinglis Predigt gewesen, als werde er ' an den Haaren in die Höhe gezogen. Er redete klar, so daß ihn alle verstanden. „Der wird es sagen, wie die Sachen stehen“, meinte ein angesehener Zürcherbürger, der, ehe Zwingli nach Zürich kam, nie in die Kirche gegangen war. Gelegentlich machte er einen Scherz, So redete er einst gegen das kirchliche Verbot gewisser Speisen. „Ein Christ darf alles essen“, rief er aus; dann fügte er hinzu: „Verstand von allem, sonst wär’ er ein untrüwlicher Fraß“. Im ganzen aber war seine Predigt gewaltig ernst. So sagte er von den Kardinälen im roten Kleid: „Sie tragen billig rote Hüte und Mäntel; denn schüttelt man sie, so fallen Dukaten und Kronen heraus; windet man sie, so rinnt deines Sohnes, Bruders, Vaters und guten Freundes Blut heraus“. So griff er die Habsucht und Prunkliebe der damaligen hohen Geistlichkeit, die Unwissenheit und Trägheit der Mönche hart an. Denn Jesus, sein Vorbild, war selbstlos, arm, tätig und voll Liebe gewesen. Er scheute sich nicht, angesehene Leute, die offenkundige Sünder und Schädiger des Volkswohles waren, mit Namen zu nennen und ihr Verhalten zu brandmarken. Das machte gewaltiges Aufsehen. Was Zwingli predigte, war das Tagesgespräch, wurde in den Häusern und Wirtschaften verhandelt und schied die Zürcher rasch in solche, die eifrig für, und in solche, die eifrig gegen ihn waren. Seine Gegner hielten sich nicht im Verborgenen, sondern traten ihm entgegen. So predigte er einmal im Fraumünster. Da zog einer, der nicht mit seinen Worten einverstanden war, das Schwert und wollte auf ihn eindringen. Ein andermal saß er tief in der Nacht noch über seinen Büchern, als zwei Männer große Steine durchs Fenster warfen, so daß die Hausgenossen in großem Schrecken um Hilfe riefen. Zwingli hieß sie schweigen, trat aus Fenster und rief, wenn sie etwas mit ihm zu reden hätten, dann sollten sie das am hellen Tage und so wie es recht sei, nicht mit Gewalttaten tun. Er kannte keine Furcht, sondern wußte sich als Gottes Werkzeug und war bereit, den Weg zu gehen, den ihn Gott führte. Dies hat er nicht bloß oft mit ergreifenden Worten ausgesprochen, sondern auch zuletzt durch den Tod bewährt. Schon in jungen Jahren war Zwingli durch Gelehrsamkeit weithin bekannt. Er hat nie aufgehört, sich weiter und besser zu unterrichten. Noch liegt in Zürich eine Abschrift der Briefe des Paulus, die er gemacht hat. Er haßte darum die Unwissenheit, die aus der Trägheit stammt. Einen Pfarrer von Glattfelden, der sich rühmte, . er könne weder hebräisch noch griechisch (die Grundsprachen des Alten und des Neuen Testamentes) fuhr er vor vielen Leuten an: „Herr von Glattfelden, man sieht und hört am Schwanz wohl, was Ihr für ein Vogel seid; ich glaube wohl, daß Ihr keine der Sprachen könnt“. Einmal einige Tage von Zürich fort, schrieb er seiner Frau: „Schick mir, sobald du kannst, den Tolggenrock“. Das war Zwinglis Hausrock, von seinem Studium mit „Tintentolggen“ bedeckt; der Fleißige mochte ihn nicht missen. Die Zahl der Briefe, die Zwingli für seine Sache nach nah und fern zu schreiben hatte, ist gewaltig. Dazu kommen die Bücher und Schriften, die er in den Druck gab. Sie mußten oft in wenigen Tagen fertig sein, und oft war der Anfang schon gedruckt, wenn Zwingli das Ende erst schrieb. Dazu kamen Besuche, Sitzungen, Gutachten für den Rat, Vortrage, Predigten, Besprechungen. Wir begreifen es, wenn Zwingli wiederholt über große Müdigkeit klagen mußte. Erwähnt sei noch, daß er stets arm blieb. Für seine Bücher nahm er nie Bezahlung an. Sein Lohn war zu wissen, daß Gott ihn zu großem brauche. Zwinglis Wirken war von der Liebe zu Land und Volk durchdrungen. „Bi Gott, all mein Tag von Kindswesen uf hab’ ich Liebe gehabt so groß und stark gegen einer frommen Eidgenossenschaft, daß ich in meinen jungen Tagen mich deß flyßlichen gebracht hab in allerlei Künsten und Klugheiten, um ihr zu dienen.“ Neben die große Vaterlandsliebe trat immer deutlicher eine tiefe Frömmigkeit. 1519 lag er an der Pest auf den Tod krank. Er dichtete damals, immer ein Freund des Liedes und der Musik, ein ergreifendes Lied. 111 Darin heißt es: „So muß mein Mund dein Lob und Lehr aussprechen mehr denn vormals je“. Als die Zürcher über den Aldis in die Schlacht bei Kappel ritten, sah ihn einer auf seinem Roß daherreiten, ernst und laut betend. Der Volksfreund und der Gottesmann waren in ihm gleich groß geworden. Beim Abschied von Zürich erfüllten ihn bange Ahnungen. Mit ihm zog sein Stiefsohn, sein Schwager, der Schwager seiner Frau und der Mann seiner Stieftochter in den Tod für den Glauben. Am Anfang der Schlacht sagte ein Zürcher zu ihm: „Meister Ulrich, wie ist ihm jetzt? Wie gefällt Euch diese Sache? Sind die Raben gesalzen? Wer will’s ausessen?“ Seine Antwort war: „Ich und mancher Biedermann, der hier in der Hand des Gottes steht, dem wir lebend und tot gehören“. Als die Niederlage entschieden war, lag unter den Toten und Verwundeten auch der, durch dessen Predigt der ganze Glaubensstreit entfacht worden war. Man bot ihm einen Priester an, dem er beichten könne. Er schüttelte den Kopf und sah gen Himmel. Man mahnte ihn, die Mutter Gottes im Herzen zu haben und die Heiligen anzurufen. Er schüttelte abermals den Kopf und sah unverwandt gen Himmel. Da erzürnten die Umstehenden und ein Unterwaldner Hauptmann schlug ihn tot. Er war sechsundvierzig Jahre und zehn Monate alt. Mit seinem Leben und durch seinen Tod hat er sein Wort bewährt: „Einmal muß man seinen Sinn weihen, daß man unzertrennlich, auch mit Verlust des Vermögens und des Lebens an Recht und Wahrheit und Gott hange.“ Ludwig Köhler. 44. Die Pariser Bluthochzeit 1572. Der angesehenste und einflußreichste Hugenottenführer war der Admiral Coligny, ein Mann aus einem der ersten Geschlechter. Selbst dem schwachen und unselbständigen König Karl IX. nötigte er Achtung und Bewunderung ab. Dieser zog ihn nach dem Friedensschluß an seinen Hof, zeichnete ihn vor allen andern aus und unternahm nichts ohne seinen Rat. Diese glänzende Stellung des Admirals erfüllte die Mutter des Königs, Katharina von Medici, eine Italienerin, mit großer Sorge, da sie fürchtete, ihren Einfluß auf den Sohn zu verlieren. Sie und ihre Vertrauten, vor allem die Guise, beschlossen daher den Tod des gefährlichen Mannes. Zahlreich hatten sich die Hugenotten zum Ehrentage ihres vor- 112 nehmsten Führers, Heinrich von Bourbon, in Paris eingefunden; die edelsten Geschlechter waren vertreten. Im Gefühle völliger Sicherheit verlebten sie die Freudentage. Aber fünf "sage nach der Hochzeit Heinrichs von Bourbon mit Margaretha von Valois schoß ein gedungener Mörder auf den Admiral und verwundete ihn am Arm. In trotzigem Tone verlangten die hugenottischen Edelleute Hache und Sühne. Der König selber geriet in den heftigsten Zorn und befahl eine strenge Untersuchung. Katharina aber entschloß sich, alle Gegner auf einen Schlag zu vernichten; die gesamte hugenottische Führerschaft sollte fallen. Dem schwachen Sohn wußte sie klar zu machen, daß das Wohl Frankreichs und sein eigenes die Tat verlange. Und der Schwächling gab nach: „Bei Gottes Tod, der Admiral soll sterben und mit ihm alle Hugenotten, damit keiner übrig bleibt, der mir Vorwürfe macht.“ Mit teuflischer Überlegung und Planmäßigkeit traf man die Anordnungen zu der entsetzlichen Tat. Die Tore der Stadt wurden geschlossen und sorgsam bewacht. Keiner sollte entrinnen. Die königlichen Garden, Schweizer und Franzosen, wurden unterrichtet, die fanatischen Pariser bewaffnet. Eine weiße Armbinde und ein Kreuz am Hute schützten vor Verwechslung. Um Mitternacht des 14. August ertönte die Sturmglocke, das verabredete Zeichen zur schauerlichen Blutarbeit. Mit wüstem Geschrei stürzten die Mörderbanden in die Quartiere der schlafenden Hugenotten. Das erste Opfer war Coligny. In seinem eigenen Gemach stieß man ihn nieder; der noch lebende Körper wurde durch das Fenster auf das Pflaster zu Füßen der dort harrenden Guise geworfen. Alle seine tapferen Freunde, Kampfgenossen vieler Schlachten, frohe südländische Gesellen, fielen ohne Gegenwehr in unehrlichem Kampfe. Aus dem „Amulett“ von C. F. Meyer: (Ein reformierter Bemer erzählt): „Schon im Hofe des Louvre bot sich meinen Augen ein schrecklicher Anblick. Die Hugenotten vorn Gefolge des Königs von Na- varra lagen hier, frisch getötet, manche noch röchelnd, in Haufen übereinander. Längs der Seine weiter eilend, begegneten wir auf jedem Schritte einem Greuel. Hier lag ein armer Alter mit gespaltenem Schädel in seinem Blute, dort sträubte sich ein totenblasses Weib in den Armen eines rohen Lanzenknechtes. Eine Gasse lag still wie das Grab, aus einer andern erschollen noch Hilferufe und mißtönige Sterbeseufzer. Ich aber, unempfindlich für die unfaßbare • 113 Größe des Elendes, stürmte wie ein Verzweifelter vorwärts nach dem Hause des Rats, die Augen unverwandt auf seine Fenster gerichtet. An einem derselben wurden ringende Arme sichtbar, eine menschliche Gestalt mit weißen Haaren ward hinausgedrängt. Der Unglückliche, es war Chatillon (ein Verwandter des Admirals), klammerte sich einen Augenblick noch mit schwachen Händen an das Gesims, dann ließ er los und stürzte auf das Pflaster. An dem Zerschmetterten vorüber erklomm ich in wenigen Sprüngen die Treppe und stürzte in das Gemach. Es war mit Bewaffneten gefüllt und wilder Lärm erscholl aus der offenen Türe des Bibliothekzimmers. Ich bahnte mir mit meiner Haiebarte den Weg und erblickte Gasparde, in eine Ecke gedrängt und von einer gierigen, brüllenden Meute umstellt, die sie, mein Pistol in der Hand und bald auf diesen, bald auf jenen zielend, von sich abhielt. Sie war farblos wie ein Wachsbild, und aus ihren weitgeöffneten Augen sprühte ein schreckliches Feuer. Alles vor mir niederwerfend, mit einem einzigen Anlaufe war ich an ihrer Seite, und „Gott sei Dank, du bist es“, rief sie noch und sank mir dann bewußtlos in die Arme. Unterdessen war Boccard (ein Freund aus der Schweizergarde) mit dem Schweizer nachgedrungen. „Leute!“ drohte er, „im Namen des Königs verbiete ich Euch, diese Dame nur mit einem Finger zu berühren! Zurück, wem das Leben lieb ist! Ich habe Befehle, sie ins Louvre zu bringen!“ — Er war neben mich getreten und hatte die ohnmächtige Gasparde in den Lehnstuhl des Rats gelegt. Da sprang aus dem Getümmel ein scheußlicher Mensch mit blutigen Händen und blutbeflecktem Gesicht hervor. „Lug und Trug!“ schrie er, „das, Schweizer?“ — Verkappte Hugenotten sind’s und von der schlimmsten Sorte. Schlagt tot! Es ist ein verdienstliches Werk, diese schurkischen Ketzer zu vertilgen!“ Und der Verwilderte warf sich auf mich. „Bösewicht,“ rief Boccard, „dein Stündlein ist gekommen! Stoß zu, Schadau!“ Rasch drängte er mit geschickter Parade die ruchlose Klinge in die Höhe, und ich stieß dem Buben mein Schwert bis an das Heft in die Brust. Er stürzte. Ein rasendes Geheul erhob sich aus der Rotte. „Weg von hier!“ winkte mir der Freund. „Nimm Dein Weib auf den Arm und folge mir!“ Jetzt griffen Boccard und der Schweizer mit Hieb und Stoß das Gesinde! an, das uns von der Türe trennte und brachen eine Gasse, durch die ich, Gasparde tragend, schleunig nachschritt. Wir gelangten glücklich die Treppe hinunter und betraten die Straße. Geschichtslehrmittel. II. 8 114 Hier hatten wir vielleicht zehn Schritte getan, da fiel ein Schuß aus einem Fenster. Boccard schwankte, griff mit unsicherer Hand nach dem Medaillon, riß es hervor, drückte es an die erblassenden Lippen und sank nieder. Er war in die Schläfe getroffen. Der erste Blick überzeugte mich, daß ich ihn verloren hatte, der zweite, nach dem Fenster gerichtet, daß ihn der Tod aus meinem Reiterpistol getroffen, welches Gaspardes Hand entfallen war und das jetzt der Mörder frohlockend emporliielt. Die scheußliche Horde an den Fersen, riß ich mich mit blutendem Herzen von dem Freunde los, bei dem sein treuer Soldat niederkniete, bog um die nahe Ecke in das Seiten- gäßchen, wo meine Wohnung gelegen war, erreichte sie unbemerkt und eilte durch das ausgestorbene Haus mit Gasparde hinauf in meine Kammer. Auf der Flur des ersten Stockes schritt ich durch eine breite Blutlache. Der Schneider lag ermordet, sein Weib und seine vier Kinder, am Herd in ein Häuflein zusammengesunken, schliefen den Todesschlummer. Selbst der Pudel, des Hauses Liebling, lag verendet bei ihnen. Blutgeruch erfüllte das Haus. Die letzte Treppe ansteigend, sah ich mein Zimmer offen, die halb zerschmetterte Tür schlug der Wind auf und zu. Hier hatten die Mörder, da sie mein Lager leer fanden, nicht lange geweilt, das ärmliche Aussehen meiner Kammer versprach ihnen keine Beute. Meine wenigen Bücher lagen zerrissen auf dem Boden zerstreut. Ich hatte Gasparde auf mein Lager gebettet, wo die Bleiche zu schlummern schien und stand neben ihr, überlegend, was zu tun sei. Sie war unscheinbar wie eine Dienerin gekleidet, wohl in der Absicht, mit ihrem Pflegevater zu entfliehen. Ich trug die Tracht der Schweizergarde. Ein wilder Schmerz bemächtigte sich meiner über all das frevelhaft vergossene, teure und unschuldige Blut. „Fort aus dieser Hölle!“ sprach ich halblaut vor mich hin. „Ja, fort aus der Hölle!“ wiederholte Gasparde, die Augen öffnend und sich auf dem Lager in die Höhe richtend. „Hier ist unseres Bleibens nicht! Zum ersten nächsten Tore hinaus!“ „Bleibe noch ruhig!“ erwiderte ich, „unterdessen wird es Abend und die Dämmerung erleichtert uns vielleicht das Entrinnen etc. etc.“ (Die Flucht gelang infolge Begünstigung durch einen bekannten Hauptmann, der das Tor bewachte.) Drei Tage dauerte das unmenschliche Morden, das auch seinen Weg durch die übrigen Städte Frankreichs nahm. Mit lautem Jubel begrüßten die Katholiken aller Länder die schreckliche Tat. Der Papst 1.15 feierte das Ereignis mit Dankgottesdienst und Prozessionen; zur ewigen Erinnerung ließ er eine Denkmünze schlagen. 45. Die Füße im Feuer. Wild zuckt der Blitz. Im fahlen Lichte steht ein Turm. Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß, Springt ab und pocht aus Tor und lärmt. Sein Mantel saust Im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest. Ein schmales Gitterfenster schimmert golden hell, Und knarrend öffnet jetzt das Tor ein Edelmann.... „Ich bin ein Knecht des Königs, als Kurier geschickt Nach Nimes. Herbergt mich! Ihr kennt des Königs Rock.“ „„Es stürmt. Mein Gast bist du. Dein Kleid, was kümmert’s mich? Tritt ein und wärme dich! Ich sorge für dein Tier!““ Der Reiter tritt in einen dunkeln Ahnensaal, Von eines weiten Herdes Feuer schwach erhellt, Und je nach seines Flackerns launenhaftem Licht Droht hier ein Hugenott im Harnisch, dort ein Weib, Ein stolzes Edelweib aus braunem Ahnenbild .... Der Reiter wirft sich in den Sessel vor dem Herd Und starrt in den lebend’gen Brand. Er brütet, gafft — Leicht sträubt sich ihm das Haar. Er kennt den Herd, den Saal .... Die Flamme zischt, zwei Füße zucken in der Glut. — Den Abendtisch bestellt die greise Schaffnerin Mit Linnen blendendweiß. Das Edelmägdlein hilft. Ein Knabe trug den Krug mit Wein. Der Kinder Blick Hangt schreckenstarr am Gast und hangt am Herd entsetzt .... Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut. — „Verdammt! Dasselbe Wappen! Dieser selbe Saal! Drei Jahre sind’s_ Auf einer Hugenottenjagd — Ein fein, halsstarrig Weib_ ,Wo steckt der Junkers Sprich! 1 Sie schweigt. .Bekenn!‘ Sie schweigt. ,Gib ihn heraus 1‘ Sie schweigt. Ich werde wild. Der Stolz! Ich zerre das Geschöpf — Die nackten Füße pack’ ich ihr und strecke sie Tief mitten in die Glut.... ,Gib ihn heraus! 1 .... Sie schweigt — Sie windet sich .... „Sahst du das Wappen nicht am Torf Wer hieß dich hier zu Gaste gehen, dummer Narr? Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich.“ 116 Ein tritt der Edelmann. „„Du träumst! Zu Tische, Gast“* — Da sitzen sie, die drei in ihrer schwarzen Tracht! Und er. Doch keins der Kinder spricht das Tischgebet. Ihn starren sie mit aufgeriss’nen Augen an — Den Becher füllt und übergießt er, stürzt den Trunk, Springt auf: „Herr, gebet jetzt mir meine Lagerstatt! Müd bin ich wie ein Hund!“ Ein Diener leuchtet ihm; Doch auf der Schwelle wirft er einen Blick zurück Und sieht den Knaben flüstern in des Vaters Ohr .... Dem Diener folgt er taumelnd in das Turmgemach. Eest riegelt er die Tür. Er prüft Distel und Schwert. Gell pfeift der Sturm. Die Diele bebt. Die Decke stöhnt. Die Treppe kracht.... Dröhnt hier ein Tritt?_ Schleicht dort ein Ihn täuscht das Ohr. Vorüber wandelt Mitternacht. (Schritt? .... Auf seinen Lidern lastet Blei, und schlummernd sinkt Er auf das Lager. Draußen plätschert Regenflut. Er träumt. ,Gesteh!“ Sie schweigt. ,Gib ihn heraus!“ Sie schweigt. Er zerrt das Weib. Zwei Füße zucken in der Glut. Auf sprüht und zischt ein Feuermeer, das ihn verschlingt.... — „„Erwach, du solltest längst von hinnen sein! es tagt!““ Durch die Tapetentür in das Gemach gelangt, Vor seinem Lager steht des Schlosses Herr — ergraut, Dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar. Sie reiten durch den Wald. Kein Lüftchen regt sich heut. Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad. Die frühsten Vöglein zwitschern, halb im Traume noch. Friedselge Wolken schwimmen durch die klare Luft, Als kehrten Engel heim von einer nächtgen Wacht. Die dunklen Schollen atmen kräft’gen Erdgeruch. Die Ebne öffnet sich. Im Felde geht ein Pflug. Der Reiter lauert aus den Augenwinkeln: „Herr, Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit Und wißt, daß ich dem größten König eigen bin. Lebt wohl. Auf Nimmerwiedersehn!“ Der andre spricht: „„Du sagst's! Dem größten König eigen! Heut ward Sein Dienst mir schwer_ Gemordet hast du teuflisch mir Mein Weib! Und lebst! .... .Mein ist die Rache“, redet Gott.““ C. F. Meyer. 117 46. Der Majestätsbrief (Auszug). Ausgestellt 1609 von Kaiser Rudolf II. an die evangelischen Böhmen. Wir, Rudolf II., tun kund zu ewigem Gedächtnis mit diesem Brief: Keine der beiden in Böhmen vorhandenen Religionen soll die Anhänger der anderen des Glaubens wegen schänden oder lästern, sondern beide sollen verbunden sein und bleiben. Die drei evangelischen Stände, sowohl der Herren- und Ritterstand, als auch die Städte sollen die Religion frei und an allen und jeden Orten treiben und üben, bei ihrem Glauben und Religion, Priesterschaft und Kirchenordnung bis zu gänzlicher Vergleichung wegen der Religion im H. R. Reiche gelassen werden. Im Fall jemand von den drei evangelischen Ständen über die Kirchen und Gotteshäuser, deren sie allbereits im Besitze sind und die ihnen zuvor zuständig, es sei in Städten, Märkten, Dörfern und anderswo, noch mehr Gotteshäuser und Kirchen zum Gottesdienst oder auch Schulen zum Unterricht der Jugend aufbauen lassen wollte, soll solches jederzeit freistehen. Und weil in einigen Städten die Anhänger beider Religionen beisammen wohnen, soll jeder Teil seine Religion frei üben, nach seinen Priestern sich richten und dem andern in seiner Religion keine Ausmessung tun, auch das Begräbnis der Leichen in den Kirchen und auf den Kirchhöfen, sowie das Läuten niemand verwehrt sein. Es soll auch niemand von seiner Religion abgewendet und zu des Gegenteils Religion mit Gewalt gedrungen werden. Der Kaiser legt diesem Majestätsbriefe dieselbe Gültigkeit bei, welche dem Religionsfrieden für das Deutsche Reich zukommt und verpflichtet sich, gegen jeden, der den Majestätsbrief brechen sollte, als Verbrecher des gemeinen Friedens zu verfahren. Quellenbuch von Richter. 47. Wallenstein vor Stralsund. Mit Hörnergetön, in blitzender Wehr Vor Stralsunds Wälle zog Friedlands Heer. Ringsum längst zwang er die Länder ins Joch; Nur Stralsund trotzte, das mächtige, noch. Doch eh’ noch Kartaunen erdröhnten im Feld, Entbot er zu sich die Ratsherrn ins Zelt; Die traten gefaßt vor sein Angesicht Und zitterten nicht. 118 Der Friedland sprach: „Ihr Herren vorn Rat, Dem Trotz nun entsagt, bevor es zu spat! Nach Recht und Gesetz ist mein dieses Land; So will es der Kaiser, Herr Ferdinand. Drum fügt euch und tut, was der Mächt’ge gebeut; Von Gegenwehr laßt und ergebt euch noch heut!“ Drauf sprachen die Ratsherrn, getreu der Pflicht: „Das tun wir nicht“! Das Wort, es weckte gar hohen Verdruß Dem böhmischen Generalissimus; Doch zwang er sich noch und sprach: „Wohlan! Geehrt stets hab ich den tapferen Mann; Drum sei euch gelassen der Freiheit Glück, Zahlt ihr mir Geldes ein tüchtiges Stück!“ Die Ratsherrn entgegneten ernst, mit Gewicht: „Das haben wir nicht.“ Da hob sich aufs höchste des Friedlands Groll; An seinen Schläfen die Ader schwoll; Er ballte die Faust, und mit grimmigem Mut Warf er zur Erde den Feldherrenhut. Er nannte die Bürger verruchte Gesell’n, Schurken, Verräter und schnöde Rebell’n. Drauf sprachen die Ratsherrn gelassen und schlicht; „Das sind wir nicht!“ Sie schieden hinweg, auf nahm sie das Tor; Der Friedland indessen, der rasende, schwor: „Und hing es mit Ketten am Himmelszelt, Stralsund, das hohe, das trotzige, fällt!“ Viel Kugeln verschoß er in grimmigem Haß, Bestürmte die Stadt ohne Unterlaß; Er wollte sie strafen mit blut’gem Gericht —> Und nahm sie nicht. Albert Möser. 48. Heer und Kriegsweise. Die Kriegerscharen waren in der Hauptsache geworbene Söldner, die sich durch Vertrag auf eine gewisse Zeit an die Fahne bände*. Diese Lohnkrieger gewöhnten sich bald, die Fahne zu wechseln, je 119 nach Vorteil und Aussicht auf Beute. Fast alle Völker Europas sandten ihre schlechtesten Söhne in den Krieg. Die Regimenter setzten sich aus Deutschen, Schweizern, Spaniern, Italienern, Ungarn, Kroaten, Wallonen, Schweden etc. zusammen und ertrugen keinerlei straffe Ordnung, setzten sie doch nur Blut und Leben ein, um ein recht wüstes, tolles Leben zu führen. Auf ihren Märschen stahlen und brandschatzten sie, soviel sie nur zusammenbringen konnten, im Verlaufe des Krieges wurden sie immer erfinderischer in höllischen Martern, um Bürger und Bauer zur Herausgabe ihrer Habe zu zwingen. Oft mordeten sie aus reiner Lust an Zerstörung, und so trieb man es vorn General bis zum gemeinen Pikenier herab. Als der schwedische General Wrangel die erste Nachricht von dem geschlossenen Frieden erhielt, trieb er den Eilboten mit Scheitworten von sich, warf seinen Generalshut auf den Boden und trat ihn mit Füßen; — er hatte noch nicht genug für sich zusammengeraubt. Graf Königsmark, einer der ärgsten Raubvogel, welche durch Deutschland flogen, einst ein armer, deutscher Edelknabe, führte so viel Geld und Kostbarkeiten nach Schweden, daß er seiner Familie ein jährliches Einkommen von l'U Millionen Fr. nach unserem Gelde hinterließ. — Der Glaube war nicht ausschlaggebend für die Parteinahme; so standen zahlreiche protestantische Obersten im Heere Wallensteins und das katholische Frankreich kämpfte Seite an Seite mit den protestantischen Schweden gegen den katholischen Kaiser. Eine Fülle von Aberglauben beherrschte das rohe Soldatenvolk. Ein Stück von dem Stricke, an dem ein Verbrecher gehängt wurde, machte fest, ebenso der Bart eines Bockes, das Auge eines Wolfes, der Kopf einer Fledermaus; Hexenkräuter taten den gleichen Dienst; auch Amulettmünzen waren im Gebrauch. Mit Sprüchen und Zauberformeln konnte man ganze Haufen von Reitern und Fußvolk stellen, d. h. unbeweglich machen und durch einen andern Spruch den Zauber wieder auflösen. Allgemein sah man Tilly und Wallenstein als hieb- und schußfest an, und mit geheimem Gruseln schaute man zu diesen vorn Glück begünstigten Kriegergestalten auf. Dem Feinde gegenüber herrschte meist milder Kriegsbrauch, besonders da die Soldaten bald bei dieser, bald bei jener Fahne standen. Jeden Tag konnte man erwarten, in den feindlichen Reihen alte Kameraden zu sehen oder zum Zeitgenossen einen früheren Gegner zu erhalten. In der Regel wurde der verlangte Pardon, „das Quartier“, gegeben, oft auch angeboten. Nur wer gegen Kriegsgebrauch ge- 120 kämpft hatte oder im Verdachte stand, Teufelskünste zu brauchen, mußte erschlagen werden. Die Gefangenen konnten gegen Dösegeld ausgekauft werden, wofür bei den Heeren eigene Tarife bestanden. Mehr als einmal wurde der Erfolg der Schlacht dadurch vernichtet, daß die Soldaten sich zu früh der Plünderung hingaben. Nicht selten gelang es einzelnen, große Beute zu machen; das Gewonnene wurde aber fast immer in wüster Schweigerei vertan, nach dem Soldatensprichwort: „Was mit Trommeln erobert wird, geht mit Pfeifen verloren.“ Das Heer, das einem Feldherrn unterstellt war, zählte höchstens 40,000 Mann. Weder der Kaiser, noch ein Reichsfürst war imstande, eine solche Zahl auch nur ein Vierteljahr aus den eigenen Einkünften zu unterhalten. So verfiel man auf die Auskunft, daß der Krieg den Krieg ernähren müsse: Die Heerführer preßten und plünderten alle Landstriche aus, die sie bei ihren Kreuz- und Querzügen berührten, ganz einerlei, ob es Freundes- oder Feindesland war. Es ist schwer zu entscheiden, ob Kaiserliche oder Protestanten in dieser gräßlichen Weise, Krieg zu führen, den Preis verdienen. Bei seiner Landung hielt Gustav Adolf mit seinen Schweden Mannszucht; da er als Befreier erscheinen wollte, mußte er alle Ausschreitungen vermeiden. Kaum hatte er festen Fuß gefaßt und die Protestanten an sich gekettet, so plünderte er gleich den andern nach Herzenslust und dies selbst in den Ländern seiner Verbündeten! Wo er auf Widerstand stieß, drohte auch er mit Feuer und Schwert. Näherten sich die Heere einer Stadt, dann hörte der Verkehr mit der Landschaft fast ganz auf, dann wurden die Tore sorgfältig bewacht, die Bürger erhielten sich von den angesammelten Vorräten. Die Bedrückungen begannen, Durchmärsche, Einquartierungen befreundeter Heere mit all ihren Schrecken. Noch ärger hausten die durchziehenden Feinde. Jede Art von unsicherer Schonung mußte erkauft werden. Es war Gnade des Feindes, wenn er nicht anzündete, nicht den Stadtwald niederschlug, das Holz zu verkaufen, nicht die Stadtbibliothek auf seine Troßwagen warf; alles, was zum Raube einlud, die Orgel, die Kirchenbilder, mußten ausgelöst werden, sogar die Kirchenglocken, welche nach Kriegsbrauch der Artillerie gehörten. Waren die Städte nicht imstande, den Forderungen der Kriegsobersten zu genügen, so wurden die angesehensten Bürger als Geiseln mitgeschleppt, bis die auferlegte Summe bezahlt wurde. Galt eine Stadt aber als fest genug, um dem feindlichen Heere 121 Widerstand zu leisten, so wurde sie beim Herannahen des Feindes mit Flüchtigen gefüllt, deren Zahl so hoch war, daß an eine Unterbringung bei Bürgern gar nicht zu denken war. Umschloß der Feind den überfüllten Ort, dann raste um die Mauern der Kampf und innerhalb nicht weniger gefräßig Hunger, Elend und Krankheit. Der wehrhafte Flüchtling wurde zu strengem Besatzungsdienste gebraucht. Zog sich die Belagerung in die Länge, so hatte die Teuerung einen schändlichen Wucher zur Folge; die Müller mahlten nur den Reichen, die Bäcker forderten Unerschwingliches. Als in Nörd- lingen ein Mauerturm von den Belagerern eingenommen war und die Bürger selbst ihn ausbrannten, stürzten sich hungernde Weiber über die halbgebratenen Leichname der Feinde und trugen Stücke derselben für ihre Kinder nach Hause. — Wurde aber eine Stadt im Sturm erobert, so wiederholte sich das Schicksal Magdeburgs: massenhaftes Niedermetzeln, scheußliches Quälen und Verstümmeln. Dazu kam die Pest. Die Seuchen rafften oft mehr als die Hälfte der Stadtbewohner weg. Das Fürchterlichste war die öftere Wiederholung der alten Leiden. Leipzig wurde fünfmal belagert, Magdeburg sechsmal, die meisten kleineren Städte noch öfter mit Soldaten gefüllt. So verdarben die Großen wie die Kleinen. Aber noch nicht genug. Weite Gegenden traf eine Plage ganz anderer Art, die religiöse Verfolgung. Sie wurde von der kaiserlichen Partei fast überall geübt, wo sie sich festgesetzt hatte. Den Heeren folgte ein Haufen Bekehrer auf dem Fuße: Jesuiten und Bettelmönche. Sie verrichteten ihr Amt mit Hilfe der Soldaten. Wo der katholische Glaube noch einen Boden hatte, wurden die Führer der Protestanten weggefegt, vor allem die Seelsorger, am gründlichsten in den Provinzen, in denen der Kaiser selbst Landesherr war. Viel war dort schon vor dem langen Kriege geschehen; aber noch waren beim Anfang des Krieges in Österreich, Mähren, Böhmen und Schlesien die rührigsten Bewohner, die Mehrzahl der Leute und der Gemeinden evangelisch. Da wurde gründlich gebessert. Bürger und Landvolk wurden scharenweise durch die Soldaten zur Beichte getrieben; wer — oft nach Gefängnis und Körperqualen — seinen Glauben nicht aufgeben wollte, mußte das Land verlassen und viele Tausende taten das; es wurde als Gnade betrachtet, wenn den Flüchtlingen eine unzureichende, kurze Frist zum Verkaufe ihrer beweglichen Habe gelassen wurde. Nach Rosenow und G. Freytag. 122 49. Der Troß. Der Soldat führte im Felde seinen eigenen Haushalt und wirtschaftete wie ein Handwerksmeister mit Weib und. Jungen. Mit seiner Frau wohnte er unter dem engen Strohdach des Lagers und im Quartier. Das Weib buk, kochte und wusch für ihn, pflegte den Erkrankten, schenkte dem Zechenden ein, duldete seine Schläge und trug auf dem Marsche Kinder, Beutestücke oder Gerätschaften, die nicht auf den Bagagewagen geschafft werden konnten. So wurde das Heer von einem Haufen Weiber begleitet, von der Frau des Obersten, einer sehr angesehenen Dame, die ihren Hofstaat hatte und unter kriegerischer Bedeckung reiste, bis herab zur Frau des armen Pikenträgers, die, ihr Kind auf dem Rücken, mit wunden Füßen über das Blut des Schlachtfeldes lief. Auch die Lagerweiber standen unter dem Kriegsrecht; für grobe Vergehen wurden sie gepeitscht und aus dem Lager gejagt. In Quartieren, wo viele Weiber zusammenlebten, war schwer Frieden zu halten; da übertrug der Soldat seine Gewalt dem Rumor- meister, der mit einem armslangen Prügel Frieden stiftete. Mit den Weibern zogen auch die Kinder. Bei den Schweden waren durch Gustav Adolf Feldschulen eingerichtet, in denen die Kleinen auch im Lager unterrichtet wurden. In diesen Wanderschulen herrschte militärische Ordnung. Im Kugelregen trugen diese wilden Soldatenkinder ihren Vatern die Suppe in die Schanzgräben. Der Kriegsmann, der ohne Familie lebte, hielt auf einen oder mehrere Buben, ein abgefeimtes, hartes Geschlecht von Taugenichtsen. Sie warteten ihren Herren auf, striegelten sein Pferd, trugen Waffen- stücke, fütterten den zottigen Hund und waren behende Spione, welche in der Nachbarschaft nach wohlhabenden Leuten und verborgenem Gelde herumstreiften. Bei Plünderungen trieb es der Troß am ärgsten, auch in Freundesland. Wenn die Weiber und Buben mit ihren Soldaten auf einen Bauernhof drangen, fielen sie wie die Geier auf das Geflügel im Hofe, über Truhen und Kisten, schlugen die Türen ein, schmähten, drohten, quälten, und was sie nicht verzehren und rauben konnten, zertrümmerten sie. Beim Aufbruch zwangen sie den Über- fallenen anzuspannen und sie ins nächste Quartier zu fahren. Dann stopften sie den Wagen mit den Kleidern, Betten und dem Hausrate des Bauern voll und banden sich in den Rock und um den 123 Leib, was nicht in Sack und Pack fortgebracht werden konnte. Wenn die Zugtiere angeschirrt waren, fielen Weiber und Kinder auf die Wagen wie ein Haufen Raben. Zehn, zwölf Weiber und ebensoviel Kinder und etwa sechs Jungen sitzen dann in den Packen, wie die Raupen im Kohl. Wenn die Pferde bergauf nicht mehr vorwärts können, dann stiege nicht eines vorn Wagen; denn stracks wären andere Jungen und Weiber zur Stelle, die hinauf- sprängen. Den Bauer schelten sie mit schrecklichen Flüchen, fahren hinter ihm und seinem Vieh mit Prügeln her; oft sind vier, sechs Jungen um den Wagen herum, alle werfend und schlagend, bis Ochsen und Pferde tot in dem Geschirre niedersinken. Auf dem Marsche führte der Troß eine eigene Fahne und zog in militärischer Ordnung, Troßknechte, Buben und handfeste Weiber mit Spießen bewehrt, unter dem Kommando eines eigenen Weibeis einher. Hintenher kam der gewaltige Haufe mit Gepäck und Karren, Kindern und Hunden. Kam es zur Schlacht, so hatte der Troß im Rücken des Heeres, an gesicherter Stelle sich bewaffnet aufzustellen und hinter den zusammengefahrenen Wagen eine Verteidigung vorzubereiten. Öfter wurde bei solcher Gelegenheit der Troß von feindlicher Reiterei überfallen; dann war es Pflicht der Buben und Knechte, dem Einbruch zu widerstehen. Im Lager aber war es das Amt der Weiber und Buben, die Gassen zu fegen und zu säubern. Auch bei Schanzarbeiten und beim Transport der Geschütze durch aufgeweichte Wege mußten sie mit Hand anlegen. Ein Regiment von 3000 Mann hatte zum wenigstens 300 Wagen und jeder zum Brechen voll mit Weibern, Buben, Kindern und geplündertem Gut beladen. Schon zu Anfang des Krieges gab es Regimenter, die 4000 Frauen, Jungen und anderen Troß hatten. In den späteren Kriegsjahren wuchs der Troß auf das 3 l /2fache der Zahl der Kämpfenden. Der Einmarsch eines Heeres glich so dem Einbruch eines fremden Volksstammes, und in seinem Gefolge kam für das unglückliche Land Hunger, Not und Elend. Nach G. Freytag. Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Verlag S. Hirzel, Leipzig. 50. Das Lager. Der Lagerplatz wurde gewöhnlich an fließendem Wasser, auf einer Stätte, die zur Verteidigung günstig war, ausgewählt. — Zunächst wird der Raum für den Feldherrn und seinen Stab ausgemessen. 124 Dort erheben sich die großen, verzierten Zelte auf verbotenem Grund, der oft durch Befestigungen vorn übrigen Lager getrennt ist. In der Nähe bleibt ein freier Platz mit der Feldwache. Jedem Regiment (ä 3000 Mann) und Fähnlein (ä 300 Mann) wird mit Zweigen seine Stelle abgesteckt. Die Offiziere wohnen in Zelten, die oft Kegelform haben. Die Gemeinen bauen sich auf dem angewiesenen engen Raume ihre kleinen Hütten von Stroh und Brettern. Neben der Hütte steckt der Pikenier seinen langen Spieß in den Boden; die Piken, Hellebarden und Fähnlein zeigen schon von weitem Rang und Waffe des Zeltbewohners an. In den Hütten hausen die Soldaten häufig zu zweien oder vieren bei ihren Weibern, Buben und Hunden. So lagert Fähnlein neben Fähnlein, Regiment neben Regiment im großen Viereck oder im Kreise. Graben, Wall und Geschütze decken das Lager. An den Ausgängen sind Wachen, außerhalb des Lagers werden Reitertrupps und eine Postenkette von Schützen aufgestellt. Vor dem Zelt jedes Fähnrichs steckt die flatternde Fahne im Boden, daneben liegt eine Trommel der Kompagnie, ein Musketier hält Wache, die brennende Lunte in der Hand, die Muskete wag- recht in die Gabel gestützt. Als drohendes Wahrzeichen steht der Galgen da; denn nur die rohesten Strafen vermögen unter der wilden Kriegerschar eine erträgliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Jedes Regiment zählt über zwanzig Gerichtspersonen, worunter der Henker nicht fehlt. Man predigt, prügelt, schließt in Eisen, hängt, schlägt Köpfe ab, aber — besser wird es nicht. In solchem Lager haust das wilde Volk in zügellosem Haushalt, auch in Freundesland eine unerträgliche Plage der Umgegend. Die Landschaften, Städte und Dörfer müssen Holz, Stroh, Lebensrnittel und Futter herbeischaffen, auf allen Wegen rollen die Lastwagen, werden Herden Schlachtvieh eingetrieben. Schnell verschwinden die nächsten Dörfer vorn Erdboden, alles Holzwerk und Dachstroh wird von den Soldaten abgerissen und zum Bau der Hütten verwendet, nur die zertrümmerten Lehmwände bleiben zurück. Die Soldaten und ihre Buben streichen plündernd und stehlend in der Gegend umher, die Marketender fahren mit ihren Karren ab und zu. Im Lager aber drängen sich die Kriegsleute vor ihren Hütten zusammen; unterdessen kochen die Weiber, waschen, bessern Kleider aus und hadern untereinander. Häufig ist Tumult und Auflauf, ein Kampf mit blanken Waffen, eine blutige Untat, Schlägerei zwischen den verschiedenen Waffengattungen und Nationen. Alle 125 Morgen ruft die Trommel und der Ausrufer zum Gebet; am Sonntag früh hält der Regimentsprediger seine Feldpredigt; dann sitzen die Kriegsleute und ihr Troß andächtig auf der Erde, auch ist verboten, während des Gottesdienstes in den Marketenderhütten zu liegen und Getränke zu schenken. In dem freien Raume des Lagers, vor der Hauptwache, ist der Spielplatz, mit Manteln überdeckt, mit Tischen besetzt; um alle drängt sich die Gesellschaft der Spieler. Oft war das Würfelspiel im Lager verboten, dann waren die Spieler heimlich hinter Hecken zusammengekommen und hatten Nahrung, Waffen, Pferde und Kleider verspielt; so fand man geraten, diese Leidenschaft unter Aufsicht der Lagerwache zu stellen. Auf jedem Mantel oder Tische rollen drei viereckige Würfel, in der Feldsprache „Schelmenbeine“ genannt. Jeder Gesellschaft steht ein Aufseher vor; ihm gehören Mantel, Tisch und Würfel; er hat in streitigen Fällen das Richteramt und erhält seinen Anteil am Gewinn, oft auch Schläge. Denn häufig sind Betrug und falsche Würfel; manche Würfel haben zwei Fünfe oder Sechse, andere sind mit Quecksilber oder Blei gefüllt; es gibt solche, die oben leicht, unten schwer sind, und oft wird die lautlose Arbeit durch Flüche, Gezänk und blitzende Rapiere unterbrochen. Und zwischen den aufgeregten Gesellen schleichen lauernde Handelsleute, oft Juden, bereit, die gesetzten Ketten, Ringe und Beutestücke zu schätzen und aufzukaufen. Hinter den Zelten der Oberoffiziere, durch eine breite Straße von ihnen getrennt, stehen die Buden und Hütten der Marketender in parallelen Reihen. Marketender, Metzger und gemeine Garkoche bilden eine wichtige Gemeinschaft. Ein Aufseher bestimmt den Preis der Speisen und Getränke. Ist gute Zeit gewesen, eine Schlacht gewonnen, eine reiche Stadt geplündert, eine wohlhabende Landschaft gebrandschatzt, dann ist alles vollauf, Speise und Getränk billig. Dann sitzt in den Buden Kopf an Kopf, eine Schar singender, prahlender, schwatzender Helden, dann haben die Handelsleute gute Zeit; der Soldat staffiert sich neu aus: er kauft teure Federn auf seinen Hut, Scharlachhosen mit goldenen Streifen, bunte Röcke für seine Frau; dann reitet auch der Stallknecht in Sammet gekleidet. Häufiger als Überfluß ist aber Mangel und Armseligkeit. Die Verwüstung der Landschaften rächt sich furchtbar an den Heeren selbst. Das bleiche Gespenst des Hungers, Vorbote der Pest, schleicht durch die Lagergassen und hebt die knöcherne Hand gegen jede 126 Strohhüte. Dann hört die Zufuhr aus der Umgegend auf, die Preise der Lebensrnittel werden unerschwinglich, der Laib Brot muß mit einem Dukaten bezahlt werden. Dann wird der Aufenthalt im Feldlager auch für den abgehärteten Soldaten unerträglich. Überall hohläugige, bleiche Gesichter, in jeder Hüttenreihe Kranke und Sterbende, Gassen und Umgebung verpestet durch die verwesenden Leiber der gefallenen Tiere. Dann ist ringsum eine Wüste von unbebauten Ackern und geschwärzten Dorftrümmern und das Lager selbst eine grause Totenstadt; der Troß des Heeres, Weiber und Knaben, verliert sich plötzlich in den Totengruben, nur die grimmigsten Hunde erhalten sich von ekler Nahrung, die andern werden geschlachtet und verzehrt. In solcher Zeit schmelzen die Heere schnell dahin, und keine Kunst der besten Führer vermag das Verderben abzuwenden. Nach G. Freytag. „Bilder aus der Vergangenheit.“ 51. Oberst Lumpus. Beim Holtzischen Fußregiment wurde ein Soldat durch einen Glücksfall berühmt. Er war sehr heruntergekommen und übel bekleidet, das Hemd hing ihm hinten und vorn aus den zerrissenen Hosen. Dieser Gesell erbeutete ein Faß mit französischen Dukaten, so groß, daß er es kaum forttragen konnte. Darauf entfernte er sich heimlich vorn Regiment, staffierte sich wie ein Prinz heraus, kaufte eine Kutsche und sechs schöne Pferde, hielt mehrere Kutscher, Lakaien, Pagen und einen Kammerdiener in schöner Livröe und nannte sich selbst mit düsterem Humor Oberst Lumpus. So reiste er nach München und lebte dort herrlich in einer Herberge. Zufällig kehrte General Holtz in derselben Herberge ein, hörte durch den Wirt viel von dem Reichtum und den Qualitäten des Oberst Lumpus und konnte sich doch nicht erinnern, jemals diesen Namen gehört zu haben. Deshalb trug er dem Wirt auf, den Fremden zum Abendessen einzuladen. Oberst Lumpus nahm die Einladung an und ließ beim Konfekt in einer Schüssel fünfhundert neue Pistolen und eine Kette von hundert Dukaten Wert auftragen und sagte zum General; „Mit diesem Traktament wollen Ew. Excellenz verlieb nehmen und meiner bestens gedenken. a Der v. Holtz sträubte sich ein wenig; aber der freigebige Oberst drängte mit den Worten: „Bald wird die Zeit kommen, wo Sie selbst er- 127 kennen werden, daß ich diese Verehrung zu tun genötigt war. Die Schenkung ist nicht übel angelegt; denn ich hoffe alsdann eine Gnade zu erhalten, die keinen Pfennig kosten soll.“ Darauf nahm der v. Holtz nach damaliger Sitte Kette und Geld mit dem höflichen Versprechen, solches kommenden Falles zu vergelten. Der General reiste ab, der falsche Oberst lebte fort. Wenn er bei einer Wache vorüberfuhr, traten die Soldaten zu seinen Ehren ins Gewehr, dann warf er ihnen ein Dutzend Taler zu. Sechs Wochen darauf war sein Geld zu Ende. Da verkaufte er Kutsche und Pferde, darauf Kleider und Weißzeug und vertrank alles. Die Diener entliefen ihm, zuletzt hatte er nichts mehr als ein schlechtes Kleid und keinen Pfennig darin. Da schenkte ihm der Wirt, der so viel an ihm gewonnen, fünfzig Taler Reisegeld, der Oberst aber verweilte, bis auch das verzehrt war; wieder gab ihm der Wirt 10 Taler als Zehrgeld; der beharrliche Schweiger aber antwortete, wenn es Zehrgeld sein solle, wolle er es lieber bei ihm als bei einem andern verzehren. Als auch das vertan war, opferte der Wirt noch fünf Taler und verbot seinem Gesinde, dem Verschwender etwas dafür zu geben. Jetzt endlich quittierte er das Wirtshaus und ging in das nächste, wo er auch die fünf Taler vertrank. Darauf trollte er nach Heilbronn zu seinem Regiment. Dort wurde er sogleich in Eisen geschlossen und mit dem Galgen bedroht, weil er auf so viele Wochen vorn Regiment entwichen war. Da ließ er sich zu seinem General führen, stellte sich ihm vor und erinnerte ihn an den Abend in der Herberge. Dem scharfen Verweis des Generals gab er zur Antwort; Er hätte sein Lebtag nichts so sehr gewünscht, als zu wissen, wie einem großen Herrn zu Mute sei, dazu habe er seine Beute benützt. G. Freytag. „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“. 52. Überfall eines Bauernhofes im Spessart. (Von dem kleinen Sohn des Bauers erzählt.) Das erste, was die Reiter taten und in den schwarzgemalten Zimmern meines Vaters anfingen, war, daß sie die Pferde einstellten. Hernach hatte ein jeglicher seine besondere Arbeit zu verrichten, deren jede lauter Untergang und Verderben anzeigte. Denn, obwohl etliche anfingen zu metzgen, zu sieden und zu braten, so daß es sah, 128 als sollte eine lustige Schmauserei gehalten werden, so waren hingegen andere, die durchstürmten das Haus unten und oben. Andere machten von Tuch, Kleidungen und allerlei Hausrat große Pakete zusammen, als ob sie irgendwo einen Krempelmarkt anstellen wollten, was sie aber nicht mitzunehmen gedachten, wurde zerschlagen und zu gründe gerichtet. Etliche durchstachen Heu und Stroh mit ihren Degen, als ob sie nicht Schweine genug zu stechen gehabt hätten. Etliche schütteten die Federn aus den Betten und füllten hingegen Speck, anderes dürres Fleisch und sonstiges Gerät hinein, als ob alsdann besser darauf zu schlafen wäre; andere schlugen Ofen und Fenster ein; Kupfer- und Zinngeschirr schlugen sie zusammen und packten die gebogenen und verderbten Stücke ein; Bettladen, Tische, Stühle und Bänke verbrannten sie, obwohl viele Klafter dürres Holz im Hofe lagen; Häfen und Schüsseln mußten endlich alle entzwei, entweder weil sie lieber Gebratenes aßen, oder weil sie bedacht waren, nur eine einzige Mahlzeit allda zu halten. Unsere Magd ward im Stalle dermaßen behandelt, daß sie nicht mehr aus demselben heraus konnte. Den Knecht legten sie gebunden auf die Erde und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstiges Mistlachenwasser in den Leib — das nannten sie einen schwedischen Trunk. Dadurch zwangen sie ihn, eine Partie anderwärts zu führen, wo sie Menschen und Vieh wegnahmen und in unseren Hof brachten, unter welchen mein Vater, meine Mutter und meine Ursula (die Schwester) auch waren. (Sie waren vor der Ankunft der Reiter geflohen.) Da fing man nun erst an, die Steine von den Pistolen und an ihrer Statt die Daumen der Bauern aufzuschrauben und die armen Schelme so zu foltern, als wenn man hätte Hexen brennen wollen; einen von den gefangenen Bauern steckten sie in den Backofen und waren mit dem Feuer hinterher; einem andern machten sie ein Seil um den Kopf und reitelten es mit einem Bengel zusammen, so daß ihm das Blut zu Mund, Nase und Ohren heraussprang. Kurz, es hatte jeder seine eigene Erfindung, die Bauern zu peinigen und also auch jeder Bauer seine eigene Marter. Mein Vater allein war meinem damaligen Bedünken nach der Glücklichste, weil er mit lachendem Munde bekannte, was andere mit Schmerzen und jämmerlicher Wehklage sagen mußten; und solche Ehre widerfuhr ihm ohne Zweifel darum, weil er der Hausvater war. Sie setzten ihn nämlich zu einem Feuer, banden ihn, so daß er weder Hände noch Füße regen konnte, und rieben seine Fußsohlen mit angefeuchtetem 129 Salze, welches unsere alte Geiß wieder ablecken und ihn dadurch so kitzeln mußte, daß er vor Lachen hätte zerbersten mögen. Mir kam das so artig und anmutig vor, — weil ich meinen Vater niemals ein so langwieriges Gelächter verführen gehört und gesehen —, daß ich der Gesellschaft halber, oder weil ich’s nicht besser verstand, von Herzen mitlachen mußte. In solchem Gelächter bekannte er seine Schuldigkeit und öffnete den verborgenen Schatz, welcher an Gold, Perlen und Kleinodien viel reicher war, als man hinter den Bauern hätte suchen mögen. Als nun der Morgenstern im Osten hervörflackerte, sah ich meines Vaters Haus in vollen Flammen stehen, aber niemand, der löschte. Aus Simplizissimus von Grimmeihausen. 53. Bauer und Soldat. Oft kam es zu blutigen Schlächtereien zwischen den durch die Plünderungen und Quälereien erbitterten Bauern und den Soldaten. Als ich in das Dorf kam, fand ich es in vollen Flammen stehen; denn eine Partie Reiter hatte es eben ausgeplündert und die Bauern zum Teil niedergemacht, viele verjagt und etliche gefangen, worunter auch der Pfarrer selbst war. Sie führten ihn wie einen armen Sünder an dem Stricke daher. Etliche schrien: „Schießt den Schelm nieder!“ Andere hingegen wollten von ihm Geld haben; er aber hob die Hände auf und bat um des jüngsten Gerichtes willen um Schonung und Barmherzigkeit, doch umsonst; denn einer ritt ihn über den Haufen und versetzte ihm zugleich einen Streich über den Kopf, so daß der rote Saft darnach ging und er im Fallen alle viere von sich streckte und Gott seine Seele befahl. Den noch übrigen gefangenen Bauern ging es im mindesten nicht besser. Da es nun aussah, als ob diese Reiter in ihrer tyrannischen Grausamkeit ganz unsinnig geworden wären, kam ein solcher Schwärm bewehrter Bauern aus dem Walde, als wenn man in ein Wespennest gestochen hätte. Diese fingen an, so greulich zu schreien und so grimmig darein zu setzen und darauf zu schießen, daß mir alle Haare zu Berge standen, weil ich noch niemals bei dergleichen Raufereien gewesen war. Davon rissen die Reiter aus und ließen nicht allein das erbeutete Rindvieh zurück, sondern warfen auch Sack und Pack von sich und schlugen also ihre ganze Beute in den Wind, damit sie nicht selber den Bauern zur Beute würden. Doch kamen sie ihnen gleichwohl zum Teil in die Hände, mit denen die Bauern leidlich übel umgingen. Geschichtslehrmittel. II. 9 130 Am folgenden Tag führte der Junge etwa 40—50 Musketiere in das geplünderte Dorf. Er erzählt: Ehe wir aber in den Wald kamen, sahen wir ungefähr zehn Bauern, von denen ein Teil mit Feuerrohren bewehrt war, die übrigen aber beschäftigt waren einzugraben. Die Musketiere gingen auf sie los und schrien: „Halt! Halt!“ Jene aber antworteten mit Röhren, und wie sie sahen, daß sie von den Soldaten übermannt waren, lief der eine da, der andere dort hinaus, also daß die müden Musketiere keinen von ihnen ereilen konnten. Deswegen wollten sie wieder herausgraben, was die Bauern dort eingescharrt hatten, und das schickte sich desto besser, weil diese die Hauen und Schaufeln, die sie dazu gebraucht, hatten liegen lassen. Sie mochten indessen erst wenige Streiche getan haben, da hörten sie eine Stimme von unten herauf, die sagte: „0, Ihr leichtfertigen Schelme, Ihr Bösewichter!“ Hierüber sahen die Soldaten einander an, weil sie nicht wußten, Was sie tun sollten. Etliche vermeinten, sie hörten ein Gespenst; ich aber dachte, es träumte mir. Ihr Offizier ließ tapfer zugraben. So kamen sie gleich auf ein Faß, schlugen es auf und fanden einen Kerl darin, der weder Nase noch Ohren mehr hatte und gleichwohl noch lebte. Sobald sich derselbe ein wenig ermuntert hatte und vorn Haufen etliche erkannte, erzählte er, weichermaßen die Bauern des vorigen Tages, als einige seines Regimentes auf Fütterung gewesen, ihrer sechs gefangen bekommen, davon sie allererst vor einer Stunde fünf, die hintereinander hatten stehen müssen, tot geschossen; und weil die Kugel ihn, da er der sechste und letzte gewesen, nicht erlangt, indem sie schon zuvor durch fünf Körper gedrungen wäre, hätten sie ihm Nase und Ohren abgeschnitten und ihn in gegenwärtiges Faß gesteckt und also lebendig begraben. Aus Simplizissimus von Grimmeihausen. 54, Nach dem Kriege. Der Friede war unterzeichnet; die Gesandten hatten einander zur Bestätigung feierlich die Hand gereicht; auf allen Straßen ritten die Trompeter, das glückliche Ereignis zu verkündigen. Den alten Leuten erschien der Friede als eine Rückkehr ihrer Jugend; sie sahen die reichen Ernten ihrer Kinderzeit wiederkehren, dichtbevölkerte Dörfer, die lustigen Sonntage unter der umgehauenen Dorflinde, die guten Stunden, die sie mit ihren getöteten und verdorbenen Verwandten und Jugendgenossen verlebt hatten! Sie sahen 131 sich selbst glücklicher, männlicher und besser, als sie in fast dreißig Jahren voll Elend und Entwürdigung geworden waren. Die Jugend aber, das harte, kriegserzeugte Geschlecht, empfand das Nahen einer wunderbaren Zeit, die ihr vorkam, wie ein Märchen aus fernem Lande: Der Zeit, wo auf jedem Ackerstück gelbe Ähren im Winde wogen, wo in jedem Stalle Kühe brüllen, in jedem Koben ein rundes Schweinchen liegt, wo sie selbst mit zwei Pferden und lustigem Peitschenknall auf das Feld fahren, wo sie nicht mehr mit Heugabeln und verrosteten Musketen dem Nachzügler im Busch auflauern, und nicht mehr als Flüchtlinge in unheimlicher Waldesnacht auf den Gräbern der Erschlagenen sitzen, wo die Dächer des Dorfes ohne Löcher, die Höfe ohne zerfallene Scheuern sein werden, wo man den Schrei des Wolfes nicht in jeder Winternacht vor dem Hoftor hören muß, wo ihre Dorfkirche wieder Glasfenster und schöne Glocken hat, wo in dem beschmutzten Chor der Kirche ein neuer Altar mit einer seidenen Decke, einem silbernen Kruzifixe und einem vergoldeten Kelche steht und wo die jungen Burschen wieder Bräute zum Altar führen, die den jungfräulichen Kranz im Haare tragen. Feierlich und mit aller Inbrunst, deren das Volk fähig war, wurde das Friedensfest begangen. Die Jahre 1648—50 gehörten noch zu den schwersten der eisernen Zeit; unerschwingliche Kriegssteuern wurden ausgeschrieben. Die Heere der verschiedenen Parteien lagen bis zur Abzahlung auf den Landschaften. Dazu kamen Plagen anderer Art, alle Länder wimmelten von herrenlosem Ge- sindel. Banden entlassener Kriegsknechte mit Weibern und Troßbuben, Scharen von Bettlern, große Räuberhaufen streiften aus einem Gebiet in das andere. Sie quartierten sich gewaltsam in den Dörfern ein, welche noch Einwohner hatten und setzten sich wohl gar in den verlassenen Hütten fest. Auch die Dorfbewohner, mit schlechten Waffen versehen, der Arbeit entwöhnt, fanden es je weilen bequemer zu rauben, als das Land zu bestellen, und machten heimlich Streifzüge in benachbarte Gegenden, die Evangelischen in katholische und umgekehrt. Sogar die Zigeuner, deren Zahl und Dreistigkeit gewachsen, lagerten mit ihren fluchbeladenen Karren, mit gestohlenen Pferden und nackten Kindern um den Steintrog des Dorfes. Allmählich besetzten sich die Dörfer wieder mit Menschen. Viele Familien, die sich zur Kriegszeit in die Städte geflüchtet hatten, besserten ihre verwüsteten Höfe aus, andere zogen aus dem Gebirge oder der Fremde zurück. Auch verabschiedete Soldaten und 4roß- 132 knechte kauften von dem Rest ihrer Beute zuweilen Acker und ein leeres Haus oder liefen zum heimatlichen Dorf. Es wurde viel geheiratet und eifrig getauft. Aber die Erschöpfung war doch jämmerlich groß. Die Ackerstücke, deren viele geruht hatten, wurden ohne Dünger notdürftig bebaut; nicht wenige blieben, mit wildem Jungholz und Unkraut bewachsen, noch Jahre lang als Weideland hegen. Den Grund verwüsteter Ortschaften kauften zuweilen die Nachbardörfer; an einigen Stellen zogen sich zwei oder drei kleine Gemeinden zu einer zusammen. Nicht viel anders war es in den Städten; innerhalb der meist halb zerstörten Ringmauern gab es wüste Plätze, welche vor dem Kriege mit Häusern besetzt waren; in den schadhaften Häusern aber hatte vor dem Kriege die doppelte Zahl arbeitsamer Menschen gewohnt. Es gab Landschaften, wo ein Reiter viele Stunden umher- traben mußte, um an eine bewohnte Feuerstätte zu kommen. Ein Bote, der von Kursachsen nach Berlin eilte, ging vorn Morgen bis zum Abend über unbekanntes Land, durch aufschießendes Nadelgehölz, ohne ein Dorf zu finden, in dem er rasten konnte. Im Herzen Deutschlands lag die Grafschaft Henneberg, zu der 1634 177 Ortschaften gehörten. Sie war den Kriegsstürmen nicht mehr ausgesetzt als andere; man kann sie also als Durchschnittsbeispiel der Kriegsverwüstung anführen. — Über 20 Ortschaften sind sorgfältige Aufzeichnungen aus jener Zeit aufbewahrt. Darnach vernichtete der Krieg von je 100 Pferden 85, von je 100 Kühen 82, von je 100 Ziegen 83. Die noch vorhandenen Pferde waren alle lahm und blind, die Schafe aber an allen Orten sämtliche vernichtet. Felder und Wiesen waren verwüstet und zum Teil mit Holz bewachsen. 1634 1649 Zahl der Familien. 13,096 3,969 „ „ Häuser. 11,850 4,050 „ „ Einwohner. 60,975 16,448 Etwa 3 U aller Menschen, mehr als 4 /s ihrer Habe waren vernichtet. Erst 200 Jahre später wurde der Einwohnerstand von 1634 wieder erreicht; so lange brauchte es, um Deutschland wieder gesund zu machen. Einige andere Beispiele: In Württemberg blieben von 400,000 Einwohner noch 48,000 übrig; 36,000 Wohnhäuser waren zerstört worden. In der ganzen Pfalz zählte man nur noch 50,000 Seelen gegenüber einer Million; die Einwohner waren auf 1 j »o ihrer früheren Zahl zusammengeschmolzen. Im Nassauischen waren viele Dörfer völlig ausgestorben. Die große Handelsstadt Augsburg verlor von 133 90,000 Einwohnern 84,000; der arme Rest schlich elend durch die leeren Gassen. Die Stadt Löwenberg in Schlesien hatte 1617 6500 Einwohner, 1639 40 Bürger; 1641 ist sie unbewohnt; 1656 zählte sie 121 Bürger; 1845 hatte sie 4500 Einwohner. Im ganzen verlor Deutschland etwa 2 U seiner Einwohner: Ihre Zahl sank von 18 Millionen auf 7 Millionen herab. Was Hunger und Schwert verschont, war den Seuchen erlegen. Eine große Zahl von Städten und Dörfern war vorn Erdboden verschwunden, und man kennt bei vielen nicht einmal mehr den Platz, wo sie gestanden haben. Das Leben nach dem Kriege war unendlich elender als vorher; mehr als 100 Jahre lang lebten die Bauern wie das Vieh. Kirchen und Schulen waren meist vernichtet, kaum Vio der Pfarrer und Lehrer noch am Leben. Alle Laster machten sich breit: Genußsucht und Liederlichkeit, Kriecherei gegen Vornehme und Herzlosigkeit gegen Niedere. Nach G. Freytag, G. Weber etc. 55. Die Austreibung der Locarner. 1555. Ein beträchtlicher Teil der Bewohner Locarnos hatte sich der Reformation zugewandt. Darunter waren die vornehmsten Aloysius v. Orelli, die Brüder Muralto und der Rechtsgelehrte Duno. Die glaubenseifrige Geistlichkeit reklamierte wegen dieser Ketzerei, und die katholischen Orte setzten auf der Tagsatzung strenge Beschlüsse durch. Sie vertraten den Standpunkt, daß auch in Glaubenssachen die Mehrheit gelte, und trotz des energischen Widerstrebens Zürichs wurde das Urteil gefällt: „Die Locarner hätten zum alten Glauben zurückzukehren oder auszuwandern.“ Diese harten Maßregeln waren besonders dem päpstlichen Gesandten, dem Bischof Riperta, der auf der Tagsatzung erschien, zu verdanken. Mitten im Winter, am 12. Januar 1555, nach äußerst gefahrvoller Reise über den Gotthard erschienen die Gesandten der VII Orte in Locarno, um das Urteil zu vollziehen. Von den Reformierten nahm niemand an der Fahrt teil, weil das Volk gegen die Bestrafung der Glaubensgenossen murrte. Alle evangelischen Männer und Frauen erschienen vor den Gesandten. Die Männer traten nach ihrem Alter gereihet in den Saal. Ihnen folgten paarweise die Gattinnen, die ihre furchtsam sich anschmiegenden Kinder an der Hand führten oder auf den Armen trugen. Nach diesen kamen die Töchter. Alle waren reinlich gekleidet und zeigten in ihren Gebenden Anstand und Ehrfurcht. 134 Duno war der Sprecher; er legte das Glaubensbekenntnis der neuen Lehre ab und bat um Duldung in der väterlichen Stadt. Kaum hatte er aber ausgeredet, so fuhr ihn eitler der Gesandten an: „Wir sind nicht da, Eure Sekte anzuhören, sondern Euch zu richten.“ Als die Reformierten standhaft die Rückkehr zum alten Glauben verweigerten, las man ihnen das Verbannungsurteil vor. Einer aus der Gesandtschaft verabschiedete sie mit den spottenden Worten: „Geht jetzt und rüstet Euren Fastnachtzug 1“ Aber der Auszug sollte nicht ungestört vor sich gehen. Am folgenden Tage hielt Bischof Riperta, begleitet von zwei Mönchen, seinen Einzug in Locarno. Die Ketzer sollten bekehrt oder vernichtet werden. Die Mönche machten sich an die Vornehmsten der Reformierten heran — ohne Erfolg. Der Bischof selbst suchte die Frauen zu gewinnen; aber standhaft wiesen sie alle Bekehrungsversuche zurück. Bei den Gesandten beschuldigte der erzürnte Kirchenfürst die Frauen der Lästerung der Messe und der Heiligen. Er verlangte, daß vor allem die Muralto ins Gefängnis geführt werde. Die Häuser der Edelleute waren fast alle an den Ufern des Sees gebaut, und der unruhigen Kriegszeiten wegen mit heimlichen Ausgängen versehen. Als die Häscher in Muraltes Wohnung anlangten, trafen sie die Frau im Zimmer, wie sie sich eben die Haare kämmen ließ. Sie verlor Mut und Besinnung nicht; sie begehrte nur einige Augenblicke, um sich umzukleiden, ging in das anstoßende Gemach, öffnete leise den Schrank, stieg mit fliegender Eile in denselben hinein und durch ein weggeschobenes Brett und die kleine Türe in das Schiff und ruderte mit allen Kräften dem jenseitigen Ufer zu. — Die Häscher, die eine Weile gewartet hatten, traten in die Kammer, fanden aber nichts, als den offenen Kleiderschrank; das Brett war wieder vorgeschoben und keine andere Türe da. Die Flucht war ihnen so unbegreiflich, daß sie der festen Überzeugung waren, der Teufel habe die Frau durch das vergitterte Fenster weggeführt. Als sie auf die Straße kamen, löste sich das Rätsel: Sie sahen die Frau im Schiff in voller Arbeit und schon eine Strecke vorn Ufer entfernt. Man lachte über die erschrockenen und betrogenen Häscher. Der Bischof fand die Sache nicht spaßhaft; er klagte bei den Gesandten. Um ihn zu begütigen, wurden die Häscher aufs neue abgesandt, die andern Frauen in Haft zu nehmen. Diese waren aber noch zu rechter Zeit entwichen. Der Bischof schnaubte und verlangte, daß die Männer an ihrer Statt haften und ihre Vermögen eingezogen werden sollten. Das erstere gaben die Gesandten nicht zu; aber sie befahlen, das Weibergut wegzunehmen, jedoch nicht zu Handen der Kirche, wie der Bischof gemeint hatte. Den Reformierten wurde mitgeteilt, daß sie bis zum Z. März bei Lebensstrafe das Land zu räumen hätten. Alle Bitten, den Zeitpunkt über den harten Winter hinauszuschieben, wurden abgeschlagen. Mit großem Bekehrungseifer machte man sich an die Männer, deren Frauen katholisch blieben, oder an Frauen, die zu den Reformierten hielten, während ihre Männer am alten Glauben hingen. Ja, einige Tage vor der Abreise wurden fünf Kinder heimlich entführt, und erst den strengen Nachforschungen, welche der zürcherische Landvogt veranstaltete, gelang es, die Geraubten ihren Eltern wieder zuzuführen. Der gefürchtete 3. März brach an. In der Nacht war viel Schnee gefallen und die Kälte für die Jahreszeit ungewohnt streng. Dennoch hatte sich das Landvolk in Menge in den Flecken gedrängt, um die Abreise sich anzusehen. Vor den Häusern der Reformierten wurden die Saumrosse beladen. Die Menge des herumliegenden Gepäcks erregte bei dem Landvolk die Begierde zu plündern. Einer schrie aus dem Haufen: „ Dieser ist mir noch schuldig“; andere schrien nach; der Landvogt mußte dazwischen treten; die Evangelischen eilten, die Heimat zu verlassen. Ein Kranker, Antonio Trevanus, und eine Frau, die vor kurzem Mutter geworden war, hatten vorn Landvogt die Erlaubnis erhalten, noch einige Tage zu bleiben; ein Priester bemerkte, daß sie beim Abzüge fehlten; er machte Lärm; begleitet von dem Pöbel stürzte er in die Wohnungen und schleppte die Halbtoten auf die Gasse. Diese Grausamkeit brach den Evangelischen das Herz. Bis jetzt hatte man bei ihnen keine Träne fließen sehen. Nun war ein lautes Weinen und klagend schieden sie von ihrem Vaterlande mit seinen lieben Jugenderinnerungen, wo sie Ehegatten, Eltern, Kinder, Geschwister, Freunde, Ehren und Güter zurückließen. Die beiden Kranken wurden so sorgfältig behandelt, als es die Umstände erlaubten; doch verschied das Kind in den Armen der ächzenden Mutter, und wenige Augenblicke darnach starb auch sie. Trevanus bat seine Träger, ihn liegen zu lassen, da er fühle, daß sein Ende nahe sei; kaum hatte er ausgeredet, so verließ auch ihn das Leben. Die Übrigen erreichten, vor Kälte und Müdigkeit beinahe erstarrt, das bündnerische Dörfchen Roveredo. Sie wurden freundlich 136 empfangen, gastlich bewirtet, so gut es die Dorfleute vermochten und eingeladen zu bleiben, bis die Kälte nachgelassen und die Bergstraßen ohne Gefahr zu bereisen wären. Die Ausgetriebenen blieben bis Anfang Mai in diesem kleinen, friedlichen Dorfe. Am 1. Mai verließen sie das gastliche Roveredo und bestiegen mutvoll und voller Freude, eine sichere Ruhestätte zu finden, die rauhen Gebirge. Es begegnete ihnen kein Unfall; überall, wo sie Herberge suchten, wurden sie gütig aufgenommen. Den 12. Mai 1555 kamen sie, 126 an der Zahl, in Zürich an. Dieser Tag war ein Festtag für die ganze Stadt. Sobald man die Schiffe von ferne kommen sah, begab sich eine Menge Bürger aus Gestade, um die fremden Ankömmlinge zu empfangen und ihnen Herberge und Hilfe anzubieten. Als sie ausstiegen, entstand ein edler Wetteifer unter den Zürchern, wer einen von diesen Fremdlingen mitnehmen dürfte. Wie jubelte es jetzt in den lange geängstigten Gemütern! Das waren nicht die rauhen Gebirge und die unfruchtbaren Ebenen, wie sich die meisten Locarner die innere Schweiz vorgestellt hatten. Ihre neue Heimat war das schöne Zürich. Weithin sah man die fruchtbaren Rebengelände und den lieblichen See; aber noch mehr: Da waren edle, mitleidige Menschenherzen, die der Not ihrer Brüder sich erbarmten und den Verstoßenen gerne eine Zufluchtsstätte bereiteten. Nach Heinrich Lang: Religiöse Charakterbilder. 56. Schreiben Luzerns an den Papst nach der Schlacht von Villmergen 1712. (Auszug.) Der Papst hatte Luzern Vorwürfe gemacht, daß es sich einen schimpflichen Frieden gefallen lassen wolle, und den Ort zu fernerem Widerstand ermuntert. Heiligster Vater! In den drei Briefen Ihrer Heiligkeit lasen wir mit großer Betrübnis die Beschuldigung, als hätten wir unsere Pflicht nicht erfüllt, der wahren Religion die tiefste Wunde geschlagen und durch diese Feigheit uns selbst mit Schmach und Schande bedeckt. Diese treulose Anschwärzung ist es, was uns außerordentlich schmerzt und kränkt. Denn selbst die Feinde wagen es nicht, uns solcher Fehler zu beschuldigen und für das Gegenteil spricht doch wohl laut genug unser Blut, welches reichlich geflossen. Der ungünstige Erfolg des ersten Treffens muß lediglich der Kampflust und dem Eifer unserer Truppen zugeschrieben werden, welche zügellos und unbesonnen auf die Feinde losstürmten. Und wie hätte die zweite Schlacht anders als höchst unglücklich endigen können? Das Volk, vorzüglich durch die Geistlichen zur Empörung verleitet, kündigte seinen rechtmäßigen Oberen den Gehorsam auf, drohte den Anführern Mord, unserer Stadt aber Zerstörung und Verderben und entzog uns hierdurch ohne Zweifel den Segen des Himmels. Dem Frieden fügen wir uns unwilligen Herzens. Sobald Recht und günstige Gelegenheit es wieder gestatten, werden wir freudigen Mutes vor aller Welt Beweise unserer Gottesfurcht und Vaterlandsliebe ablegen. Endlich ersuchen wir Eure Heiligkeit dringend, den Herrn Nuntius von seiner hiesigen Stelle abzurufen und aus der Schweiz zu entfernen. Denn er trägt die ganze Schuld unseres Unglücks; er hat auch die Fortsetzung des Krieges mit gesetzwidrigem und ungestümem Eifer betrieben durch Aufhetzung der Geistlichkeit vermittelst eines anhaltenden Briefwechsels und durch Aufwiegelung des unruhigen Pöbels, der keine Rechte des Krieges anerkennt. Auf solche Art hat er uns in die gegenwärtige, unglückliche Lage gestürzt und unsern Staat an den Rand des Unterganges geführt. Es ist uns daher unmöglich, fernerhin mit gehörigem Vertrauen unsere Anliegen dem heiligen Stuhle durch eben jenen Mann zu eröffnen und mitzuteilen. Indessen wollen wir nun dieses alles, sowie die vielen andern unrühmlichen Schritte, die sich der Herr Nuntius bei verschiedenen Anlässen erlaubte, mit Stillschweigen übergehen, um Eurer Heiligkeit nicht länger beschwerlich zu fallen, deren heilige Füße wir mit tiefster Verehrung küssen. Untertänigste und gehorsamste Söhne und Diener, Schultheiß und Rat der Stadt und Republik Luzern in der Schweiz. Gegeben zu Luzern, den 13. August 1712. Öchslis Quellenbuch 57. Aus dem zürcherischen Sittenmandat von 1755. Aus dem Landmandat. Den Namen Gottes soll niemand unnütz nennen oder mißbrauchen und sich vor Verletzung seiner Eidespflicht, vor Gotteslästerung, Lachsnen (Betrug durch Geisterspuk), Fluchen, Schwören, Schmähen, Schelten und Verleumden sorgfältig hüten. Übertreter werden mit Geldbuße und Gefängnis bestraft. Jedermann soll sich des hitzigen Wörtlens und Zankens, sowie des Zuckens von Messern und andern Mordgewehren enthalten, bei Strafe an dem Leben für einen vorsätzlichen Totschläger. 138 Verpönt ist das leichtfertige Reiten auf dem Seil bei 5 Pfund 1 Buße für den, der es in seinem Hause zuläßt. Ebenso ist das Tanzen an Hochzeiten und andern Anlässen untersagt. Der Hochzeiter oder der Hauseigentümer bezahlt eine Buße von 10—15 Pfund, jede tanzende Person 3 Pfund, selbst wenn in Hölzern oder anderswo getanzt würde. Gänzlich verboten ist das Karten- und Würfelspiel, ebenso anderes Spiel und zwar bei einer Buße von 50 Pfund. Desgleichen sind Wetten untersagt. Ein Wirt darf keinem Gemeindegenossen für Ürten über 5 Schilling (30 Rp.) borgen. Es ist ihm untersagt, Wein außer dem Hause (über die Gasse) und auf Deiß (Borg) zu verabreichen, außer für Kranke. Das Übersitzen in Wirtshäusern und an andern Orten wird bestraft mit 5 Pfund für den Wirt und 1 Pfund für den Gast. Verboten sind die großen Hochzeitseinladungen von Gemeindegenossen und Fremden, die nicht zur Verwandtschaft gehören, das Schießen an Hochzeiten bei 10 Pfund Buße, das Eier-Einziehen, kostspielige Taufmahle und die sogenannten Küchleten. Einem Tauf- kinde darf zum ersten Male höchstens ein Gulden eingebunden werden. Wer Tabak raucht auf offenen Wegen und Straßen, in und bei Ställen, in Scheunen, oder an andern gefährlichen und unanständigen Orten, besonders aber an Sonn- und Werktagen auf dem Kirchweg, wird mit 2, 3, 5 und mehr Pfund gebüßt. Aus dem Kleiderreglement: Die Männer sollen sich einer bescheidenen und landesanständigen Kleidung bedienen. Alle zum Militärdienst eingeschriebenen Leute haben bei einer Buße von 32 Schillingen in die Predigten das Seitengewehr zu tragen. Verboten sind Samt, Plüsch, Damast und seidenen Stoffe an Röcken, Ka- misol und Hosen, ebenso seidenes Futter und seidene Strümpfe, alle ganz goldenen Hutringgen und Hemdenknöpfe, alle ganz vergoldeten Kostbarkeiten an Kanen (la canne — der Spazierstock), Knöpfen, Degen usw.; ausgenommen sind die bordierten Hüte. Desgleichen gestattet die Obrigkeit das Tragen einfacher und kurzer Perücken. Den Frauen ist bei 20 Pfund Buße oder sogar Gefängnisstrafe verboten: Das Tragen aller massiv goldenen und ganz vergoldeten Sachen, der Gebrauch der mit Silber beschlagenen Bücher, der Ohrengehänge und Kleinode. Verboten ist ferner das Tragen von tuchenen und ganz seidenen Kleidern, des Samts, der kostbaren Fürgürtlein, gold- und silbei- 139 fädigen Zeugs, das Tragen echter oder falscher Spitzen außer bescheidenen schwarzen an Bodenkappen und Stirnen. Das Pudern und Krausen der Haare, dessen sollen sich die Frauen gänzlich müssigen (d. h. enthalten). Dieses Landmandat mußte in den Gemeinden alljährlich am ersten Sonntag nach Ostern verlesen werden. Geistliche und Beamte hatten die Ausführung zu überwachen und Fehlbare den Ober- und Landvögten anzuzeigen. Das Stadtmandat enthielt ähnliche, wenn auch nicht ganz so strenge Bestimmungen. So war z. B. verboten, an einem Sonntag aus der Stadt zu fahren oder zu reiten, überhaupt in Kutschen und Chaisen im Gebiet der Stadt zu fahren. 1 Das Pfund wurde nur als Rechnungsmünze benutzt, ausgeprägt hat man es nie. 1756 hatte es einen Wert von Fr. 1.19. 58. Aufzug eines neuen Vogtes in Werdenberg. In Glarus wurden die Landvogteien an den Meistbietenden versteigert, diese Amtsstellen also förmlich für 3 Jahre verpachtet. Für Werdenberg wurde bis 8000 Gulden bezahlt! Um wieder zu seinem Gelde zu kommen, sah sich der Landvogt gezwungen, für die kleinsten Vergehen harte Bußen zu fällen. Oft ließ er sich auch als Richter bestechen, so daß, wer genug Geld bieten konnte, sicher war, trotz offenkundiger Verbrechen straflos auszugehen. Der erste Mai ist angebrochen, der neugewählte Landvogt tritt sein Amt an. Mit schwarzen Seidenstrümpfen, Kniehosen, Mantel und Dreispitz angetan und den Degen an der Seite, hält er in Begleitung der beiden Gesandten des Standes Glarus seinen Einzug In Sargans holt ihn die Herrenkutsche von Werdenberg ab. Damit aber dem „gnädigen Herrn“ kein Anstand passieren könne, macht ein Herold mit gellender Stimme in den Ortschaften bekannt, daß bis 10 Uhr alle im Wege liegenden Misthaufen, Scheitstöcke und Holzhaufen bei hoher Buße bei Seite geschafft sein müssen. Bald rückt auch der Zug heran. Voran schreiten der Landespfeifer und Landestambour, beide in scharlachroter Uniform und mit wallen, dem Federbusch; hinter ihnen reiten die Gesandten, es folgt die Herrenkutsche mit dem Landvogt, dann kommen die Landesdiener, und den Schluß bilden neugierige „liebe, getrüwe Untertanen“. So geht der Zug dem Schlosse zu. In Buchs erschallen die Kirchen- glocken; vorn Schloß herab erdröhnen die Kanonen, und aus allen Fenstern gucken neugierige Köpfe, um aus dem Gesicht des Vogtes zu sehen, ob er ein „Gelinder“ oder ein „Schinder“ sei. Vor dem 140 schweren, eichenen Stadttore, hinter welchem die Herren verschwinden, löst sich der Zug des Landvolkes auf, während die Beamten sich im Rittersaale des Schlosses gütlich tun. Am folgenden Tag, gewöhnlich an einem Sonntag, eilt jung und alt, festlich gekleidet, nach Werdenberg zum Umzug. Im Schlosse geht es unterdessen lebhaft her. Die Beamten des Landes, der Landeshauptmann mit seiner Kompagnie und die Spielleute sind da beim Morgentrunk versammelt. Endlich krachen einige Kanonenschüsse im Hofe. Der Festzug bewegt sich unter den Klängen einer Musik nach dem Festplatz. Die gnädigen Herren nehmen Platz; die Schloßkompagnie und die gesamte, zu diesem Zweck eingedrillte Mannschaft marschiert heran, macht Front gegen die Beamten, legt auf Kommando die Gewehre vor sich auf den Boden und tritt zwei Schritte rückwärts. Feierliche Stille herrscht, wenn der Akt der Huldigung beginnt. Ernst und streng steht der Landvogt da und läßt die Blicke über seine nunmehrigen Landeskinder gleiten, der Landschreiber entrollt seine Papiere und verliest das große Landesmandat, worauf die Männer mit erhobenen Schwurfingern den vorn Landvogt ausgesprochenen Huldigungseid leisten. Nach dem feierlichen „Amen“ herrscht Totenstille, bis der Landeshauptmann sie mit dem gewichtigen Kommando unterbricht: „So, jetzt ihr Mana, ladet no en waggere Schutz 1“ Ein langandauerndes Gewehrknatter erfolgt; Mann um Mann schreitet salutierend bei dem gnädigen Herrn vorbei und der Hauptakt des Umzuges ist zu Ende. Nun zerstreut sich das Volk; auf dem Schlosse findet für die Gesandten und den Landvogt noch eine große Mahlzeit statt, die bis in die Nacht dauert. Nach „Werdenberg unter der Herrschaft der Glamer“. Buchs 1897. 59. Leben der Landjunker in der Herrschaft Wülflingen. Früher waren oft öffentliche, staatliche Rechte in Privatbesitz (infolge des Lehenswesens). Begüterten, meist adeligen Familien gelang es, die niedere Gerichtsbarkeit zu erwerben und erbliche Herrschaften zu begründen. Diese bestanden oft aus zwei bis drei Dörfern. Der „Junker Gerichtsherr“, der im Schlosse wohnte, nahm wie ein Fürst die Huldigung der Dorfbewohner entgegen. Er vergab Mühlen und Schmieden als Lehen, ihm standen Jagd und Fischerei zu. Dazu besaß er gewöhnlich ausgedehnte Güter und Waldungen als Eigentum. Seine „Untertanen“ entrichteten Lehenzinse und Steuern, Vogt- und Einkaufsgebühren, Fastnachthühner, sie leisteten Fronden. Der „Herr“ richtete die niederen Vergehen (Frevel), z. B. Degenziehen, Schlaghändel und Diebstahl. Er fällte Bußen bis zu 60 fl. Alljährlich zweimal hielt er mit zwölf 141 Richtern in der Amtsstube des Schlosses oder im Wirtshaus Gericht. Da der Gerichtsherr auch Käufe, Verträge und Vermächtnisse bestätigte und die Wahl der Beamten von ihm abhing, vereinigte er tatsächlich in sich die Macht eines Zwergstaatregenten. Solche Familienherrschaften gab es im Kanton Zürich eine große Zahl Die Grafschaft Kiburg allein zählte deren 27. Natürlich wechselten im Laufe der Jahrhunderte vielfach die Besitzer. Salomon Hirzel von Zürich hatte sich in holländischen Diensten ausgezeichnet, dort das zürcherische Regiment erhalten und sich durch seine Tüchtigkeit zu der für einen Ausländer seltenen Würde eines Generals der Infanterie emporgeschwungen. 1734 erwarb er die Herrschaft Wülflingen nebst vielen Höfen, Gütern und einer Ziegelhütte. Bei heranrückendem Alter zog er sich dahin zurück und unterhielt auf seiner Herrschaft eine Art Hofstaat. Seine drei Söhne, die in seinem Regimente Offiziere waren, verbrachten die meiste Zeit auf Urlaub im väterlichen Hause. Wenn auch das Schloß Wülflingen nicht sehr geräumig ist, so fand man hier doch eine zahlreiche Dienerschaft, einen Marstall voll schöner Pferde, eine Rüstkammer mit kostbarem Jagdgerät, eine Menge wohlabgerichteter Hunde, allerlei fremdes und einheimisches Geflügel, wilde und zahme Tiere, z. B. einen angesessenen Wolf, der bellend die Pforte des Hauses bewachte, einen Hirsch, welcher zur Übung für die Hunde gejagt werden konnte und sich doch auf einer bestimmten Stolle immer wieder ruhig einsangen ließ. Der General hielt immer offene Tafel für die von allen Seiten herbeiströmenden Gäste. Im Hard stand ein Jagdhaus, die Jägerburg genannt, welches vermittelst einer Wendeltreppe und eines unterirdischen Gewölbes einen geheimen Ausgang an dem Ufer der Töß hatte. Hier pflegte der General mit seinen Jagdgefährten die Mahlzeit einzunehmen; Pferde und Hunde konnten auch daselbst untergebracht werden. Durch den Wald waren breite Alleen ausgehauen, die gepflastert und wohl unterhalten, von verschiedenen Seiten her nach der Jägerburg führten. Über die in der Nähe vorbeifließende Töß war ein leichter Steg und auf demselben ein Falladen so angebracht, daß mancher zum Spaß hinübergeschickte Neuling in das Wasser plumpsen mußte. Große Jagden, Schlitten- und andere Spazierfahrten wurden veranstaltet, mit Büchsen und Pistolen nach der Scheibe geschossen und mannigfaltige Spässe unter den versammelten, lebenslustigen Genossen vorgetragen. Daneben war dieses adelige Landleben durchaus militärisch; mit grauendem Morgen wurde Tagwache, am Abend der Zapfenstreich geschlagen. 142 Obgleich der General mit seinen Söhnen über 30,000 Gulden 1 jährlicher Einkünfte aus Holland bezog, so reichte diese beträchtliche Summe nicht hin, die Ausgaben einer solchen Wirtschaft zu bestreiten. Je mehr der General an Geisteskräften abnahm, desto ungebundener hausten die Söhne. Ihr Mutwille war nicht zu bändigen; sie übten tausend possierliche, oft aber ärgerlichen Streiche aus, die mitunter schlimme Händel veranlaßten. Häufig dehnten sie die Jagd über ihre eigenen Grenzen auf das Gebiet der Nachbarn aus, ließen aber die geringste Verletzung der ihrigen nie ungeahndet. — Elias Ziegler, der Pfarrer von Pfungen, selbst ein Weidmann, hatte sich ihrem unzeitigen Jagen in seiner Gemeinde widersetzt. Da griffen sie ihn, alle drei zu Pferde, als er von Winterthur heimreisen wollte, an, trieben ihn mit Hetzpeitschen in die Töß und aus dieser, immer auf ihn zuhauend, weiter, bis er endlich auf der Allmend stürzte und kniend um Verzeihung flehte. — Auch dem Kartenspiel waren die Prüder nicht abgeneigt und trieben es selbst auf dem Jägerhalt, öfter noch im Schlosse, und zwar hier bisweilen in Sitzungen, die ununterbrochen mehrere Tage und Nächte fortdauerten, allein nie zu ihrem eigenen Vorteil. Denn, hatten sie auch irgend einem bemittelten Nachbarn Haus und Hof abgenommen, so pflegten sie ihm ritterlich so lange Genugtuung zu geben, bis er nicht nur das Seinige wieder, sondern noch große Summen dazu gewonnen hatte. Nachdem der gegen sein Lebensende blödsinnig gewordene General 1755 gestorben, womit die großen Geldsendungen aus Holland aufhörten, übernahmen die Söhne die Herrschaft. Sie wirtschafteten aber so zügellos fort, daß sie Gut um Gut und zuletzt auch das Schloß verkaufen mußten. Vor der Übergabe des Schlosses machte Oberst Salomon sich noch den Spaß, die Wohn- und Gerichtsstube durch seinen Haus- und Hofmaler, Stöffi von Rieden, mit Vorstellungen aller tollen Streiche verzieren zu lassen, die er mit seinen Prüdem ausgeführt hatte. Man sieht daselbst noch heutzutage diese in Felder abgeteilten, blau in blau gemalten komischen Schildereien, so z. P. den damaligen Pfarrer von Wüstlingen mit einem Heiligenschein neben einer Sau ruhend und der Überschrift: „Gleich und gleich gesellt sich gern“, eine Raufszene des Obersten mit einem benachbarten Gerichtsherrn, die wegen eines auf Wülflingerboden von diesem geschossenen Hasen stattgefunden hatte, sogar die Verfolgung und Mißhandlung des Pfarrers von 143 Pfungen, über welcher eine Tafel mit der Inschrift hing: Freigebige Belohnung von „drei Eidgenossen etc.“, eine Menge anderer Schnurpfeifereien und endlich auf der Türe die drei Herren Gebrüder Hirzel, von hinten abgebildet, wie sie nach vollbrachten Taten ruhig und gravitätisch, den Hut unter dem Arm, den Degen an der Seite, über die Grenze ihrer verspielten und vergeudeten Herrschaft schreiten. 1 1 Gulden galt 1760 Fr. 2.33 (heute das vierfache). Nach Vögeli u. Müller 60. Salomon Landolt. Die Verwaltung der züreherischen Landschaft blieb von Waldmann bis 1798 ungefähr dieselbe. Sehr bedeutende Rechte hatten die Städte Winter- thur und Stein a. Rh. Jenes hatte selbst einen Großen und Kleinen Rat, ein Stadtgericht, und Besitzungen und Gerichtsbarkeiten außerhalb der Stadt. Es gab 22 Obervogteien oder innere Vogteien, die durch je 2 Mitglieder des Kleinen Rates von der Stadt aus verwaltet wurden: Altstetten und Asch, Birmensdorf, Bülach, Krlenbach, Höngg, Borgen, Küsnacht, Männedorf, Meilen, Neuamt (bei Höri etc.), Regensdorf, Rümlang, Schwamendingen und Dübendorf, Stäfa, Vier Wachten und Wipkingen, Wettswil, Wiedikon, Wollis- hofen, Laufen, Hegi, Altikon, Kelleramt (Lunkhofen). Zum Teil umfangreicher waren die 9 Landvogteien oder äußeren Vogteien: Andelfingen, Eglisau, {Greifensee, Grüningen, Knonau, Kiburg, Regensberg, Wädenswil, Sax und Forsteck. Die Landvögte, vorn Großen Rat aus seiner Mitte auf sechs Jahre gewählt, residierten in Schlössern an Ort und Stelle. Ihre wichtigste Befugnis war die hohe Gerichtsbarkeit, das Recht über Leben und Tod. Sie fällten mit dem Landgericht, dessen Beisitzer Untervögte und Landrichter hießen, das Urteil. Ihnen stand auch das Recht der Begnadigung zu. Sie trieben die Einkünfte der Regierung ein und boten die Mannschaft zum Kriegsdienst auf. Wenn auch gelegentlich einer dieser Vögte seine Macht mißbrauchte (wie z. B. der ungetreue Grebel in Grüningen), so war die Verwaltung doch im allgemeinen sparsam und gut. Was ein pflichtgetreuer und wohlmeinender Landvogt seinem Gebiete sein konnte, zeigte der edle Johann Kaspar Escher (1717—1723 auf Kiburg), der darnach strebte, „ein Vater des Landes zu sein, zu sorgen, zu schaffen, zu arbeiten, daß die Untertanen in guter Zucht, Ordnung und Einigkeit unter einander leben und ein jeder bei dem Seinen geschützt werde“ und nicht minder der originelle Salomon Landolt (1781 bis 1787 in Greifensee, 1795—98 in Eglisau). Salomon Landolt, geb. 1741, stammte aus angesehener Zürcher- familie. Sein Vater war Obervogt in Wellenberg im Thurgau, seine Mutter die Tochter des Generals Salomon Hirzel in Wüstlingen. Der Knabe, in der Schule einer der letzten, zeichnete sich durch praktischen Sinn schon früh aus. In Wellenberg widmete er sich der Landwirtschaft und in Wülflingen erhielt er Unterweisung in allen körperlichen und militärischen Übungen. Daneben versuchte er sich mit Glück als Maler. Nach Absolvierung militärischer Studien im Ausland machte er sich in Zürich einen Namen als Gründer des 144 freiwilligen Scharfschützen- und des Jägerkorps. Seine Bewunderung für Friedrich den Großen führte ihn nach Berlin, von wo er die lebhaftesten Eindrücke zurückbrachte. 1777 wurde der praktische, überall brauchbare Mann in den Rat gewählt und erhielt 1781 die Landvogtei Greifensee. Sofort entfaltete er eine rege Tätigkeit zur Förderung alles Guten in dem ihm unterstellten Gebiete. Dabei kamen ihm seine landwirtschaftlichen Kenntnisse sehr zu statten. Da er den mißtrauischen Sinn der Bauern kannte, wollte er vor allem durch sein Beispiel wirken. Er bebaute die Schloßgüter nach modernen Grundsätzen. Das Brachland verschwand. DerWeidgang wurde abgeschafft und die Stallfütterung eingeführt. Dadurch erhielt er Dünger im Überfluß und konnte seinen Feldern einen reicheren Ertrag abgewinnen als alle Nachbarn. „Mist geht über List“, stand am Stalle des Schlosses. Dann pflanzte er Klee an und baute so viel Kartoffeln, daß er sie zur Mast verwenden konnte. Da der praktische Sinn Lan- dolts sich überall bewährte, fand er bald Nachahmer, besonders weil er die Durchführung der neuen Ideen durch Rat und Tat unterstützte. Pfundweise verschenkte er Kleesamen, vernachlässigte Grundstücke kaufte er auf, setzte sie in Stand und gab sie zu billigem Preise an ärmere Landwirte ab. Ebenso vorbildlich war seine Tätigkeit in der Forstwirtschaft; überall wurden die Wälder gelichtet, und das unnütze Gestrüpp weggeschnitten. In uneigennütziger Weise förderte er auch den Straßenbau, so daß er in kurzer Zeit als anerkannter Wohltäter seines Bezirkes ungeteilte Verehrung genoß. Dazu verschafften ihm sein munterer, natürlicher Sinn und seine originellen Einfälle eine Beliebtheit, wie sie kein anderer Landvogt im Zürichbiet besaß. Geradezu berühmt wurde er durch seine Gerichtsentscheide. Im Gegensatz zu vielen Landvögten, die, nicht ohne Eigennutz, eine Unmasse Bußen verhängten, zog er die körperliche Züchtigung vor, da durch die Geldstrafen nur die Angehörigen der Bestraften getroffen würden. Andererseits zeigte er stets ein scharfes Verständnis für den wahren Notstand und die daraus sich ergebende Verletzung der Gesetze. — Ein elternloser Junge wurde einst von seinen eigenen Halbbrüdern des Diebstahls angeklagt. Der Landvogt versprach, den Übeltäter zu kurieren. Statt einer Tracht Prügel überließ er dem armen Teufel, dem der Hunger aus den Augen sah. warme Speisen vorsetzen, die der Knabe gierig verschlang. Nachher ergab sich aus dem Verhör, daß der unglückliche Junge bei seinen 145 Halbbrüdern schwarzen Hunger leiden mußte. Landolt behielt ihn einige Tage auf dem Schlosse und ließ ihn nachher auf seine Kosten das Schmiedehandwerk erlernen. — In Eglisau ließ ein liederlicher Schneider seine Familie darben. Der Landvogt sperrte ihn kurzerhand ein und zwang ihn zu strenger Arbeit. Nach vier Wochen wurde ihm der Lohn ausbezahlt. Der Mann, der eingesehen, daß Fleiß weiter führt als Müßiggang, wurde gebessert entlassen. — Energisch ging er dem Spielteufel zu Leibe. In Greifensee ließ er die jungen Leute am Sonntag ins Schloß kommen und mit ihnen Gesangübungen abhalten, um sie eine würdigere Feier des Ruhetages zu lehren. In den Schlupfwinkeln aber machte sich das Laster nach wie vor breit. Da viele Familienvater durch den verderblichen Zeitvertreib ihre Haushaltung in Armut brachten, beschloß Landolt, mit aller Strenge einzuschreiten. In Gfenn bei Dübendorf saßen einige schlimme Gesellen einst in Erwartung eines Gimpels, der sich rupfen lasse, in einer übelbeleumdeten Kneipe. Da trat ein Tirolerkrämer ein, der sich ruhig in eine dunkle Ecke setzte. Allen Lockungen zur Teilnahme am Spiel widerstand er, da er vernommen habe, es lebe hier ein Landvogt, der die Spieler strenge bestrafe. Die Burschen spotteten des Vogtes und wollten den Krämer zwingen mitzuspielen. Da öffnete dieser das Fenster, pfiff durch die Finger, und sechs Bewaffnete stürmten herein. Der Krämer riß die Kappe vorn Kopf und strich die Haare zurück: Es war der Landvogt! Die Spieler wurden geknebelt und so hart bestraft, daß sie ein warnendes Beispiel bildeten. — Ein wirklich „salomonisches“ Urteil fällte er gegen zwei Bauersleute in Maur. Ein Mann beklagte sich beim Landvogt über seine Frau, die stetsfort zanke und ihn sogar mißhandle. Einmal habe sie ihm eine Schale siedenden Kaffee über die Brust gegossen. Nach längerer Unterhaltung wußte der Landvogt immer noch nicht, wer der schuldige Teil sei. Er meinte nun zu dem geplagten Ehemann: „Künftigen Sonntag laß ich dein Weib in die „Trülle“ 1 sperren, und du kannst den giftigen Satan vor der ganzen Gemeinde drillen, so lange es dir gefällt.“ Der Bauer erschrak und wollte seine Frau nicht vor aller Welt in Schande stürzen. Nun ließ der Vogt die Bäuerin kommen. Mit geläufigem Mundwerk beklagte sie sich über ihren Mann und als der Landvogt ihr in Aussicht stellte, sie dürfe denselben am Sonntag drillen, konnte sie sich vor Freude kaum fassen. Landolt ließ die Zänkerin für einige Tage einsperren, bis sie mürbe geworden. — Ähnliche Beispiele ließen sich GegohichtslehrmUtel. II. 1Ö 146 zu Dutzenden aufzählen. Sie alle zeigen den gesunden Sinn und die originelle Art des volkstümlichen Landvogts. Trotz seines Wohlwollens für das Volk blieb aber Landolt ein echter Sohn der Stadt, der nie vergaß, daß der Städter zum Regenten, der Landmann zum Untertan geboren sei. Als die Truppen der Landvogtei Eglisau sich (1795) weigerten, gegen die Stäfner zu marschieren, ließ Landolt einen Landstreicher aus dem Gefängnis holen und stellte ihn den Murrenden mit den Worten vor: „Schaut, das ist auch einer, der immer das Maul offen hat, um auf die Regierung zu schimpfen.“ Wenn der Vergleich auch unwahr und ungerecht war, so tat er doch seine Wirkung: die Truppe zog ab. Aber bald wurde der ungünstige Wind, der gegen die Stadtherren wehte, zum Sturm, der mit den Untertanenverhältnissen auch die Landvögte wegfegte. Landolt zog sich ins Privatleben zurück und starb nach einem ruhigen Lebensabend geachtet und geliebt von allen, die ihn kannten, 1818 in Zürich. Nach Heß: Sal. Landolt. 1 Die „Trülle“ war ein hölzerner Käfig, in welchem man die Gefangenen solange drehte, bis ihnen übel wurde. 61. Die Heimatlosen. Schmunzelnd steht der behäbige Bauer vor seinem Heimwesen. Friedliche Stille ringsumher. Da knurrt der treue Hofhund und springt kläffend auf, „Zigeuner“ biegen in die Gasse. Das ganze Dorf kommt in Aufregung. Neugierig gaffend oder auch besorgt mustert die Bevölkerung die Insassen der mit Leinwand überspannten Wagen: Struppige Männer, keifende Weiber und schmutzige Kinder! Jetzt heißt es die Augen offen behalten, will man nicht von den schlauen Wagenbewohnern bestohlen werden. Wenn auch ungern, gibt man den dreist Fordernden ein Almosen und siebt aufatmend die ungebetene Gesellschaft im nahen Walde verschwinden! Und wer sind diese „fahrende Leute“! Die Nachfolger und zum Teil die Nachkommen der Heimatlosen, jener Unglücklichen, die jahrhundertelang die Länder Europas durchirrten, nirgends geduldet, überall verjagt. Auch die Schweiz beherbergte natürlich solche Ausgestoßene der menschlichen Gesellschaft, durch Krieg und Hungersnot aus ihrem Heimatlande Vertriebene, wegen größerer oder kleinerer Vergehen von ihrem Sitz Verjagte, umherziehende Kessel- und Schirmflicker, Bettler und Vaganten aller Art. Jeder Kanton suchte, die unbequemen Gäste dem andern aufzubürden. 147 In regelmäßig wiederkehrenden Betteljagden trachteten die Regierungen, ihr Gebiet von der Landplage, die solche Heimatlose öfters wirklich bildeten, zu säubern. Nur in wilden Schluchten, im Düster unwegsamer Wälder, auf ödem Moor oder an verschrieenen Orten fristete das arme Völklein noch ungestört sein trauriges Dasein. Folgen wir einer solchen „Bande“ in ihren Schlupfwinkel: Bettelnd schleichen abenteuerliche Gestalten durch das einsame Bergdörfchen. Auf unwegsamen Pfaden finden sie sich nächtlich zusammen, um ihr Gelage abzuhalten, an dem sie das Leid, das sie erdulden, für einige Augenblicke vergessen. Unter einer alten Schirmtanne brennt das Lagerfeuer und darüber hängt ein Kessel, in dem Schinken, Speck und Würste brodeln. Weiber sind damit beschäftigt, in zischender Butter allerlei Küchlein zu backen, die sie auf dem Rasen hoch auftürmen. Am Feuer stehen Kannen und Milchtöpfe, und im Schatten unter dem Gesträuch liegen dickbauchige Wein- und Branntweinflaschen. Um das Feuer gelagert schwatzen, essen und trinken alte, verwegene Männergestalten und runzlige Weiber. Ihre Sprache ist nur für den Eingeweihten verständlich, und der Zeichen, die der Führer in den nahen Eichbaum schnitzt, sind selbst nur wenige der „Fahrenden“ oder „Fecker“, wie man sie auch nennt, kundig. Das junge Volk wiegt sich in wildem Tanz nach den Melodien des Hackbrettes oder der Violine; übermütig kücheln Buben und Mädchen Hollunderzweige in der geschmolzenen Butter und lassen die Zweige scherzend zurückschnellen. Da durchdringt der unheimliche Schrei der Eule die klare Nachtluft — das Zeichen der Schildwache, daß Gefahr drohe. In wilder Hast raffen Männer und Weiber Pfannen und anderes Gerät zusammen; das Feuer erlischt; wie die Schatten gleiten die Heimatlosen in das schützende Dickicht. Die Landjäger finden nichts mehr als die verglimmenden Lagerkohlen, etliche abgenagte Schinkenknochen, leere Flaschen und an den Hollunderstauden die gekachelten Zweige. Die Verfolgung ist schwierig; es ist, als hätte der Boden die Bande verschlungen. Am andern Morgen schleicht der ergraute Führer zur einsamen Waldkapelle. Er finde« roie /eichen an der Wand. Gellend ertönt aus seinem Munde der Seine > tlühnerweihs, und lebendig wird s im nahen Gehölz. 1 n Aug. uui.ck ist die Sippschaft der Fecker beisammen und verni uiiil die Deutung der rätselhaften higuren: Eine andere Familie der hal i enden hat hier gerastet. Sie ist am 148 Berghang bei der hundertjährigen Eiche zu treffen. Auch sie ist der Verfolgung entronnen, rät aber allen Unglücksgefährten, die ungastliche Gegend zu verlassen. In der nächsten Nacht schleichen dunkle Gestalten der Grenze zu. Sausend fährt der Wind durch die Wipfel und klatschend prasselt der Regen hernieder. Die Heimatlosen überschreiten den trennenden Fluß und glauben sich geborgen. Allein diesmal sind ihnen die Häscher zuvorgekommen. Wie das Wild werden die Unglücklichen zurückgetrieben — in die Arme der sie verfolgenden Landjäger des eben verlassenen Kantons. H. Gubler. Nach Verschiedenen. 62. Vorn zürcherischen Wehrwesen. a) Um 1500. Das zürcherische Heer dieser Zeit bestand aus einem ersten Auszug, dem sogenannten Fähnlein (1500 Mann) und dem Haupthaufen (4000 Mann), der sich um das Banner scharte. Im Notfalle konnten aber bis 13,000 Mann aufgeboten werden. Wehrpflichtig war jeder, der das 16. Jahr hinter sich hatte. Oft besaßen schon die Knaben eine militärische Organisation. Die Hauptwaffe war der 5 1 /2 m lange Spieß, in dessen Handhabung die Schweizer als Meister galten. Die Rüstung bestand aus dem Harnisch (Krebs, Brustharnisch), dem Rückenstück und der Sturmhaube. Die Spießknechte bildeten die äußeren Glieder der Schlachthaufen, in deren Innern die sogenannten „kurtzen werinen“ aufgestellt waren, die Hellebardierer. Daneben gab es Armbrust- und Büchsenschützen. Eine Aufstellung aus dieser Zeit ergibt folgende Zusammensetzung: 458 Armbrüste, 61 Büchsenschützen, 649 lange Spieße und 1602 „kurtze werinen“. Neben der Infanterie besaß Zürich eine für die damalige Zeit ordentliche Artillerie, nämlich auf 4000 Mann Fußvolk zirka 12 Feldgeschütze und 20 Hakenbüchsen. Die eisernen oder ehernen Kanonen feuerten steinerne oder eiserne Kugeln und trugen besondere Namen, so: Mond, Drache, Fledermaus, Struß, Falk, Östrycherin etc. Das Pulver, das nur zum Teil auf Schweizerboden hergestellt wurde, galt per Pfund 1 h Gulden (4 Er.). Die Reiterei hatte nur eine geringe Bedeutung, doch gab es eine Anzahl berittener Armbrustschützen, die zum Aufklärungsdienst verwendet wurden. Den Befehl über das Heer führte der „Obriste Hauptmann“. Neben ihm standen der Bannerherr und als Vertreter der Regierung einige Räte. An Stelle der früheren Rottmeister gab es „Lütiner“ (Leute- 149 nants). Der Hauptmann der Spieße war stets zu Pferd, derjenige der Hellebadierer, der Armbrüste und Büchsen zu Fuß. Des fernern standen bei der Truppe Schreiber, Priester, Ärzte, Wachtmeister, Meldereiter, Koch und Pflster, Schmied und Hämischer, der Kastenmeister (eine Art Verwaltungsoffizier), der Fourier, mehrere Büchsen- meister, Wagenknechte, Spiel- und Gerichtsleute, — der Scharfrichter. Gelegentlich zogen auch einige Frauen mit, und in den Mailänderzügen begleitete ein „Tollmätsch“ das Aufgebot. b) 1600—1700. Übergang zu den Feuerwaffen. Gegen das Ende des 16. Jahrhunderts organisierte man zu den bestehenden zwei Auszügen das sogenannte Freifähnli. Zu demselben wurden aus sämtlichen Gemeinden des Kantons junge, kräftige Männer ausge- hoben, zusammen vier Kompagnien zu je 300 Mann. Diese Truppe war zu Unternehmungen in die Ferne und zum ersten Auszug im Kriege bestimmt. Der Sold für diese Mannschaft, 16 ü. pro Mann und pro Monat, lag für zwei Monate wohlverwahrt im Rathaus. — In dieser Zeit erfuhren die Feuerwaffen, die bis anhin noch ziemlich unzuverlässig gewesen, manche Verbesserung. Der Rat ließ sich deshalb die Ausbildung der Schützen sehr angelegen sein. Jeder wurde verpflichtet, sich an mindestens sechs Tagen jährlich unter der Leitung von Schützenmeistern auf der „Zillstatt“ im Schießen zu üben. Wer die Exerzitien nach Vorschrift erfüllte, erhielt von der Obrigkeit ein Pulvergeld und durfte sich um die vorn Rat gespendeten Gaben (Hosen, Barchenttücher, Wämser) bewerben. Neben den leichten Musketen, den Handrohren, verwendete man schwere Reisbüchsen, „Haggen“ genannt, die auf Gabeln gelegt wurden. Für erstere betrug die Distanz 200, für letztere 250 Meter. Zur Zeit des dreißigjährigen Krieges begann der Rat eine Neuorganisation des zürcherischen Heerwesens durchzuführen. Das Gebiet des Kantons wurde in zehn, später zwanzig Militärquartiere, oder „lermenplätze“ eingeteilt. Nur die „tugenlichste“ Mannschaft von 16 bis 50 Jahren sollte ausgehoben werden. Neben den vier Freifähnchen errichtete man 73 Kompagnien zu je 200 Mann. Für den Kriegsfall schied man die Fußmannschaft in vier Auszüge. Die älteren Wehrmänner sollten nur im Notfall zum Kriegsdienst herangezogen, die Familienväter möglichst entlastet werden. Für den Marsch wurde die ganze „armada loplicher Stadt“ in Avantgarde, Bataille und Arriöregarde eingeteilt. Gegen den Schluß des 30jährigen Krieges errichtete Zürich dann auch ein Kavallerie-Korps. 1644 zählte 150 es 1000 Reiter in 11 Kompagnien. Jeder Reiter war mit einem „Bandolierrohr“ und einem Paar guter Pistolen versehen. Seit der Mitte des Jahrhunderts verdrängten die Feuerwaffen Spieße und kurze Wehren fast vollständig. Leichtere, handliche Büchsen wurden eingeführt. Das Bajonett ersetzte den Spieß. 1679 zählte das zürcherische Heer 70 °/o Musketen, 24 °/o Spieße und 6 °/o Hellebarden, und 1713 konnte dasselbe, infolge der nunmehr einheitlichen Bewaffnung mit Gewehren, in 40 Schützenbataillone zu je 500 Mann eingeteilt werden. c) Aus einem Exerzierreglement von 1630. Die Hauptbefehle beim Musketenschießen waren: 1. macht euch fertig, 2. legt an, 3. gebt Feuer, 4. ladet wiederum, 5. legt die Musketen uff die achszel. Beim „Wechselschießen“, nämlich „für sich, hinder sich und. zur sythen“ lauteten die Befehle: Uff für sich: 1. macht euch fertig, 2. das vordrist glied rücke für sich oder avanciere, 3. schlagt an, 4. schießt, 5. henkt euch wieder an. Ufi hinder sich: 1. macht euch fertig, 2. das hinderst glied umb kehrt euch, 3. legt oder Schlacht an, 4. schießt, 5. henkt euch wieder an. Uff sythen (setz die recht): 1. macht euch fertig, 2. der üssere reih zur rechten band rechts umb, 3. legt an, 4. schießt, 5. henkt euch wieder an. „Der Spießen Befehl“ waren folgende: 1. tragt euern Spieß aufrecht, feilt ihn, stellt ihn nieder. 2. legt euren Spieß auf die achszel, feilt ihn, stellt ihn nieder. 3. schleift euren Spieß, feilt ihn,,stellt ihn nieder. 4. halt euren Spieß an dem Spitz, feilt ihn nieder. 5. feilt euren Spieß uff die rüther, zuckt die wehr, richt euren Spieß uff und steckt ihn inn. d) Aus einer Marschordnung von 1630: „Fürs erste soll man sich befleißen, einen gueten, gleichen Schritt zu marschieren; dazu hilft mächtig viel, wenn die Trommenschlacher ein gleichen Streich führen und in ihrem Schlagen wol taktieren, welches aber bei unsern Trommenschlachern übel zuwegen zu bringen; dann dieser Schlag hat wenig musikalischen Takt, darauf sich andere Nationen sehr befleißen, umb ihrem Volk die Marsche desto leichter zu machen; man mag sie anstellen, so gut man kann. Fürs ander: wer vorzeucht, soll nit zu geschwind ziechen, dan sonsten können die hindersten nit folgen, welche ufflaufen (im Lauf- 151 schritt ausschließen) müssen, wenn die vordersten ein starken Schritt gehen. Zum dritten: jede Truppe soll so geschlossen auf einander riechen als möglich; das machet den Zug kürzer und gibt dem Trupp desto besser Ansehen. Zum vierten: wan man durch ein paß oder über ein brücken zeucht, muß man allezeit mit den vordersten, die schon hinüber, halte machen, bis die hindersten auch über kommen. Zum fünfften: zu rechter zeit soll man anhalten und das Volk ruhen lassen, damit es nicht gar zu müde werde und aus dem Atem komme. Zum sechsten: weil der Vorzug (Vormarsch) ein mächtiger Vorteil, soll man einen Tag nach dem andern umwechseln und soll der, so einen Tag den Vorzug gehabt, den andern den Nachzug haben und sechen, das hierin gleichheit gehalten werde . . . “ e) Die Marine. Seit dem alten Zürichkrieg richtete der Rat sein Augenmerk stets auch auf die Sicherung des Zürichsees. Bekanntlich haben damals die „Kriegsschiffe“ eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. In der Mitte des XVI. Jahrhunderts errichtete man vier große, neue Schiffe, die mit je zwei Kanonen besetzt waren. Ein fünftes Fahrzeug führte vier größere Feldschlangen mit. Nach dem zweiten Villmergerkrieg ließ der Rat zwei neue Kriegsschiffe, den „Biber“ und den „Otter“ erstellen, zu denen sich der „Neptun“ und das „Seepferd“ gesellten. Jedes besaß Doppelmaste, zwei Kammern und zwei Galerien, auf welchen man Geschütz aufpflanzen konnte. Auch fanden sich Gabeln für die „Haggen“ und zwei Reihen Bänke für die Ruderknechte. Jedes dieser aus Eichenholz gebauten Fahrzeuge stand unter dem Befehl eines Kapitäns. f) Die Befestigungen. Die Stadt. Schon anfangs des 30- jährigen Krieges erhielten zwei tüchtige Ingenieure den Auftrag, den Plan einer neuen (4.) Stadtbefestigung auszuarbeiten. 1642—47 erfolgte dann die Anlage eines Festungsgürtels, bestehend aus acht Bollwerken und sechs Ravelins (spitz zulaufende Vorbollwerke) um die große Stadt. Er ging von der Tanne Oberstraß zum Schönenberg, zur Rämi, gegen Hottingen, zum Gaißberg (jetzt hohe Promenade) und um Stadelhofen herum, umfaßte also ein erhebliches Gebiet der Vorstädte. 1678 erst wurde die kleine Stadt in gleicher Weise geschützt (sechs Bollwerke und vier Ravelins) und umzogen vorn nassen Schanzengraben, der vorn See bis zur Sihl in der Nähe des alten 152 Schützenhauses (jetziges Hauptbahnhofquartier) reichte. Porten, verschließbare Durchgänge, fanden sich beim Niederdorf, bei der Krone (Rechberg), in Hottingen, Stadelhofen, Wollishofen und über die Sihl. Die Kosten der Fortifikation beliefen sich auf l'/a Millionen Gulden (ca. 4—5 Mill. Fr.)." Noch heute sind Überreste derselben vorhanden in der „Katze“ (botan. Garten), im Schanzengraben, der hohen Promenade, dem Bauschänzli (1660), etc. Die Schanzen auf der Landschaft. In den Religionskriegen war man genötigt, der Grenze gegen Schwyz die größte Aufmerksamkeit zu schenken. Deshalb errichtete man in der Herrschaft Wädenswil, die durch die Schleifung des Schlosses des festen Stützpunktes beraubt worden war, in der Nähe des Hüttensees die Bellen- schanze. Desgleichen verbarrikadierte man den in der Nähe liegenden Esel. Im ersten Villmergerkriege leisteten die beiden Werke gute Dienste. Vor dem Zwölferkrieg sorgte man noch besser für die Sicherung dieser Grenze. Zu den beiden erwähnten gesellten sich die Sternen-, die Eich- und Hüttnerschanze. Zugleich war (1703) der Kirchhof Schönenberg befestigt worden. Das Hauptwerk war die Bellenschanze, eine längliche, fünfseitige, 150 Fuß lange und 80 Fuß breite Erdbefestigung mit Brustwehr und Graben. Letzterer war durch Schanzpfähle gedeckt. Im Innern befand sich eine Bretterhütte. Die Einrichtung gestattete, auf den Feind ein doppeltes Feuer zu unterhalten. Im Zwölferkrieg wurde an dieser Schanze hart ge- kämpft. Dreimal schlug die Besatzung der Bellenschanze durch ihr Feuer den Ansturm des zehnfach überlegenen Feindes zurück, worauf sie durch Kavallerie entsetzt wurde. Noch zweimal diente diese Befestigung ihrem Zweck: 1798 stürmten die Schwyzer gegen das von Franzosen und Zürchern besetze Werk und 1847, im Sonder- bundskriege, setzten Sappeurs dasselbe wieder in Verteidigungszustand. Wie gegen Schwyz hatte der Rat bei Kappel gegen Zug und bei Rüti gegen den Abt von St. Gallen Verschanzungen errichten lassen, um auch auf diesen Seiten gedeckt zu sein. g) Der Alarm. Der Alarm wurde durch die Hochwachten besorgt. Solche befanden sich seit der Zeit des 30jährigen Krieges auf dem Ütliberg, dem Hohen Klingen bei Stein am Rhein, dem Schwesterrain bei Hombrechtikon, dem Pfannenstil, dem Schnabel, der Lägern, dem Irchel, dem Tannenberg, dem Schauenberg, etc. Eine Verfügung verlangte: „Auf der Hochwacht sollen sich befinden: die aufgerichte Scheyben (eine Vorrichtung, mit der man nach den 153 andern Hochwachten visieren konnte) sampt dem Absehen daruff, ein Hartzpfannen, Bächkräntz, Hartzgruben und etwas dürres Holz, daß Feür anzünden ze können, Tannkrysz und allerley Binden, darmit ein Rauch machen ze können, auch Eychene negel im vorraht, der Morszel und drei Schütz Pulfier darzu.“ Die Wachtmeister hatten die Pflicht, die Hochwacht in Kriegszeiten zu beaufsichtigen und mit je vier Mann zu versehen. Bei hellem Wetter gab man das Signal durch den Rauch, zur Nachtzeit durch Feuer, bei Nebel oder Regen durch Böllerschüsse. In einer Viertelstunde konnten sämtliche Hochwachten verständigt werden. Von großer Bedeutung war auch, daß sie mit den heroischen auf Rietenberg (Grafschaft Lenzburg) und Schloß Brunegg korrespondierten. Nach Häne, Peter u. Stauber. 63. Verkaufte Soldaten. Ein alter Kammerdiener bringt der Fürstin ein Schmuckkästchen. Kammerdiener: Seine Durchlaucht, der Herzog, empfehlen sich der Fürstin zu Gnaden und schicken Ihnen diese Brillanten. Sie kommen soeben erst aus Venedig. Fürstin (hat das Kästchen geöffnet und fährt erschrocken zurück) Mensch ? Was bezahlt dein Herzog für diese Steine? Kammerdiener (finster): Sie kosten ihn keinen Heller 1 Fürstin: Was? Bist du rasend? Nichts! und (indem sie einen Schritt von ihm wegtritt) du wirfst mir ja einen Blick zu, als wenn du mich durchbohren wolltest — nichts kosten ihn diese unermeßlich kostbaren Steine? Kammerdiener: Gestern sind siebentausend Landeskinder nach Amerika fort — die zahlen alles. Fürstin (setzt den Schmuck plötzlich nieder und geht rasch durch den Saal, nach einer Pause): Mann, was ist dir? Ich glaube, du weinst? Kammerdiener (wischt sich die Augen, mit schrecklicher Stimme, alle Glieder zitternd): Edelsteine, wie diese da — ich hab’ auch ein paar Söhne drunter. Fürstin (bebend, seine Hände fassend): Doch keinen gezwungenen? Kammerdiener (lacht fürchterlich). 0 Gott! Nein, lauter Freiwillige! Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch’ vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? Aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Paradeplatz aufmarschieren und die Maulaffen nieder- 154 schießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster spritzen, und die ganze Armee schrie: Juchhe! nach Amerika! Fürstin (fällt mit Entsetzen in das Sofa). Gott! Gott! — Und ich hörte nichts“? Und ich merkte nichts“? Kammerdiener: Ja, gnädige Frau! — Warum mußtet Ihr denn mit unserem Herrn gerad’ auf die Bärenhatz reiten, als man den Lärmen zum Aufbruch schlug? — Die Herrlichkeit hättet Ihr doch nicht versäumen sollen, wie uns die gellenden Trommeln vei - kündigten: „Es ist Zeit“ und heulende Waisen dort einen lebendigen Vater verfolgten, und wie man Bräutigam und Braut mit Säbelhieben auseinander riß, und wir Graubärte verzweiflungsvoll dastanden und — o, dazwischen das polternde Wirbelschlagen, damit der Allwissende uns nicht sollte beten hören. Fürstin (steht auf, heftig bewegt): Weg mit diesen Steinen — sie blitzen Höllenflaminen in mein Herz. (Sanfter zum Kammerdiener): Mäßige dich, armer alter Mann! Sie werden wieder kommen. Sie werden ihr Vaterland wiedersehen. Kammerdiener: Das weiß der Himmel! Das werden sie! — Noch am Stadttor drehten sie sich um und schrieen: „Gott mit Euch, Weib und Kinder! — Es leb’ unser Landesvater — Am jüngsten Gericht sind wir wieder da!“ Schiller: „Kabale und Liebe“. 11. 2. 64. Der Pfarrer Christoph und der Kardinal Rohan. Wir waren eben im Begriffe, ins Bett zu gehen. Unsere Magd löschte das Feuer auf dem Herde und Meister Hans war schon aufgestanden, als plötzlich zwei starke Schläge gegen die Türe geführt wurden. Sprachlos sahen wir einander an, und die Meisterin trug schon das Licht in die Küche, damit man meinen sollte, wir schliefen. Wir waren totenbleich bei dem bloßen Gedanken, daß Landjäger vor der Türe ständen. Da rief eine starke Stimme: „Ich bin’s, Hans! Ich bin’s . . . der Christoph; mach auf!“ Man kann sich kaum denken, wie wir aufatmeten. Meister Hans ging auf den Gang hinaus zu öffnen, und die Mutter brachte die Lampe wieder auf den Tisch. Herein kam der Pfarrer; aber er war nicht gut aufgelegt, er sagte nicht einmal: „Grüß Gott!“ sondern schüttelte den Regen von seinem großen dreisitzigen Hut. Er sah fürchterlich aus und fing an: „Ich komme von Zähern . . . 155 ich habe den berühmten Kardinal Rohan gesehen .... Gott im Himmel! Gott im Himmel! Also das ist ein Kardinal, ein Kirchen- fürst . . . Ha, wenn ich dran denke ! a — Er sah tief entrüstet aus. Das Wasser lief ihm über die Backen auf den Rockkragen; er riß sein Bäffchen 1 herunter, steckte es ein und ging hastig auf und ab. „Ja, ich hab’ diesen Prinzen gesehen, diesen Großwürdenträger, der uns mit gutem Beispiel vorangehen und ein Muster christlicher Tugend sein soll; ich habe ihn gesehen, wie er, selber kutschierend, mit seinem Wagen auf der Hauptstraße von Zabern im Galopp mitten durch das zu Markt gebrachte Töpfergeschirr fuhr, und dabei lachte er wie ein Narr . . . Das ist ein Skandal!“ Er durch- maß die Stube mit großen Schritten. Er war über und über mit Kot bespritzt und bis auf die Haut durchnäßt; aber er spürte nichts; sein dicker, grauer Kopf zitterte. Es war, als ob er mit sich selbst spräche. „Aber ums Himmels willen,“ fiel jetzt der Meister ein, „was hat’s denn gegeben?“ Da hielt der Pfarrer einen Augenblick inne und sagte sodann: „Ich bin dorthin gegangen, um mich über eine Haussuchung, welche die Salzspitzel gestern nacht um 11 Uhr in meinem Dorfe vorgenommen haben, und über die Verhaftung eines meiner Pfarrkinder, des Jakob Baumgarten, zu beschweren. Das war meine Pflicht. Ich dachte, ein Kardinal werde das begreifen, er werde mit einem unglücklichen Familienvater und seinen sechs Kindern, dessen ganzes Verbrechen darin besteht, daß er einige Pfund Schmugglersalz gekauft hat, Mitleid haben, er werde machen, daß der Ärmste losgelassen wird! Und wie ist’s mir ergangen? Erst mußt’ ich zwei Stunden vor dem Tor des prächtigen Schlosses warten; endlich erlaubte man mir, in diesen Palast hineinzugehen, wo alles auf den Gemälden und in den Gemächern von Seide, Gold und Edelsteinen strotzt! Da hieß man denn mich und ein paar arme Pfarrer aus den Bergen von 11 Uhr morgens bis 5 Uhr abends warten. Wir hörten die Bedienten lachen. Von Zeit zu Zeit kam ein großer Kerl in roter Beamtenkleidung unter die Türe, sah uns an, und rief den andern zu: „Das Geschmeiß ist noch dal“ Ich wartete geduldig . . . Ich wollte mich beim Bischof beschweren. Da kam einer der Burschen und sagte uns, die Sprechstunden des Bischofs seien auf acht Tage verschoben. Und dazu lachte der Schlingel.“ Bei diesen Worten zerbrach der Herr Pfarrer Christoph seinen 156 \ dicken Stechpalmenstock wie ein Schwefelholz. Dann fing er wieder an auf- und abzugehen. Er sagte Dinge, die ich nie vergessen werde: „Die Gerechtigkeit wird überall mit Füßen getreten. Das Volk tut alles, die andern machen nichts als übermütige Streiche. Der Sohn des Armen beschützt sie, der Sohn des Armen ernährt sie, und der Sohn des Armen, wie ich einer bin, predigt die Achtung vor ihrem Reichtum, ihrer Würde, selbst wenn sie Ärgernis geben! Wie lange wird das noch dauern? Ich weiß nicht; aber ewig kann es nicht dauern; es ist wider die Natur, es ist wider den Willen Gottes, und es ist gewissenlos, Achtung vor dem zu predigen, was Verachtung verdient! Das muß aufhören!“ Pfarrer Christoph ging noch am gleichen Abend heim in sein Dorf; wir aber waren traurig, und Meister Hans sagte: „Er hat recht, das muß aufhören!“ Nach Erckmann-Chatrian: Histoire d’un paysan. 1 Weißer Halskragen der Pfarrer, den sie über dem Amtskleid tragen. 65. Das Vaterland in Gefahr. Michel Bastien, ein alter Elsäßer, erzählt seinen Enkeln: So war’s geschehen, der Krieg war also erklärt. Sofort kam Eure Großmutter, die damals noch eine junge Frau war, zu mir, gab mir die Hand und während aus ihren großen schwarzen Augen der Mut leuchtete, sagte sie zu mir: Also Michel jetzt geht’s los! Draußen hörten wir in den Straßen begeisterte Rufe: „Frei leben oder sterben!“ Eine Begeisterung war plötzlich ausgebrochen wie ein Gewitter. Alles umarmte sich; in diesem Augenblicke wurden Arbeiter, Bürger und Bauern zu Brüdem. Damals war ich noch Schmiedegesell in den Baracken. Unser Dorf war eines der ärmsten; aber jeder Mann war entschlossen, sein Leben dem Vaterland und der Revolution zum Opfer zu bringen. Leider fehlte es in unserer Gegend an Gewehren; die alten, von Grünspan überzogenen Kanonen schliefen auf ihren Lagern; die Kugeln waren zu groß und gingen nicht hinein, oder sie waren zu klein und rollten nur so darin herum. Da kamen wir auf den Gedanken, uns mit Piken zu bewaffnen. Das Modell dazu kam aus Paris. Der Schaft von Buchenholz war sieben und einen halben Fuß lang, das Eisen fünfzehn Zoll; die Pike hatte die Form einer Sense, war zweischneidig und trug einen Widerhaken, um die Reiter vorn Roß zu reißen. Wir haben wohl tausend bis fünfzehn- 157 hundert Stück geschmiedet in zwei Monaten. Man mußte uns sehen, die Ärmel aufgekrempt bis an die Achsel, das Hemd offen und die rote Mütze auf dem Ohr, wie wir auf der Straße das Eisen schmiedeten. Wenn uns der Schweiß den Rücken hinabrollte und wir fast nicht mehr schnaufen konnten, schrie der Meister: „Vorwärts ... ?a iral ?a iral“ Und dann sausten die Hammer wieder! Da kam eines Morgens ein großer Zettel, der an den Mauern angeschlagen wurde; in großen Buchstaben standen darauf die Worte: „Das Vaterland in Gefahr“. Wir wußten wohl, was diese Worte bedeuteten. Sie wollten uns sagen: „Eure Felder, Eure Wiesen, Eure Häuser, Eure Eltern, Eure Dörfer, Eure Rechte und Freiheiten, die Ihr seither gegenüber den Adeligen und Bischöfen errungen habt, sind in Gefahr. Die Emigranten kommen mit Massen von Preußen und Österreichern, um den Zehnten, die Fronden, die Salzsteuern wieder einzuziehen. Verteidigt Euch und haltet fest zusammen.“ Und da ertönte in allen Dörfern die Sturmglocke, und die Kanonen donnerten Stunde für Stunde. Und die Leute ließen die Sichel auf den Ackern und griffen zu den Waffen. Alle wollten dem bedrängten Vaterlande zu Hilfe eilen. Ihr könnt wohl denken, daß ich nicht dahinten bleiben wollte, Eure Großmutter hätte mich ja verachtet. Am andern Morgen reisten wir ab; es waren unser 130 Freiwillige nur aus den Baracken und den Nachbardörfern. Und als alle versammelt waren, da kam eine Fahne mit der roten, wollenen Jakobinermütze, die uns das Sinnbild der Freiheit war, und ein Gemeindebeamter rief uns zu: „Freiwillige! schwört, diese Fahne zu verteidigen bis in den Tod, diese Fahne, die für Euch Vaterland und Freiheit bedeutet; Freiwillige, schwört Ihr’s?“ Und alle zusammen antworteten wie auf einen Donnerschlag: „Wir schwören es!“ Dann wurde der Generalmarsch geschlagen, und wir marschierten ab, zu dreien oder vieren, wie sich’s gab. Es war ein heißer Julitag und die Hitze drückend. Ein Gewitter stieg auf. Plötzlich fielen schwere Tropfen, dann setzte ein Platzregen ein mit einem Blitzschläge. Das war nicht angenehm so auf dem ersten Marsche, und das Geplauder verstummte. Plötzlich kam uns ein langer Zug Freiwilliger zu Roß entgegen. Als sie uns erblickten, stimmten sie ein Lied an, das keiner von uns kannte, das man aber bald auf allen Schlachtfeldern hören sollte: Allons, enfants de la patrie I Le jour de gloire est arrivd. 158 Wie uns dieses Lied packte! Wir waren wie toll und unaufhörlich ertönte der Ruf: „Es lebe das Volk, es lebe Frankreich!“ Dieses Lied war wie ein Aufschrei des Vaterlandes in Gefahr. Überall, wohin wir kamen, tönten die Sturmglocken, und bei jeder Kreuzung des Weges zogen Reihen von Freiwilligen vorbei. Viele arme Burschen unter ihnen gingen barfuß, andere trugen Kleiderpäckchen im Schnupftuch am Stock; aber alle riefen uns fröhlich zu: „Siegen oder sterben!“ Wir kamen gegen neun Uhr abends in einem Städtchen an, wo schon viele Truppen standen. Diese waren in freudiger Aufregung; denn sie hatten am Morgen schon ihr erstes Gefecht gehabt und die Feinde siegreich zurückgeworfen. Mit besonderer Rührung und Begeisterung erzählten sie die Geschichte eines armen, kleinen Trommlers. Der war einer Kundschaftertruppe vorausgegangen. Plötzlich bemerkte er auf der Straße feindliche Husaren. Sofort schlug er auf seiner Trommel den Generalmarsch. Und während die feindlichen Reiter heransprengten, marschierte er unerschrocken vorwärts, immer die Trommel schlagend. Ein Husar hieb ihm im Vorbeireiten die rechte Hand ab; doch der arme Junge trommelte mit der linken Hand weiter, bis ihn die Husaren förmlich niederritten. So begann für uns der Krieg! Nach Erckmann-Chatrian. 66. Chant de guerre pour l’armee du Rhin ou la Marseillaise (Auszug). Rouget de Lisle war Artillerieoffizier in Straßburg. Er verfaßte und komponierte 1792, als ein Freiwilligenkorps aus dieser Stadt gegen die Preußen und Österreicher marschierte, in einer Nacht diese hinreißende Revolutionshymne. Ein Bataillon von Marschier Republikanern, welches die Pariser Revolutionäre nach der Hauptstadt kommen ließen, um den Sturz des Königtums zu beschleunigen, führte das Lied dort ein. Da man in Paris den Ursprung desselben nicht kannte, gab man ihm den Titel „La Marseillaise“. Allons, enfants de la patrie! Le jour de gloire est arrivA Contre nous de la tyrannie L’etendard sanglant 1 est leve! Entendez-vous dans les campagnes Mugir 2 ces feroces soldats? Ils viennent jusque dans vos bras Egorger 3 vos fils, vos compagnes! Aux armes, citoyens! formez vos bataillos! Marchons, qu’un sang impur 4 abreuve nos sillons 5 ! 159 Que veut cette horde d’esclaves Contre nous en vain conjures 6 ? Pour qui ces ignobles entraves 1 , Ces fers des longtemps prepares! Frangais, pour nous, ah! quel outrage 8 l Quels transports 9 il doit exciter! C’est nous qu’on ose mediter 10 De rendre ä l’antique esclavage 11 . Aux armes, etc. Amour sacre de la patrie, Conduis, soutiens nos bras vengeurs. 12 laberte, liberte cherie, Combats 13 avec tes defenseurs 14 ! Sous nos drapeaux que la victoire 15 Accoure ä tes males accents 16 . Que tes ennemis expirants 17 Voient ton triomphe et notre gloire! Aux armes, citoyens! formez vos bataillons! Marchons, qu’un sang impur abreuve nos sillons! Rouget de Liste. 1 die blutige Fahne. 3 brüllen. 3 ermorden. 4 unrein. 5 unsere Gefilde begieße. 3 verschworen 7 niedrige Fesseln. 8 Schmach. 9 Zorn. 10 beabsichtigen. 11 alte Knechtschaft. 13 rächende Arme. 13 kämpfen. 14 Verteidiger. 15 der Sieg. 18 männliche Rufe. 17 sterbend. 67. Ansprache Napoleons an die Italienische Armee. Soldaten 1 Ihr habt in vierzehn Tagen sechs Siege davongetragen, 21 Fahnen, 53 Kanonen, mehrere Festungen und den schönsten Teil des Piemont erobert; Ihr habt 15,000 Gefangene gemacht, 10,000 getötet oder verwundet. Obschon von allem entblößt, habt Ihr alles erfüllt; Ihr habt die Schlachten gewonnen ohne Kanonen, ohne Brücken Flüsse überschritten, ohne Schuhe Gewaltmärsche gemacht und ohne Brot und Branntwein bei den Wachtfeuern ausgehalten. Nur die Soldaten der Republik und der Freiheit konnten aushalten, was Ihr ausgehalten habt. Soldaten, ich danke Euch! Die Armeen, die Euch noch jüngst angegriffen haben, fliehen jetzt vor Euch. Aber noch habt Ihr nichts getan, noch bleibt viel zu tun; denn noch gehören Turin und Mailand nicht Euch. Am Anfang des Feldzuges wäret Ihr von allem entblößt, jetzt seid Ihr 160 aber mit allem reichlich versehen; denn zahlreich sind die Vorratskammern, die Ihr den Feinden weggenommen habt. Und nun sind auch noch unsere Belagerungs- und Feldgeschütze angekommen. Soldaten, das Vaterland erwartet von Euch große Dinge. Wollt Ihr seine Erwartungen rechtfertigen? Ich weiß, Ihr brennet darnach, den Ruhm des französischen Volkes in die Ferne zu tragen, die stolzen Könige, die uns in Fesseln schlagen wollen, zu demütigen. Jeder von Euch wird einst mit Stolz sagen können, wenn er in sein Heimatdorf zurückkehrt: „Auch ich war bei der Italienischen Eroberungsarmee. “ Meine Freunde, ich verspreche Euch, daß wir dieses Land erobern; aber Ihr müßt schwören, daß Ihr die Völker, die wir befreien wollen, achten, alle Plünderungen unterlassen werdet: denn ohne das wäret Ihr nicht ihre Befreier, sondern ihre Plage. Dann würdet Ihr nicht der Stolz Frankreichs sein, und alle Schlachten und Siege, all Euer Mut und das vergossene Blut Eurer Kameraden wären umsonst gewesen, Ruhm und Ehre verloren. Ich und Eure Offiziere, wir müßten uns schämen, eine ungehorsame, zügellose Armee zu befehlen. Aber ich werde es nicht dulden, daß Räuber unsern Ruhm besudeln; alle Plünderer sollen unbarmherzig erschossen werden. Völker Italiens I Die französische Armee kommt zu Eurer Befreiung, das französische Volk will der Freund aller Völker sein; kommt ihm vertrauensvoll entgegen, Euer Eigentum, Eure Religion, Eure Sitten und Gebräuche sollen geachtet werden. Wir führen den Krieg als hochherzige Feinde; denn es gilt nur den Tyrannen, die Euch unterdrücken. Nach Nouvelle Bibliographie gänerale. 68. Die zweite Schlacht bei Zürich. Der Verfasser, David Heß, befand sich während der Schlacht in seinem väterlichen Gute „Beckenhof“ in Unterstraß. Schon seit vierzehn Tagen hieß es: Bald muß es endlich etwas Neues geben; die Armeen werden nicht ewig so untätig stehen bleiben — alles war voll der größten Erwartung. Am Mittwoch, morgens um 6 Uhr ungefähr, erwachte ich von einigen Kanonenschüssen, die ziemlich weit von der Limmat herauf tönten. Bald nachher fielen noch mehr. „Sollte es heute schon anfangen?“ Das Feuer ward heftiger und heftiger und fing auch auf der Wollishofer Seite an. Obrist Roll, der von Höngg herauf kam, berichtete uns, daß die Franzosen schon früh bei Dietikon über die Limmat marschiert seien, ohne daß es den russischen Vorposten möglich gewesen sei, sie zu hindern, ihre Brücke zu schlagen. Gegen elf Uhr schaute ich durch das Fernrohr auf der Altane und erkannte auf dem Wege, der vorn Kloster Fahr nach Höngg hinauf führt, eine Schwadron französischer Husaren, die zwei Kanonen deckte, welche nach jedem Schuß vorwärts rückten. Wir schafften unsere besten Sachen ein wenig auf die Seite. Schon sahen wir den Feind auf dem Hönggerberg; das Feuer rückte näher, und einzelne Russen postierten sich bald in unsere Wiesen. Kosaken und andere Reiterei jagten durch unsere Allee, die Russen schössen hinter den Bäumen und Hecken hervor, die Kugeln hagelten von beiden Seiten her; im Hause war nichts mehr sicher, und wir zogen uns in den gewölbten Keller zurück. Da hallte das Geschrei und Schießen noch schrecklicher herab. Von Zeit zu Zeit schlichen wir uns hinauf und lauschten durch die Ritzen der Fensterladen. Doch niemand von uns durfte lange da oben bleiben; denn die Kugeln prallten überall an. Die einbrechende Nacht machte dem Schießen ein Ende. — Die Franzosen sammelten sich auf dem Höngger- und Wipkinger Berge, wo sie große Feuer anzündeten. Der Letzibach trennte beide Parteien. Alle unsere Läden waren geschlossen, damit kein Licht sichtbar sei und Leute herbeilocke. Dessenungeachtet kamen einige russische Abteilungen, klopften und begehrten zu trinken. Man reichte Wein aus dem Fenster; da Offiziere mit dabei waren, hielten sie sich ordentlich, und nach neun Uhr kamen keine mehr. Vors Haus durfte sich niemand wagen; denn es schweiften überall Marodeurs durch das Gut. Der trübe Morgen brach an. Beide Parteien mußten noch müde sein von den Greueln des vorigen Tages; denn es währte ziemlich lang, ehe sie wieder übereinander herfuhren. Nach sieben Uhr fielen die ersten Schüsse. Die Russen postierten sich auf die Anhöhen und in die Weinberge, und die Franzosen griffen lebhaft an. Der Kampf zog sich bald wieder in unser Gut, und wir mußten im Keller Sicherheit suchen. Da saßen und standen und gingen wir herum wie Geister in Grabgewölben. Unaufhörlich donnerte das Geschütz, und das Geschrei der wilden Russen ward immer gräßlicher. Oft hörten wir oben Scheiben klirren und die Erschütterung der anprallenden Kugeln. Nach und nach fingen einzelne Russen an zu pochen und anzuschellen und begehrten Branntwein. Wir ließen niemand herein und verrammelten die Türe, bis endlich gegen ll Geseh iehtslehrmittel. II. 162 halb zwei Uhr nachmittags ein ganzes Detachement in den Hof hereinstürmte und sogleich die Türe einschlagen wollte. Ich lief mit den beiden Knechten hinauf und öffnete. Der ganze Schwall drängte sich herein, schmiß, statt zu trinken, die Milcheimer um, die man ihnen mit Wein gefüllt darreichte, und forderte ungestüm die Öffnung der Saaltüre. Ich hatte den Schlüssel nicht bei mir und fürchtete, sie würden mir nachfolgen, wenn ich hinaufginge, den Hauptschlüssel zu holen. Ich zuckte die Achseln und wollte ihnen zu verstehen geben, daß ich nicht aufmachen könne. Da fuhren einige wütend über mich her, setzten die Bajonette auf mich an und hätten mich vielleicht ermordet, wenn ich ihnen nicht gedeutet hätte, sie sollen die Türe einsprengen. Sie machten auch die Nebenzimmer mit Gewalt auf, und erst jetzt sah ich eigentlich, warum es zu tun war, da Offiziere dazu kamen. Sie wollten sich nämlich ins Haus förmlich postieren und aus den Fenstern schießen. Da gab ich alles auf. Ich glaubte, alles der Plünderung preisgegeben und erwartete, daß die Franzosen Granaten hineinwerfen würden, um das Haus anzuzünden, oder, wenn sie weiter vorrückten, uns bestrafen würden, weil aus den Fenstern, freilich ohne unsere Schuld, geschossen ward. — Ich ließ die Russen hausen und ging wieder in den Keller, meinem Vater zu sagen, was droben vorgehe. Beinahe eine halbe Stunde dauerte die schreckliche Erwartung, als die beiden Knechte, die sich mit außerordentlichem Mut und seltener Treue für das Haus unter die wütende Menge geworfen hatten, in den Keller herabkamen mit der beruhigenden Nachricht, die Russen seien alle wieder aus dem Hause weg. Sie hatten wenig Schaden angerichtet. Den kristallenen Kronleuchter im Saal hatten sie mit den Gewehren sorgfältig ausgewichen und verschont, so auch die großen Spiegel, in denen sie sich alle, wie Affen, wohlgefällig betrachteten. Von Lampenöl und Essig, den sie auf dem Ofen fanden, hatten sie ein gemischtes Getränk gemacht und sich damit erfrischt. Sie schössen aus den hintern Fenstern. Zu gutem Glück hatten die Franzosen keine Kanonen in der Nähe, sonst wäre es uns gewiß übel ergangen. Endlich kam ein russischer General, der deutsch sprach, angeritten, ließ die Soldaten alle wieder herausjagen, riet, die Türen zu verrammeln, was auch sogleich geschah, und so waren wir unbegreiflich glücklich davongekommen. Jetzt ward der russische Widerstand immer schwächer, eine halbe Stunde später wichen diese Tiermenschen ganz. Das „avancez!“ 163 der Franzosen schallte wieder vor dem Hause, und diesmal waren sie uns wirklich willkommen; denn die Szenen des Entsetzens mußten doch endlich ein Ende nehmen. Wir öffneten sogleich die Türe und boten ungefragt zu trinken an. Alle Franzosen, die her- zuliefen, waren ziemlich ordentlich für Leute, die sich seit zwei Tagen geschlagen und seit vier Monaten keinen Sold bekommen hatten. Das ist wahr, zu trinken bekamen sie! Nicht in Gläsern, nicht in Flaschen, sondern in großen Zubern und Eimern. Brot gab man ihnen, so lang noch im Haus war, und als man ihnen sagte, es sei alles aufgegessen, weil die Russen schon einen Teil davon aufgezehrt hätten, so gaben sie sich auch wieder zufrieden. Das Treiben dauerte ungefähr anderthalb Stunden; es kamen immer mehr Offiziere und mit ihnen auch mehr Ordnung, bis man zuletzt die unbescheidensten abweisen und schließlich der ganzen Weinschenke ein Ende machen konnte, die sonst bis Mitternacht gedauert hätte. Um die Mittagsstunde waren die Franzosen in die Stadt eingezogen. Obgleich die französischen Generale ihren Soldaten die Plünderung nicht gestattet hatten, so wurden doch beinahe in allen Häusern Gewalttätigkeiten verübt, Geld, Lebensrnittel und Wäsche ertrotzt und gestohlen, Türen und Kasten erbrochen und wie in Feindesland gehaust von den Brüdem, von den Freiheitsbringern. Die helvetischen Legionen zeichneten sich bei diesen Gewalttätigkeiten am meisten aus und raubten am unverschämtesten. Massena selbst und verschiedene Stabsoffiziere ritten durch die Stadt, um die Ordnung einigermaßen wieder herzustellen, und wo sie Plünderer antrafen, jagten sie dieselben mit Klingenhieben vorn Raube weg. Die trunkenen Soldaten wurden erst nach und nach etwas ruhiger, nachdem sich der erste Taumel ein wenig gesetzt hatte. Erst am Freitag morgen fing ich an, im Gute herumzugehen und den Greuel der Verwüstung zu betrachten. Es sah fürchterlich aus! Das Wohnhaus war auf allen Seiten von großen und kleinen Kugeln beschädigt. Überall waren Scheiben zersplittert, Fensterläden durchlöchert; in den Wänden der Zimmer steckten Flintenkugeln, und viele hundert Ziegel waren zerschlagen und lagen ums Haus hemm. Alle Hecken waren zerrissen und umgeworfen, alle Gätter aufgesprengt, alle Pflanzen zertreten, alle Bäume von Kugeln getroffen und verstümmelt. Und — der traurigste Anblick! — in den Wiesen und Reben und in der Allee lagen 13 Tote in ihrem Blute. 164 Die meisten waren Russen; so weit hergekommen, um da ihr elendes Leben zu enden! Alle Bewohner des Ortes trugen die bei ihnen Gefallenen zusammen, und es wurden auf dem „Ried“ verschiedene Gruben gemacht, in denen beinahe 200 Russen, Franzosen und Helveter durcheinander liegen. 53, worunter die unsern waren, sah ich bei der Spannweid begraben. Im ganzen waren mehr als 700 Franzosen und 3000 Russen gefallen. Vielen unserer Nachbarn war weit übler mitgespielt worden; einige Häuser waren rein ausgeplündert, andere innerlich beschädigt, überall Elend und Jammer, wo man sich hinwandte. Und auf all diesen Trümmern hausten jetzt noch die wilden Franzosen, begehrten mit allem bedient zu werden, was sie gelüstete, fraßen die wenigen für den Winter noch bei Seite geschafften Lebensrnittel den Leuten weg und warfen alles durcheinander, um nach vergrabenen oder sonst verheimlichten Schätzen zu suchen. — Ich habe für die Zukunft diese Tage des Schreckens so umständlich beschrieben; in meinem eignen Gedächtnis wird ihr trauriges Bild nie erlöschen! Nach David Heß. 69. Wie die Franzosen im Maderanertal plünderten. Meine gute Mutter zog, als die Franzosen auch unser Häuschen rein ausgeplündert hatten, mit mir und meinem kleinen, etwa vierjährigen Schwesterchen in die Alp zum Vater und hoffte, da Schutz zu finden; doch nicht lange, und wir sollten hier Schreckliches erleben! Am 13. Herbstmonat 1799 war’s, da erschien ein Trupp Franzosen im Etzlital. Es ist mir, ich sehe sie noch mit ihren blinkenden Bajonetten und ihren halbzerfetzten, roten Mützen, wie sie mit wildem Lärm der Hütte zustürmten. Meine kleine Schwester und ich schrien beim Anblick dieser rohen Kriegsgesellen, die unsere Mutter und uns daheim schon mißhandelt hatten. Der Vater schickte uns aus der Hütte, damit wir die Knechte herbeiriefen. Inzwischen verlangte die Rotte Speise und Trank. Der Vater beeilte sich, ihnen Milch, Käse und Butter herbeizuholen. Nicht zufrieden mit dem, was er ihnen vorsetzte, erbrachen Sie den Speicher, in welchem sämtliche Sommerkäse aufbewahrt waren, zerschnitten dieselben mit ihren Säbeln, spießten sie an ihre Bajonette und warfen die Stücke vor die Hütte unter die Schweine, setzten in frevelhaftem Übermut die schönen, großen Butterstöcke neben das Feuer um den Sennkessel 165 herum, daß sie schmolzen und die flüssige Butter den ganzen Hütten- boden bedeckte, schmierten lachend damit ihre Stiefel ein, wühlten in den vielen vollen Milchmulden und leerten dieselben in die Schweinetröge. Hätte ich nicht alles mit eigenen Augen gesehen, ich würde es nicht glauben, daß Menschen so wie Bestien hausen könnten. Oft habe ich später gedacht, ob vielleicht nicht der eine oder andere dieser Frevler anno 1812 auf den Schneefeldern Rußlands, vor Hunger und Kälte zusammensinkend, tausend- und tausendmal für einige Tropfen Milch und ein Stücklein Käse oder Butter gedankt hätte. Der ganze Ertrag der Sensen an Butter, Käse und Zieger und ein schöner Teil Milch war auf die schändlichste Weise vernichtet, die mühevolle Sommerarbeit umsonst; wer hätte da ruhig Blut bewahren können 1 Mit verbissenem Grimme schauten mein Vater, der Zusenn und der Kuhhirt diesem mehr als teuflischen Treiben zu; was hätten sie drei, unbewaffnet, gegen zwanzig solcher Unmenschen auszurichten vermocht? Nachdem alles zu Grunde gerichtet war, packten diese den großen, kupfernen Sennkessel und ein paar fette Käse, die sie für diesen Zweck beiseite gelegt hatten, sowie sämtliche Schweine zusammen und brachen endlich auf. Das war zu viel für meinen Vater und die Knechte. AIs daher die Feinde, mit dem Raube beladen, an ziemlich jäher Halde den Fahrweg hinabzogen, wälzten sie ihnen Steine und Holzblöcke nach und hofften damit einige dieser elenden Wichte zu zermalmen und die übrigen von einem weiteren Besuche abzuschrecken. —Wie die Franzosen sich auf diese Weise verfolgt und in Gefahr sahen, warfen sie alle mitgenommenen Sachen weg. Der schöne, neue Sennkessel rollte den Abhang hinunter dem Tobel zu, wo er jetzt noch liegen wird; denn der Abgrund ist tief. Mein guter Vater war in der Verfolgung der Feinde leider etwas zu hitzig, und statt sich hinter den zahlreich umherliegenden großen Felsblöcken zu bergen, stürmte er den Abhang hinunter, in der Meinung, noch etwas von den geraubten Sachen retten zu können. Dadurch aber machte er es den beiden Knechten unmöglich, weitere Felsblöcke hinabzuwälzen; denn sie hätten ja auch ihn treffen können. Diesen Umstand benutzte einer der Schufte, legte auf ihn an, und im nächsten Augenblicke sank mein armer Vater, von mörderischer Kugel mitten in die Brust getroffen, zusammen. Die Knechte schrien laut auf. Die Mutter, die eben mit dem Schwesterlein aus der Hütte getreten war, sah ihn fallen und stürzte, ungeachtet noch mehrere Schüsse 166 krachten, den Abhang hinunter zu ihm. Ich war allen vorausgeeilt, aber mein lieber Vater konnte kein Wort mehr sprechen, nur mit der Hand deutete er, daß wir fliehen und uns vor den Feinden verbergen sollten. Das war nun freilich nicht mehr nötig; denn die Franzosen eilten so schnell wie möglich abwärts. Hermann Säger: Erinnerungen aus dem Maderanertal. 70. Aus Suworoffs Alpenzug. Der berühmte, russische General war ein kleiner Mann mit magerem, faltigem Angesicht, aber von eiserner Zähigkeit und Kraft, fast noch so frisch und feurig wie ein Jüngling, obgleich er schon 70 Jahre zählte. Er teilte alle Mühen und Leiden seiner Soldaten, weshalb sie ihn abgöttisch verehrten. Am 24. September 1799 rückte Suworoff gegen den Gottharü, den die Franzosen besetzt hielten. Das Wetter war feucht und neblig; dichte, dunkle Wolken deckten die Abhänge und hüllten die Gipfel der Berge ein. Plötzlich blitzte es in den Nebeln auf, Gewehre knatterten und Kanonen dröhnten. Schauerlich widerhallte das Echo an den Felswänden. Soldaten fielen, schlugen rückwärts über die Hänge und zerschellten Köpfe und Glieder. Dann donnerten gewaltige Blöcke herunter und rissen ganze Reihen zu Boden. Mit unglaublicher Anstrengung erklommen die Russen die Felsen und suchten die Feinde mit den Bajonetten zu vertreiben. Aber hinter Gräben und Steinblöcken hervor sandten ihnen die Franzosen das blutige Verderben. Ein Schauer überfiel die Russen in dieser unbekannten schrecklichen Welt. Sie murrten und weigerten sich vorzurücken. Aber die Stimme ihres Generals, dem sie wie einem höheren Wesen gehorchten, überwand ihre Furcht. Selbst die Zagenden und Zögernden warfen sich bei seinen Worten in den Kampf, in dem ganze Kompagnien fielen, von Kugeln und Steinen getroffen. Langsam wichen die Franzosen gegen das Urserental und auf das linke, nördliche Reußufer hinüber. Die Nacht und dichter Nebel machten dem Kampfe vorläufig ein Ende. Während Suworoff den Gotthard stürmte, war eine andere Heeresabteilung über den Lukmanier in großen Märschen bis Andermatt gekommen. Der französische General befand sich daher in einer sehr gefährlichen Lage. Wenn er von beiden Heeren angegriffen wurde, war er verloren. Von Hirten erfuhr er, daß über den 2100 m hohen Bätzberg ein schmaler, kaum gangbarer Fußsteig ins 167 Göschenertal und von da ins Reußtal führe. Lange vor Tagesanbruch klomm er unter dem Schutze der dunklen Nacht über die Felsen. Am Morgen waren die Russen höchst erstaunt, als die Franzosen, deren Wachtfeuer sie am Abend vorher noch gesehen hatten, ihren Blicken wie durch einen Zauber entrückt waren. Aber an der Teufelsbrücke hatten dieselben noch zwei Bataillone zurückgelassen, die dem Feind den Übergang verwehren sollten. Mit grauendem Morgen zogen die Russen gegen das Urnerloch, das nicht besetzt war. Von da aus führte die Straße über einen steilen Abhang zur Teufelsbrücke hinab. Die Franzosen hatten den ersten Bogen derselben gesprengt und sich jenseits des Flusses aufgestellt. Von hier aus beschossen sie den auf der Straße herab- kommenden Feind mit einem mörderischen Feuer. Mit dem Tosen der Wasser mischte sich das Knallen der Gewehre, der Donner der Kanonen, das Geschrei der Kriegswut, das Stöhnen der Verwundeten. Aber für die Russen gab es kein Zurückweichen; auf dem engen Weg zwischen dem Felsen und der Tiefe wurden ihre Massen in einander geschoben und zusammengedrängt; um so verderblicher war die Wirkung des feindlichen Feuers. Da stiegen kühne und beherzte Männer inmitten des Kugelregens die 15 m hohe Uferwand hinunter und wateten durch die Reuß. Das eiskalte Wasser reichte ihnen bis unter die Arme. Die Fluten rissen viele mit, andere fielen unter den feindlichen Kugeln. Aber immer größer wurde die Zahl derer, die endlich das feindliche Ufer erreichten, so daß die Franzosen schließlich vertrieben werden konnten. Die Russen waren Meister der Brücke und stellten den zerstörten Bogen wieder her. Mit ihren Schärpen banden die Offiziere die Balken zusammen; der Marsch konnte weitergesetzt werden. Nach Wieland und andern. 71. An der Beresina. Ein Schweizer erzählt, wie er mit einem Knäblein den Rückzug von Moskau mitmachte: Auf einmal kamen wir in ein wildes Gedränge; alles staute und stieß. Wir waren an ein breites Wasser geraten; über das mußten wir weg. Man hatte zwei Brücken geschlagen. Wir sahen sie wohl von der Höhe herab; sie glichen zwei dunkeln, schmalen Brettern, und wir sagten uns alle: „Wer nicht über eines der beiden Bretter kommt, der verhungert hier oder wird erstochen oder er- 168 friert“. Es kam eine grausame Angst über uns. und wir stürzten wie wilde Tiere auf die Brücken los. Es kam mir der Gedanke, den Knaben von mir zu werfen. Aber ich konnte es nicht — er wäre ja zertreten worden, und ich hätte ein unschuldiges Leben im Schuldbuch gehabt. „In Gottes Namen!“ sagte ich und fing an zu drängen wie die andern. Der Kleine schrie mir im Arm bei dem Stoßen und Treiben, und ich schrie mit ihm wie ein Tier und machte mir einen Weg. Das war eine Arbeit! Ich war trotz der Kälte in Schweiß gebadet; ich trieb die linke Schulter wie einen Keil in die Menge hinein; ich arbeitete mit den Füßen, mit dem Kopf und eroberte mir den Boden Zoll um Zoll. Häuser in der Nähe waren in Brand geraten, und viele Leute wurden in Feuer und Rauch hinein getrieben und verbrannten oder erstickten, „Nur das nicht! Lieber erfrieren!“ schrie ich mir zu und wütete und kam von dem Brand weg. War das ein Geschrei und Gefluch! Das könnt Ihr Euch nicht vorstellen. Fuhrwerke, Wagen und Schlitten fuhren in uns hinein, die Peitschen hieben auf uns herab, die Rosse traten zu Hunderten nieder und wurden dafür selber erstochen, die Räder quatschten über die Hingefallenen weg; da gab’s kein Erbarmen! Ich habe drei Schlachten erlebt, so eine nicht! Und ohne Unterbruch fiel der Schnee, als wollte er alles, alles begraben. Ich hatte mich wohl vier Stunden durchgeschlagen und -gestoßen. Da fühlte ich endlich Holz unter den Füßen. Ich war auf der Brücke. Gottlob! Aber wie ich mich freue, kommt neuer Schauder über mich. Ich war hart am Rand und sehe, wie andere vor mir hinausgedrängt werden, mit einem Schrei ihren Nachbar anfassen und mit ihm zusammen überschlagen, ins Wasser und in die Eisschollen hinabsahen. Da hieß es, aufs neue sich wehren; und auch der Kleine hielt sich tapfer; er klammerte sich so fest an meinen Hals, daß mir war, er sei an mich angewachsen. Auf der Brücke ging es noch grausamer zu als bei den Feuern. Wäre ich nicht so stark gewesen wie drei zusammen, ich hätte es nimmer fertig gebracht; man denke doch, ohne brauchbaren Arm, wie ich war (die Hand war ihm erfroren). Aber ich kam nach und nach in die Mitte der Brücke, und da war die Not überstanden; denn nun wurde ich wie von einem Wasser hinüber und noch weit ins Feld hinein getrieben. Wie sich das Gedränge um mich lockerte, fiel ich halb ohnmächtig hin, und wie in einem Traume sah ich nach der Brücke, auf der es immer grausiger zuging. Einer nach 169 dem andern fiel ins Wasser, klammerte sich an einer Eisscholle fest und trieb abwärts; wie lang! Und drüben der Brand und der Schwarze Rauch und das Geschrei! ! Wie ich so schaue, höre ich neben mir unterdrückte Rufe: „Der Kaiser!“ Erstand aufrecht im Schlitten, das Gesicht nach der Brücke. Ich hätte geglaubt, er würde flennen bei dem Elend, an dem er allein doch schuld war. Aber davon war nichts; er sah ruhig drein, wie ich ihn einmal in der Schlacht gesehen hatte, und dann setzte er sich, wickelte sich in einen grauen Pelz, und davon ging’s! Da kam eine heilige Wut über mich. Ich wollte die rechte Faust ballen und gegen ihn schwingen; aber ich merkte, daß sie mir erfroren tvar. Das gab mir einen solchen Stoß, daß ich hinsank und ihm nicht einmal fluchen konnte. j. Boßhard, aus „Jugendland“. 72. Die Rückkehr der Franzosen aus Rußland. 1 Es war nach dem Neujahr 1813. Das scheidende Jahr hatte dem neuen einen strengen Winter als Erbschaft zurückgelassen; aber in Haufen standen die Leute auch in einer mäßigen Stadt vor dem Posthause. Glücklich, wer zuerst das Zeitungsblatt nach Hause trug. Kurz und vorsichtig war der Bericht über die Ereignisse dieser Tage; denn in Berlin saß der französische Militärgouverneur und bewachte jede Äußerung der verschüchterten Presse. Dennoch war längst die Kunde von dem Schicksal der großen Armee bis in die entlegenste Hütte gedrungen, zuerst dunkle Gerüchte von Not und Elend, dann die Nachricht von einem ungeheuren Brande in Moskau und den himmelhohen Flammen, die rings um den Kaiser aus dem Boden gestiegen waren, dann von einer Flucht durch Eis und Wüsteneien, von Hunger und unsäglichem Elend. Vorsichtig sprach auch das Volk darüber; denn die Franzosen lagerten nicht nur in der Hauptstadt und den Festungen des Landes, sie hatten ihre Agenten auch in den Provinzen, Späher und verhaßte Angeber, denen der Bürger aus dem Wege ging. Seit den letzten Tagen wußte man, daß der Kaiser selbst von seinem Heere geflohen war. In offenem Schlitten, nur einen Begleite) - neben sich, war er verhüllt, als Herzog von Vincenza, Tag und Nacht durch preußisches Land gefahren. Jetzt war er in Paris angekommen; man las in den Zeitungen, wie glücklich Paris war, wie wohl sich der Kaiser befinde und daß die große Armee trotz Ungunst der Jahreszeit doch 170 noch in furchtbaren Massen über Preußen zurückkehren solle und der Kaiser von neuem rüste. Man sah, was von der großen Armee übrig war. In den ersten Tagen des Jahres fielen die Schneeflocken; weiß wie ein Leichentuch lag die Landschaft. Da bewegte sich ein langsamer Zug geräuschlos auf der Landstraße zu den ersten Häusern der Vorstadt. Das waren die rückkehrenden Franzosen. Sie waren vor einem Jahre der aufgehenden Sonne zugezogen mit Trompetenklang und Trommelgerassel, in kriegerischem Glanz und empörendem Übermut. Endlos waren die Truppenzüge gewesen; lag für Tag, ohne Aufhören hatte sich die Masse durch die Straßen der Stadt gewälzt; nie hatten die Leute ein so ungeheures Heer gesehen, alle Völker Europas, jede Art von Uniform, Hunderte von Generälen. Die Riesenmacht des Kaisers war tief in die Seelen gedrückt, das militärische Schauspiel mit seinem Glanz und seinen Schrecken füllte noch die Phantasie. Einen Monat hatte der endlose Durchgang gedauert; wie Heuschrecken hatten die Fremden von Kolberg bis Hreslau das Land aufgezehrt. Die französischen Kriegspferde fraßen den letzten Halm Heu, das letzte Bund Stroh. Und gröblich wie die Tiere verzehrten die Menschen. Vorn Marschall bis zum gemeinen Franzosen waren sie nicht zu sättigen. Die Offiziere hatten von der Frau eines armen Dorfgeistlichen gefordert, daß sie ihnen die Schinken in Rotwein koche; den fettesten Rahm tranken sie aus Krügen und gössen Zimmetessenz darüber. Auch der Gemeine bis zum Trommler hatte getobt, wenn er des Mittags nicht zwei Gänge erhielt; wie Wahnsinnige hatten sie gegessen. Aber was jetzt zurückkehrte, das kam kläglicher, als einer im Volke geträumt hatte. Es war eine Herde armer Sünder, die ihren letzten Gang angetreten hatten; es waren wandelnde Leichen. Ungeordnete Haufen, aus allen Truppengattungen und Nationen zusammengesetzt, ohne Kommandoruf und Trommel, lautlos wie ein Totenzug nahten sie der Stadt. Alle waren unbewaffnet, keiner beritten, keiner in vollständiger Montur, die Bekleidung zerlumpt und unsauber, aus den Kleidungsstücken der Bauern und ihrer Frauen ergänzt. Was jeder gefunden, hatte er an Kopf und Schultern gehängt, um eine Hülle gegen die markzerstörende Kälte zu haben: ahe Säcke, zerrissene Pferdedecken, Teppiche, Häute von Katzen und Hunden; man sah Grenadiere in großen Schafpelzen, Kürassiere, die Weiberröcke wie spanische Mantel trugen. Nur wenige hatten 171 Helm oder Tschako; jede Art Kopftracht trugen sie, bunte und weiße Nachtmützen, wie sie der Bauer hatte, tief in das Gesicht gezogen, ein Tuch oder ein Stück Pelz zum Schutze der Ohren darüber geknüpft, Tücher auch über dem untern Teil des Gesichts. Und doch waren der Mehrzahl Nasen und Ohren erfroren und feuerrot; erloschen lagen die dunklen Augen in ihren Höhlen. Selten trug einer Schuhe oder Stiefel; glücklich war, wer in Filzsocken oder in weiten Pelzschuhen den elenden Marsch machen könnte; vielen waren die Füße mit Stroh umwickelt, mit Decken, Lappen, dem Fell der Tornister oder dem Filz von alten Hüten. Alle wankten auf Stöcke gestützt, lahm und hinkend. Auch die Garden unterschieden sich von den übrigen nur wenig; ihre Mantel waren verbrannt; nur die Bärenmützen gaben ihnen noch ein militärisches Ansehen. So schlichen sie daher, Offiziere und Soldaten durcheinander mit gesenktem Haupt, in dumpfer Betäubung. Alle waren durch Hunger und Frost und unsägliches Elend zu Schreckensgestalten geworden. Tag für Tag kamen sie jetzt auf der Landstraße heran, in der Regel, sobald die Abenddämmerung und der eisige Winternebel über den Häusern lag. Dämonisch war ihr lautloses Erscheinen, entsetzlich die Leiden, welche sie mit sich brachten; die Kälte in ihren Leibern sei nicht fortzubringen, ihr Heißhunger sei nicht zu stillen, behauptete das Volk. Wurden sie in ein warmes Zimmer geführt, so drängten sie mit Gewalt an den heißen Ofen, als wollten sie hineinkriechen; vergebens mühten sich die mitleidigen Hausfrauen, sie von der verderblichen Glut zurückzuhalten. Gierig verschlangen sie das trockene Brot; einzelne vermochten nicht aufzuhören, bis sie starben. Bis nach der Schlacht bei Leipzig lebte im Volke der Glaube, daß sie vorn Himmel mit ewigem Hunger bestraft seien. Noch dort geschah es, daß Gefangene in der Nähe ihres Lazaretts sich die Stücke toter Pferde brieten, obgleich sie bereits regelmäßige Kost erhielten; noch damals behaupteten die Bürger, das sei ein Hunger von Gott, einst hätten sie die schönsten Weizengarben ins Lagerfeuer geworfen, hätten gutes Brot ausgehöhlt, verunreinigt und auf dem Boden gekollert, jetzt seien sie verdammt, durch keine Menschenkost gesättigt zu werden. Überall in den Städten der Heerstraße wurden für die Heimkehrenden Lazarette eingerichtet, und sogleich waren alle Krankenstuben überfüllt; giftige Fieber verzehrten dort die letzte Lebenskraft der Unglücklichen. Ungezählt sind die Leichen, welche her- 172 ausgetragen wurden; auch der Bürger mochte sich hüten, daß die Ansteckung nicht in sein Herz drang. Wer von den Fremden vermochte, schlich deshalb nach notdürftiger Ruhe müde und hoffnungslos der Heimat zu. Die Buben auf der Straße aber sangen: ' „Ritter ohne Schwert, Reiter ohne Pferd, Flüchtling ohne Schuh, nirgends Rast und Ruh. So hat sie Gott geschlagen, mit Mann und Roß und Wagen!“ und hinter den Flüchtlingen gellte der höhnende Ruf: „Die Kosaken sind da!“ Dann kam in die flüchtige Masse eine Bewegung des Schreckens, und schneller wankten sie zum Tore hinaus. Nach Gustav Freytag. 73. Das Volk steht auf. Seit drei Monaten wußte man, daß der russische Winter die große Armee verdorben hatte. Was von Osten kam, wurde verklärt durch den leidenschaftlichen Wunsch des Volkes nach Befreiung. Nächst dem Frost und Hunger galten die Kosaken als die Besieger der Franzosen. Wunderbare Geschichten von ihren Taten flogen ihnen voraus. Sie sollten halbwilde Männer sein, von unbeschreiblicher Gewandtheit, Schlauheit und Tapferkeit. Wie schnell ihre Pferde, wie unwiderstehlich ihr Angriff sei, wurde gerühmt, daß sie die größten Flüsse durchschwimmen, die steilsten Hügel erklettern, die grimmigste Kälte mit gutem Mut ertragen könnten. Schon am 17. Februar waren sie in der Nähe von Berlin erschienen. Täglich zogen in den Städten, welche weiter nach Westen lagen, die Knaben aus den Toren, um zu spähen, ob ein Trupp heranreife. Mit fröhlichem Zuruf wurden sie dann von alt und jung bewill- kommt, eifrig trugen die Bürger herbei, was das Herz der Fremden erfreuen konnte. Alles an ihnen wurde bewundert, ihre starken Voll härte, das lange, dunkle Haar, die weiten, blauen Hosen und ihre Waffen. Auch ihre Reiterkünste entzückten. Im Karriere beugten sie sich zur Erde und hoben die kleinsten Gegenstände auf; im schnellsten Ritt drehten sie die Pike wirbelnd um den Kopf und trafen sicher den Gegenstand, nach dem sie zielten. Schnell gewannen sie das Herz des Volkes. Nur dreimal in der Woche wurden die Zeitungen ausgegeben; so zogen die Neuigkeiten nur langsam durch die Provinzen. Aber jedes Blatt, das neue Kunde aus der Provinz Preußen zuführte, wurde mit gespannter Teilnahme aufgenommen. Mit verhaltenem Atem bändigte der Leser sein unruhiges Herz. Kam eine große Nachricht, dann traten dem Hausvater, der die Botschaft den Seinen verkündigte, wohl die Tränen in die Augen; er wischte sie heimlich ab. Neue Lieder flatterten durch das Land, voll Haß und Spott, schon einzelne heißempfundene darunter. In solcher Stimmung empfing das Volk die Erlasse des Königs, welche bis Mitte März die gesamte Wehrkraft Preußens unter die Waisen stellten. Wie ein Frühlingssturm, der die Eisdecke bricht, fuhren sie durch die Seele des Volkes. In Rührung, Freude, stolzer Hoffnung schlugen die Herzen. Es wurden nicht viele Worte gemacht, kurz war der Entschluß. Die Freiwilligen sammelten sich still in den Städten ihrer Landschaft und zogen mit ernstem Gesang aus den Toren der Hauptstadt. Die Geistlichen verkündeten in der Kirche den Aufruf des Königs; es war das kaum nötig, die Leute wußten bereits, was sie zu tun hatten. Als ein junger Theologe, der predigend seinen Vater vertrat, die Gemeinde von der Kanzel ermähnte, ihre Pflicht zu tun, und zufügte, daß er nicht leere Worte spreche und sogleich nach dem Gottesdienste selbst als Husar eintreten werde, da stand sofort in der Kirche eine Anzahl junger Männer auf und erklärte, sie würden dasselbe tun. Als ein Bräutigam zögerte, sich von seiner Verlobten zu trennen, und ihr endlich doch seinen Entschluß verriet, sagte ihm die Braut, sie habe in der Stille getrauert, daß er nicht mit den Ersten aufgebrochen sei. Es war in der Ordnung, es war nötig, die Zeit war gekommen; niemand fand etwas Außerordentliches darin. Die Söhne eilten zum Heere und schrieben vor dem Aufbruch ihren Eltern von dem fertigen Entschluß; die Eltern waren damit einverstanden, es war ihnen nicht auffallend, daß der Sohn selbst willig tat, was er tun mußte. Die akademischen Vorlesungen mußten geschlossen werden, alle Studenten wollten den Ruhm teilen, die deutsche Freiheit zu erkämpfen. Auf den Gymnasien waren die Großen und Alten nicht immer für die besten Schüler gehalten worden, und mit geringer Achtung hatten die Lehrer nach den hintersten Bänken gesehen, wo die Recken mißvergnügt saßen; jetzt waren sie die Beneideten, der Stolz der Schule; herzlich drückten die Lehrer ihnen die Hand, und mit Bewunderung sahen die jüngeren den Scheidenden nach. Nicht nur die erste, blühende Jugend trieb es in den Kampf, auch die Beamten, unentbehrliche Diener des Staates. Schon am 2. März mußte ein königlicher Erlaß diesen Eifer einschränken, der Ordnung und Verwaltung des Staates ganz aufzuheben drohte. 174 Wer nicht selbst ins Feld zog oder einen aus seiner Familie ausrüsten half, der suchte durch Gaben dem Vaterland zu helfen. Beamte verzichten auf einen Teil ihres Gehaltes, Leute von mäßigem Wohlstand geben einen Teil ihres Vermögens, Reiche senden ihr Silbergeschirr, Ärmere bringen ihre silbernen Löffel; wer kein Geld zu opfern hat, bietet von seinen Habseligkeiten, seiner Arbeit. Gewöhnlich wird es, daß Gatten ihre goldenen Trauringe — sicher das einzige Gold, das im Hause ist — einsenden. Landleute schenken Pferde, Gutsbesitzer Getreide, Kinder schütten ihre Sparbüchsen aus. Da kommen 100 Paar Strümpfe, 400 Ellen Hemdenleinwand, Stücke Tuch, viele Paar neue Stiefel, Büchsen, Hirschfänger, Säbel, Pistolen. Ein Förster kann sich nicht entschließen, seine gute Büchse wegzugeben, wie er in lustiger Gesellschaft versprochen hat und geht daher lieber selber ins Feld. Junge Frauen senden ihren Brautschmuck ein, Bräute die Halsbänder, die sie von den Geliebten erhalten. Ein Mädchen, dessen Haar gelobt worden war, schneidet es ab zum Verkaufe; patriotische Spekulation verfertigt daraus Ringe, wofür mehr als 100 Taler gelöst werden. Was das arme Volk aufbringen kann, wird eingesendet, mit der größten Opferfreudigkeit gerade von kleinen Leuten. Es ist das erstemal, daß ein deutsches Volk in solcher Opferlust auflodert und überhaupt zum erstenmal, daß dem Deutschen die Freude wird, für seinen Staat freiwillig hinzugeben. Nach Gustav Freytag. 74. Die Grenadiere. Nach Frankreich zogen zwei Grenadier’, Die waren in Rußland gefangen; Und als sie kamen ins deutsche Quartier, Sie ließen die Köpfe hangen. Da hörten sie beide die traurige Mähr’; Daß Frankreich verloren gegangen, Besiegt und geschlagen das tapfere Heer, — Und der Kaiser, der Kaiser gefangen. Da weinten zusammen die Grenadier’ Wohl ob der kläglichen Kunde. Der eine sprach: „Wie weh wird mir! Wie brennt meine alte Wunde!“ 175 Der andere sprach: „Das Lied ist aus! Auch ich möcht’ mit dir sterben, Doch hab’ ich Weib und Kind zu Haus, Die ohne mich verderben.“ „Was schert mich Weib, was schert mich Kind, Ich trage weit bess’res Verlangen; Laß sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind, Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen! Gewähr’ mir, Bruder, eine Bitt’: Wenn ich jetzt sterben werde, So nimm meine Leiche nach Frankreich mit, Begrab’ mich in Frankreichs Erde! Das Ehrenkreuz am roten Band Sollst du aufs Herz mir legen; Die Flinte gib mir in die Hand Und gürt mir um den Degen! So will ich liegen und horchen still Wie eine Schildwach, im Grabe, Bis einst ich höre Kanonengebrüll Und wiehernder Rosse Getrabe. Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab, Viel Schwerter klirren und blitzen; Dann steig’ ich gewaffnet hervor aus dem Grab, Den Kaiser, den Kaiser zu schützen.“ Heinrich Heine. 75. Die nächtliche Heerschau. Nachts um die zwölfte Stunde Verläßt der Tambour sein Grab, Macht mit der Trommel die Runde, Geht wirbelnd auf und ab. Mit seinen entfleischten Händen Rührt er die Schlägel zugleich, Schlägt manchen guten Wirbel, Reveill’ und Zapfenstreich. Die Trommel klinget seltsam, Hat gar einen starken Ton; Die alten, toten Soldaten Erwachen im Grab davon. Und die im tiefen Norden Erstarrt in Schnee und Eis, Und die in Welschland liegen, Wo ihnen die Erde zu heiß, Und die der Nilschlamm decket Und der arabische Sand, Sie steigen aus ihren Gräbern, Sie nehmen’s Gewehr zur Hand. 176 Und um die zwölfte Stunde Verläßt der Trompeter sein Grab Und schmettert in die Trompete Und reitet auf und ab. Da kommen auf luft’gen Pferden Die toten Reiter herbei, Die blut’gen, alten Schwadronen In Waffen mancherlei. Es grinsen die weißen Schädel Wohl unter den Helmen hervor; Es halten die Knochenhände Die langen Schwerter empor. Und um die zwölfte Stunde Verläßt der Feldherr sein Grab, Kommt langsam hergeritten, Umgeben von seinem Stab. Er trägt ein kleines Hütchen, Er trägt ein einfach Kleid, Und einen kleinen Degen Trägt er an seiner Seit’. Der Mond mit gelbem Lichte Erhellt den weiten Plan; Der Mann im kleinen Hütchen Sieht sich die Truppen an. Die Reihen präsentieren Und schultern das Gewehr; Dann zieht mit klingendem Spiele Vorüber das ganze Heer. Die Marschäll’ und Generale Schließen um ihn einen Kreis; Der Feldherr sagt dem nächsten Ins Ohr ein Wörtlein leis. Das Wort geht in die Runde, Klingt wieder fern und nah; „Frankreich“ ist die Parole, Die Losung: „St. Helena“. Das ist die große Parade Im elysäischen Feld, Die um die zwölfte Stunde Der tote Cäsar hält. J. Christian Freiherr v. Zedlitz. 76. Aus dem Zusammenbruch Berns. Seit Ende Januar 1798 standen die Berner unter den Waffen. Jeder Soldat wünschte nichts Sehnlicheres, als an den Feind geführt zu werden. Statt dessen schloß die Regierung einen Waffenstillstand bis zum 1. März. Der gewählte General, Karl Ludwig von Erlach, ein kranker Mann, aber ein patriotischer, hochgesinnter Offizier, konnte keinen wichtigen Entschluß fassen ohne die Zustimmung des Kriegsrates in Bern. So wurden die wackeren Truppen mitten im Winter zur Untätigkeit verdammt und planlos hin und her geführt. Jede Woche, jeden Tag erwarteten sie, die Franzosen packen zu können — immer vergeblich. Kein Wunder, wenn sich schließlich alle Disziplin lockerte und der gemeine Mann, die Unfähigkeit der militärischen und politischen Führung erkennend, sich verraten glaubte. Schultheiß Steiger war in den letzten Tagen des alten Bern immerfort auf dem Rathause. Es ist wohl auf seinen Rat geschehn, 177 daß am 26. Februar General von Erlach mit 72 Offizieren in die Mitte des Großen Rates trat und denselben beschwor, den Feind angreifen zu lassen. Trotzdem geschah das Unglaubliche, daß der Große Rat sich nochmals mit Brune in Unterhandlungen einließ. Sonntag, den 4. März, bekleidete sich der Schultheiß um fünf Uhr morgens zum letztenmal mit seiner Amtstracht. „Noch ist es um eine Zeremonie zu tun,“ sprach Steiger zu seinem Schwiegersöhne, „dann begleiten wir einander, wohin Pflicht und Ehre uns rufen“. — „Das alles wird uns nicht retten!“ fügte er hinzu. Er meinte damit die von den Franzosen verlangte Abdankung der Regierung und die Wahl einer neuen, patriotischen; er wußte wohl, daß ein Friedensschluß unmöglich war, weil sonst die Räuber ihre Beute nicht hätten fassen können. —• Um 6 Uhr schon war der Rat versammelt. Steiger widersprach nicht mehr; aber er stimmte mit zehn andern Mitgliedern der Regierung gegen die französischen Forderungen. — Als der Rat sich sein Todesurteil gesprochen hatte, brachen viele der anwesenden Volksvertreter in lautes Weinen aus. Mit dem Ausdruck edlen Selbstgefühls stieg der jetzt 69jährige Friedrich Nikiaus von Steiger mit würdevoller Ruhe von dem Stuhle herab, von wo er mit Hochsinn die Angelegenheiten seines Vaterlandes geleitet hatte. Auf der Schwelle des großen Portals wandte er sich noch einmal um und warf einen letzten, ernsten Blick auf die Versammlung zurück. Wie auf einen Zauberschlag erhoben sich alle Mitglieder, Totenstille trat im Saale ein, jeder erwartete ein letztes Abschiedswort aus dem Munde des scheidenden Oberhauptes. Aber Steiger blieb stumm und verließ mit einem Ausdruck der Trauer den Rat, der sich selber aufgegeben hatte. Nach dem Verlassen des Rathauses sagte er zu seinem Begleiter: „Nun ist mein Platz da, wo die feindlichen Bajonette herandringen.“ Mit Steiger schien der letzte günstige Stern von der alten Republik gewichen zu sein. Am gleichen Tage brach eine wahre Anarchie aus. Man schrie laut über Verrat. Die beiden Obersten Ryhiner und Stettler wurden von wütenden Soldaten grausam mißhandelt und dann erschossen, ohne daß man die Mörder verhaftete. Alles raste und fluchte über die Obrigkeit, über die Offiziere, über die Franzosen. Steiger begab sich nach dem Grauholz, an die Front der Berner Stellung, welche Erlach persönlich kommandierte. In der kalten, mondhellen Nacht lagerte man sich um ein Wachtfeuer: OesctLlohtslehrmittel. II. 12 178 Erlach mit einigen Dragoneroffizieren, der Schultheiß und andere. Beim Wachtfeuer am Grauholz gab es keinen Obergeneral der Berner Truppen mehr; kaum tausend Getreue waren noch um ihn geschart. Die bei Fraubrunnen stehenden Truppen, 1600 bis 2000 Mann, hatten sich vollständig von Erlachs Kommando losgelöst. Den Anführer, welchen man ihnen gab, anerkannten sie nicht, sondern wählten in der Person des Weibeis Benedikt Nikiaus ihren eigenen „General“. Auf der ganzen, langen Kampflinie überall dasselbe Bild: Vereinzelte Kämpfe voll Ruhm und Tapferkeit, Meuterei, Befehle und Gegenbefehle, eigenmächtiges Handeln der Unterführer, Heimlaufen ganzer Bataillone, Verratgeschrei. Steiger, der noch am Abend die Truppe besichtigt und den Leuten Mut zugesprochen hatte, wurde beim Morgengrauen des 5. März durch heftiges Kanonenfeuer aufgeschreckt. General Schau- enburg hatte bei Fraubrunnen angegriffen und die Stellung nach hartnäckiger Gegenwehr genommen. Die Truppen wehrten sich meist tapfer; auch „General Nikiaus“ fällt wacker kämpfend und den ihm angebotenen Pardon verschmähend an der Spitze seiner Schar. Der zehnfachen Übermacht weichend, ziehen sich die Berner unter schweren Verlusten zurück und verlassen eine Stellung, die sie gar nie hätten besetzen sollen. Die zwei schwachen Bataillone beim Grauholz eilten ihren Brüdern zu Hilfe, wurden aber trotz zum Teil heldenhaften Kampfes in die allgemeine Flucht gegen die Hauptstadt mitgerissen. Der Schultheiß verließ seine Berner Milizen nicht. Beim Vorrücken schloß er sich dem Bataillon Tillier an und ermunterte die Leute durch Ermahnung, mehr noch durch sein mutiges Beispiel. Die allgemeine Retirade vermochte er aber nicht aufzuhalten. Am Waldrand lag eine gefällte Buche. Auf diese stellte sich der greise Held, um durch seine Gegenwart die Truppen anzufeuern. Die Kugeln pfiffen um ihn durch die laublosen Bäume, Kanonenschüsse schlugen in den Wald, Äste krachten zu Boden, eine Pulverkiste flog in die Luft. — Steiger stand aufrecht und lautlos im Kampfe. Immer größer wurden der Lärm und die Verwirrung. Todesmutig suchten die Offiziere ihre Mannschaften zum Widerstand zu bewegen — umsonst. Alles floh; haufenweise lagen Gewehre und „Habersäcke“ umher; kaum fünfzehn Mann hielten noch um ihren Schultheißen aus, der auf seinem exponierten Standpunkte 179 sich immer noch den Kugeln preisgab. Sein Wunsch sollte nicht erfüllt werden. Zuletzt vermochte ihn nur die drohende Gefangennahme zum Verlassen des Kampfplatzes zu bestimmen. Es galt, keine Zeit zu verlieren; denn die feindlichen Husaren ritten in Schwärmen daher. Unter der tapferen Mithilfe des treuen Polizeikorporals Dubi versuchte Steiger, ins Berneroberland zu entkommen. Im Dorfe Münsingen stieß das Gefährt auf eine Schar Oberländer Milizen, die, meist betrunken, tobten und lärmten. Vor dem Gasthaus zum Ochsen war die Straße wegen der Menge unpassierbar, und der Wagen blieb stehen. Einer rief: „Da kommt der Schultheiß Steiger, der Donners Spitzbub 1 Der erst’, der ihm einen Schuß gibt, ist der brävst’l“ Je näher die Flüchtigen dem Dorfe Wichtrach kamen, desto größer wurde der Lärm; man hörte schießen, toben, brüllen. Hier war kurz zuvor General Erlach auf bestialische Weise ermordet worden. Dubi sah ihn entblößt und zum Teil mit Stroh umhüllt am Wege liegen, durch Stiche und Kolbenstoße fast unkenntlich. Unter großen Gefahren und Demütigungen erreichte der Schultheiß Thun und Interlaken, von wo die Flucht über den Brünig nach Deutschland weiterging. Aus: Schweizer Charakterköpfe von A. Isler. Verlag von Schultheß & Cie., Zürich. 77. Aloys Reding am Morgarten. Der im Anmarsch befindlichen, 12,000 Mann zählenden Macht Schauenburgs konnte Schwyz nur 4000 Krieger entgegenstellen. Den Mangel an Zahl ersetzte jedoch die allgemeine Begeisterung für den Kampf. Hinfällige Greise und unmündige Knaben wollten an dem Ruhm teilnehmen, sich fürs Vaterland zu opfern. Frauen und Mädchen spannten sich vor die Kanonen und zogen sie von Brunnen hinauf ins Gebirg über Steinen und Sattel nach Roten- turm. Nirgends im Volke war ein Zwiespalt der Meinung. Während die müden Krieger unter den Gewehren schliefen, ratschlagte der Kriegsrat in finsterer Stimmung; denn eine Grenze von zwanzig Stunden Länge war zu verteidigen, und wenn von den vier Haupteingängen (Art — Morgarten — Schindeliegi — Etzel) nur ein einziger verloren ging, war keine Hoffnung auf Abwehr. Um Mitternacht erschien ungeraten der Pfarrer Marianus Herzog von Einsiedeln und anerbot sich, den Etzelpaß gegen die Franzosen zu verteidigen. „Wenn Schindeliegi und andere Posten so verteidigt werden, wie ich mit den Einsiedlern den Etzel schirmen will, so 180 sind wir Sieger!“ Er fand indessen nicht überall Glauben. Keiner der Offiziere wollte mit dem störrigen Priester, der unter dem Volke großen Anhang besaß, den Oberbefehl teilen. Der französische Angriff geschah gleichzeitig durch je eine Brigade (6000 Mann) von Westen und Norden her. Der Angriff des General Jordy (im Westen) zwang die Schwyzer, ihre Streitmacht stark zu verzetteln. Den Hauptangriff richtete er auf die dominierenden Höhen von 8t. dost und Morgarten (zwischen Ägeri und Rotenturm-Sattel). Es gelang ihm, die Schwyzer zurückzudrängen. Schon sah man die Franzosen in Scharen die Höhen gegen die Altmatt (Rotenturm) herniedersteigen. Alles schien verloren. In diesem kritischen Augenblicke sammelte Reding, was von den beiden Bataillonen noch vorhanden war, in einer langen Front längs der Straße. Während er anfeuernd und ordnend die Reihen entlang ritt, wälzte sich mit wütendem Geschrei der Schwyzer Landsturm das Tal herauf. Eine wilde Begeisterung hatte das Volk ergriffen. Rasch ließ Reding die Kanonen und Gewehre abfeuern. Dann ertönte der Sturmmarsch zum Bajonettangriff. Mit wildem Jauchzen den Tod fürs Vaterland begrüßend, bewegte sich die Kolonne im Laufschritt unter dem Feuer des Feindes über die 1800 Schritt breite Ebene. Mancher Tapfere sank schwer getroffen, den mageren Torfgrund mit seinem Blute tränkend. Ein wilder Zu- sammenprall und ein viertelstündiges Gemetzel, dann flohen die Franzosen den Berg hinauf und darüber hinweg in panischem Schrecken, soweit sie ihre Füße trugen. Es war hohe Zeit; denn schon hatte der Feind den Morgarten- berg genommen und bedrohte das Dorf Sattel. Reding befahl dem Bataillon Hediger, den Berg zu stürmen, während Urner und der Steiner Landsturm das Gefecht halten sollten. Nachdem beides geglückt, stürzte sich alles: Schwyzer, Urner, vermischt mit dem die alten, rostigen Waffen der Vater führenden Landsturm, auf den verblüfften Feind, dem keine Zeit zum Laden der Gewehre blieb. Die Kraft der Arme entschied; Kolben und Bajonett räumten gewaltig auf unter den „schwarzen Banden“ (die 14. französische Haibbrigade hieß „die schwarze Legion“). Zweimal sammelte sich der Feind und suchte standzuhalten; zweimal wurde er geworfen, bis er in der regellosesten Flucht gegen Ägeri hinunterzog. Trotzdem auch bei Arth und Schindellegi die Schwyzer glücklich kämpften, war weiterer Widerstand unmöglich, da der Pfarrer Marianus Herzog 181 den Etzelpaß schmählich preisgab und General Nouvion Einsiedeln besetzte. Die Landsgemeinde willigte in eine ehrenvolle Übergabe. Kein feindlicher Fuß betrat das alte Schwvz, und mit hoher Achtung sprachen die Franzosen von ihren Gegnern im Gebirge, die sich ihrer würdig gezeigt hätten. Nach A.Isler: „Schweizer Charakterköpfe“. 78. Johann Heinrich Pestalozzi. 1746—1827. In der ganzen Welt wird der Name Pestalozzi mit größter Ehrerbietung genannt. Vereine und Anstalten zum Heile armer Kinder und zum Wohle des Volkes' tragen seinen Namen, und sein Bild schmückt ungezählte Schulhäuser. Es ist für einen schweizerischen Sekundarschüler geradezu eine Dankespflicht, etwas von dem Leben und Wirken dieses Mannes zu wissen. Heinrich Pestalozzi wurde am 12. Januar 1746 in Zürich geboren. Sein Vater war Wund- und Augenarzt; seine Mutter stammte aus Wädenswil und war eine nahe Verwandte des berühmten österreichischen Generals Hotze. Das Geschlecht der Pestalozzi saß einst am Comersee, dann im bündnerischenCleven, dem heutigen Chiavenna. In der Mitte des 16. Jahrhunderts verließ ein Vorfahre Pestalozzis als eifriger Anhänger der Reformation seine Heimat und kam nach Zürich. — Heinrich Pestalozzi war ein zartes, schwächliches Kind und bedurfte in hohem Maße der mütterlichen Liebe und Pflege. Er wuchs als ein Mutterkind still und zurückgezogen auf. Schon 1751 starb der Vater und ließ den Seinen nur dürftige Mittel zurück. Vor seinem Tode hatte er die tüchtige Magd, das Babel! von Buchs, an sein Lager gerufen und ihr das Versprechen abgenommen, seine Frau nie zu verlassen. Sie hielt es mit großer Treue und Hingebung. An dieser Magd lernte Pestalozzi die Seelengröße einer Heldin des Alltags kennen. Um Kleider und Schuhe zu sparen, wurde der Knabe nie auf die Straße gelassen, so daß er seine Altersgenossen nicht kennen lernte und mit ihnen nicht spielen konnte. Aber im stillen Hause, umgeben von mütterlicher Liebe und umsorgt vorn treuen Babeli, entfaltete sich in Pestalozzi um so mehr das reiche, innere Gemüts- und Phantasieleben. Schon vorn 5. Altersjahre an besuchte der Knabe die Schulen seiner Vaterstadt, zuerst die Deutsch-, dann die Lateinschule und schließlich das Karolinum, eine Art Hochschule. Auch in Zürich waren die niederen oder Deutschschulen schlecht, weil es noch keine Lehr- und Lernmethode gab, die der Natur des Kindes angepaßt 182 war; es fehlte an guten Lehrmitteln und* gebildeten Lehrern. Es herrschte im Unterricht ein roher Ton: Die Kinder wurden viel geschlagen, ehrverletzend gestraft, verlacht und verhöhnt; man plagte sie mit dem Auswendiglernen von unverstandenen, unerklärten Wörtern und Sprüchen. Diese Schule konnte auf ein so gemütvolles Kind nicht anregend wirken. Der Schulmeister behauptete, aus dem Knaben gebe es nie etwas Rechtes; die Mitschüler verspotteten Pestalozzi wegen seiner Unbehilflichkeit, seines linkischen Wesens und seiner eigentümlichen Gesichtsbildung. Er selber sagt: „Sie lachten mich alle aus und gaben mir allgemein den Namen „Heiri Wunderli von Toriikon“. Doch zeigte er schon frühe seine Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft. Als 1755 das gewaltige Erdbeben» welches Lissabon zerstörte, auch Zürich berührte und Lehrer und Schüler Kopf über Hals die Stiegen hinabrannten und keiner wieder hinaufzugehen wagte, da holte Pestalozzi furchtlos die Mützen und Bücher seiner Mitschüler. An der hohem Schule wirkten damals eine Reihe berühmter Männer als treffliche Lehrer. Pestalozzi war zwar kein schlechter, aber auch kein hervorragender Schüler. Sein bevorzugter Lehrer war Joh. Jakob Bodmer, ein Anhänger der Aufklärung, der das aristokratische Regiment mit seiner Bevormundung des Volkes haßte. Dieser übte auf die studierende Jugend einen mächtigen Einfluß aus und begeisterte sie für eine bessere Volkserziehung und eine höhere Staatsordnung. Er vereinigte sie in der „Helvetischen Gesellschaft zur Gerwe“, die eine Wochenzeitung, „den Erinnerer“ herausgab. Darin schrieb der 19jährige Pestalozzi bereits Aufsätze über die Verbesserung der Volksbildung, der Volksbücher und der Volkssitten. Die „Patrioten“ der Gesellschaft zur Gerwe griffen auch in den Gang der öffentlichen Angelegenheiten ein. Sie verklagten den Junker Grebel, den ungerechten Landvogt von Grüningen. Bald kamen ein Zunftmeister und ein Pfarrer an die Reihe. Ob- schon die Regierung die Schuldigen zur Rechenschaft zog, sah sie es doch höchst ungern, daß die Bürger die Geschäftsführung der Amtspersonen überwachten. Pestalozzi wurde wegen einer neuen politischen Schrift, die in Zürich erschien, in eine strenge Untersuchung verwickelt, ja, vier Tage ins Gefängnis geworfen. Obgleich unschuldig, bekam er einen scharfen Verweis. Die Kosten hatten er und seine Freunde zu tragen, und die Obrigkeit bedrohte sie mit dem Verluste des Bürgerrechtes. Sie mußten auch die drei Klafter 183 Holz bezahlen, die dem Henker zur Verbrennung jener „Schand- schrift“ dienten; ihre Zeitung, „der Erinnerer“, wurde unterdrückt. Pestalozzi war nun zwanzig Jahre alt; aber er hatte noch keinen Benif. Er hatte Pfarrer werden wollen, doch war er für die damalige Zeit zu freigesinnt, und er stellte sich nicht zum Examen. Da er das Mißfallen des Rates auf sich gezogen hatte, war ihm auch der Weg zum Staatsbeamten versperrt. Damals ging der Ruf durch die Welt: „Zurück zur Natur!“ Eine große, ja überschwäng- liche Begeisterung für das Landleben ergriff die Leute. Auch Pestalozzi teilte dieselbe. Er erlernte bei dem berühmten Bauer Tschif- feli in Kirchberg bei Bern die Landwirtschaft. Dann erwarb er auf dem Birrfelde bei Brugg ein großes Stück unbebauten Landes und errichtete darauf seinen Neuhof. Zu dieser Zeit vermählte er sich mit Anna Schultheß von Zürich, einer schönen, wohlhabenden und gleichgesinnten Frau. Auf dem Neuhof, seiner zweiten Heimat, verlebte Pestalozzi fast dreißig Jahre. Doch winkte ihm kein Erfolg. Das Gut war zu groß und zu teuer, der Boden unfruchtbar. Trotz allen Fleißes ging die Gutswirtschaft bald rückwärts. Pestalozzi war kein Geschäftsmann; er dachte zu wenig an sich und zu viel an andere. Er verwirklichte einen längst gehegten Wunsch, indem er den Neuhof in eine Erziehungsanstalt für verwahrloste Bettelkinder umwandelte. Mit der praktischen Tätigkeit sollte der Unterricht im Sprechen, Rechnen, Lesen und Schreiben Hand in Hand gehen. Aber bald war Pestalozzi gezwungen, die Hilfe seiner Freunde in Anspruch zu nehmen. Dennoch mußte 1780 die segensreiche Anstalt aufgelöst und die Kinderschar wieder ins Elend gestoßen werden. Das Vermögen Pestalozzis und seiner Frau war verloren. Pestalozzi war nun ein verachteter, verlassener und armer Mann. Aber gerade sein eigenes Elend ließ ihn das Elend des Volkes noch besser erkennen, und seine Menschenliebe trieb ihn zum Kampfe. Er wurde Schriftsteller und Zeitungsschreiber. Seine Dorfgeschichte „Lienhard und Gertrud“ machte ihn mit einem Schlage zum berühmten Manne. In diesem Romane zeigt er, wie durch eine tiefgreifende Verbesserung der häuslichen und öffentlichen Erziehung eine verkommene Dorfschaft zu Wohlstand und Bildung geführt wird. In allen Schriften trat Pestalozzi mit ganzer Seele für die Armen und Gedrückten, für Volkswohl und Volksbildung ein. Die französische Nationalversammlung ernannte ihn deshalb neben Washington und 184 Schiller zum Ehrenbürger. Bei den Strenggläubigen seiner Zeit galt er zwar als ein irreligiöser Mensch. Aber sein Zeitgenosse, der berühmte Pfarrer Lavater, urteilte gerechter: „Einen besseren Jünger hatte Christus selbst bei seinen Lebzeiten nicht. In ihm ist der Geist des Erlösers durch und durch in Gesinnung, Wort und Tat verherrlicht.“ Pestalozzi strebte darnach, seine Gedanken über Erziehung in einer Schule zu verwirklichen. Er gab sich alle erdenkliche Mühe, als Erzieher oder Schulbeamter eine Stelle zu erhalten. Vergebens; er war ja ein Gegner des Aristokratentums und ein eifriger Für- sprecher des freien Volksstaates. Da brach in Frankreich der alte Staat zusammen. Die Freiheitsfreunde aller Völker jubelten über den Anbruch einer neuen Zeit. Die große Umwälzung verbreitete sich über ganz Westeuropa. Nun wurde auch Pestalozzi zu Ehren gezogen. Im Auftrage des Ministers 8tapfer eilte er nach Stans, um die Leitung der Waisenanstalt zu übernehmen. Die Aufgabe war ungemein schwer. Es gehörte der Mut eines Helden dazu, die verwahrlosten, verwilderten und vorn Elend erdrückten Kinder des unglücklichen Nidwaldens dem Verderben zu entreißen. Vorn Morgen bis zum Abend stand er in der Mitte seiner Kinder. Er wusch und kämmte, speiste und tränkte sie; er arbeitete mit ihnen, lehrte und erzog sie. Er war ihnen alles, Lehrer, Vater und Mutter. Seine Hand lag in ihrer Hand, sein Auge ruhte auf ihrem Auge, seine Tränen flössen mit den ihrigen und sein Lächeln begleitete das ihrige. Waren sie gesund, so befand er sich in ihrer Mitte; waren sie krank, so stand er an ihrer Seite. Als nach sechs Monaten die Anstalt des zweiten Koalitionskrieges wegen geschlossen wurde, da hustete Pestalozzi Blut und mußte zur Erholung in ein Bad gehen. Und doch empfand er seinen Aufenthalt in Stans als die schönste Zeit seines Lebens; sie hatte ihn zu einer naturgemäßen, anschaulichen und entwickelnden Lehrmethode geführt. Die Staatsmänner der Hel- vetik ermöglichten ihm, diese Versuche an den Schulen von Burg- dorf fortzusetzen; Stapler förderte auch den Druck seiner Lehrbücher. In Verbindung mit andern Lehrern gründete Pestalozzi auf dem Schlosse zu Burgdorf eine Erziehungsanstalt, die in kurzer Zeit mächtig aufblühte. Da die Berner Regierung der Anstalt nicht günstig gesinnt war, verlegte er sie nach Münchenbuchsee und kurze Zeit nachher nach dem Schlosse Yverdon, das ihm die Waadtländer Patrioten zur Verfügung stellten. 185 Pestalozzis neue Lehrart erregte solches Aufsehen, daß aus dem In- und Auslande Lehrer und Erzieher sich bei ihm einfanden, um selber zu lernen oder sich ihm als Mitarbeiter anzuschließen, und Yverdon wurde ein Wallfahrtsort für begeisterte Volkserzieher. 1810 stand die Anstalt in höchster Blüte. Dann ging sie abwärts. Mit ihren 200 Schülern und den vielen Lehrern war sie zu einem Koloß geworden; eine Buchdruckerei und eine Buchhandlung belasteten das Unternehmen; die Lehrer wurden unter sich und mit Pestalozzi uneins, und dieser selbst war als Regent zu schwach; ihm fehlte die starke Hand. Als gar noch seine Frau, die immer versöhnend und ausgleichend gewirkt hatte, starb, war das Schicksal der Anstalt besiegelt. 1824 wurde sie von Pestalozzi mit schwerem Herzen aufgehoben, und im folgenden Jahre zog er sich zu seinem Enkel auf den Neuhof zurück. Hier verbrachte er den Rest seines Lebens und starb 1827 im Alter von 81 Jahren. Beim Schulhause zu Birr wurde er begraben; Lehrer trugen seinen Sarg, und die Schüler von Birr sangen ihm den Abschiedsgruß. Zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages widmete der Kanton Aargau dem großen Toten folgende Grabschrift: Heinrich Pestalozzi, Retter der Armen auf Neuhof, in Staus Vater der Waisen, in Burgdorf und Münchenbuchsee Gründer der Volksschule, in Yverdon Erzieher der Menschheit. Mensch, Christ, Bürger. Alles für andere, für sich nichts. Nach Robert Seidel u. a. 79. Der Usterfag (22. Nov. 1830). Ein heiterer Morgen begrüßt den 22. Klar und hell scheint die Novembersonne, als wollte auch sie zum - großen Volkstage einladen. Mit dem Morgengrauen treffen die Stäfner in Uster ein. Leute aus der Umgegend gesellen sich zu ihnen, dann kommen andere vorn See und von Pfäffikon her. Gegen 9 Uhr wimmeln alle Straßen, die nach Uster führten, von Fuhrwerken und Fußgängern. Vorn Kirchtürme sieht man lange Züge, die sich wie Ameisen von den hellen, sonnigen Flächen abheben. An einem Fenster seines Schlosses zu Greifensee steht der gestrenge Herr Oberamtmann; „Herr Landvogt“ nennt ihn das Volk. Vor wenigen Tagen noch hat ihm die Regierung Warnungen zukommen lassen und von ihm einen Bericht über die Umtriebe unter dem Landvolke verlangt —• jetzt ziehen endlose Scharen von Landleuten aus dem Glatt- und Linnnat- 186 tal an seinen Augen vorüber, nicht zur Huldigung, nein zum Trotz. Zu befürchten hat er wohl nichts. Die Leute sind nicht bewaffnet, sein Schloß ist wohlverwahrt; er hat auch einige Mörser zur Verfügung, und in der Stadt hat man sich ebenfalls vorgesehen. Endlich werden die Züge lichter; nur noch wenige Verspätete streben eilig dem Flecken zu. In den Straßen von Ester wogt das Volk auf und ab. Vor Gast- und Bauernhäusern sind unzählige Wägelchen; Pferde, die in den Ställen nicht mehr Platz finden, stehen an Pflöcke gebunden und fressen ihren Hafer. Man könnte denken, es sei Jahrmarkt; doch fehlen Buden und Stände, und die Menge besteht fast nur aus Männern jeden Alters. Ein wetterhartes, in Kriegs- und Teuerungsjahren herangewachsenes Geschlecht. — Aus dem „Sternen“ treten just einige Männer, die keine Bauern sein können. Es sind Winterthurer. Der kleine Mann mit dem originellen Kopf und dem struppigem Haar ist der Rektor der Stadtschulen, Troll; ihn begleiten der wackere Lehrer Heller und Fabrikant Rieter; vorn Stadtrat ist Bürzel anwesend. Noch am Abend vorher haben sie es durchgesetzt, daß sich Winterthur auf die Seite des Landvolkes stellte, und jetzt sind sie gekommen und haben andere mitgebracht. Freudig werden sie willkommen geheißen. Von der Kirche hallen volle Glockentöne ins Land hinaus. Alles strömt dem Gotteshause zu; aber bald flutet die Menge zurück und strebt nach dem „Zimiker“. Auf dem breiten Rücken dieser Anhöhe ist Platz genug. Eine Rednerbühne ist aufgeschlagen; um sie gruppieren sich die Scharen. In der freien Natur, im Angesicht der schönen Alpenkette, die uns Schweizern immer ein Symbol der Freiheit ist, unter dem Ge- zelt des Himmels tagt das Volk. Mann an Mann stehen sie dicht gedrängt, und auch die Bäume, die den Platz begrenzen, tragen ihr Teil. Jubel und Geschrei tönt durcheinander, dann wird es stille. Von der Rednerbühne herab begrüßt mit weittragender Stimme der angesehenste Mann des Zürcher-Oberlandes, Heinrich Gujer, Müller von Bauma, die Versammlung. Mit schwerem Herzen ist er von Hause fortgegangen. Sein Vater hat ihn noch gewarnt: „Heiri, wenn’s fehlt, chönnt’s dir de Chopf eheste I“; aber jetzt spricht er mutig von der Bedeutung des Tages und den Forderungen, die das Volk an die Regierung stellen will. Lautlos, entblößten Hauptes hören die Männer zu, dann tönt rauschender Beifall durch die 10,000-köpfige Menschenmenge. Nach ihm tritt der Arzt Dr. Hegetschwyler 187 aus Stäfa vor. Sein Name hat guten Klang am See und in der Stadt. „Frei ist der Mensch, ist frei und wär’ er in Ketten geboren“, ruft er und erklärt die Begriffe von wahrer Freiheit und Männerwürde. „In ruhiger Tagung wollen wir unsere Begehren aufstellen, achten wollen wir- die Schranken der Mäßigung, und die Regierung wird und muß unsere Forderungen erfüllen, und das Volk wird der Freiheit würdig sein.“ — Nachdem auch der Beifall zu dieser Rede verrauscht ist, beginnt St es f an von Wädenswil zu sprechen. Er ist Direktor einer Fabrik in Ester. Mit mächtiger Stimme verliest er den Entwurf der Eingabe, die an die Regierung abgehen soll, und fragt das Volk nach weitem Begehren. Die Wünsche fliegen von allen Seiten nach der Rednerbühne. „Der Zunftzwang soll aufgehoben werden“! rufen Handwerker vorn See. „Zehnten weg“ I tönen Stimmen aus Bülach und dem Unterland. „Bessere Schulen und Verkehrswege“ 1 verlangen Vertreter des äußeren Kantonsteiles. „Zeis abe!“ und „Zeis abe“! tönt es von Leuten aus dem Oberland, und von allen Seiten hallt es „Bravo! Zeis abe“! und „Webmaschinen weg“! rufen wieder Oberländer, und das ganze Tößtal, die Leute von Pfäffikon, Ester und Hinwil stimmen in den Ruf ein. Steffan nimmt die Wünsche entgegen. „Au dem mueß ghulfe sy“, antwortet er. Endlich schließt Steffan seine lebhaften Auseinandersetzungen. — Schon einigemal haben ihn die Mitglieder des Aus- schusses, die mit ihm auf der Rednerbühne stehen, am Rockzipfel gezupft, damit er sich nicht vergesse, und nun hat er den Wink verstanden und ist zum Schlüsse gekommen. In gehobener Stimmung zerstreut sich das Volk. Es hat über sein Wohl und Wehe sprechen hören, wie noch nie gesprochen worden ist, und frohen Sinnes geht es der Heimat zu und einer bessern Zukunft entgegen. — Das Volk hatte das Schwert gezeigt und sich gemäßigt. Es sollte durch Bildung zur Freiheit kommen. Nach Dändliker und Rob.Weber. 80. Dufours Armeebefehl vorn 22. November 1847. Eidgenössische Wehrmänner! Ihr werdet in den Kanton Luzern einrücken. Wie Ihr die Grenzen überschreitet, so laßt Euern Groll zurück und denkt nur an die Erfüllung der Pflichten," welche das Vaterland Euch auferlegt. Zieht dem Feinde kühn entgegen, schlagt Euch tapfer und 188 steht zu Eurer Fahne bis zum letzten Blutstropfen! Sobald aber der Sieg für uns entschieden ist, so vergesset jedes Bachegefühl, betragt Euch wie großmütige Krieger; denn dadurch beweist Ihr Eueren wahren Mut. Tut unter allen Umständen, was ich Euch schon oft empfohlen habe. Achtet die Kirchen und alle Gebäude, welche dem Gottesdienste geweiht sind! Nichts befleckt Eure Fahne mehr als Beleidigungen gegen die Religion. Nehmt alle Wehrlosen unter Euren Schutz; gebt nicht zu, daß dieselben beleidigt oder gar mißhandelt werden. Zerstört nichts ohne Not, verschleudert nichts; mit einem Worte, betragt Euch so, daß Ihr Euch stets des Namens, den Ihr traget, würdig zeigt. Der Oberbefehlshaber: W. H. Dufour. Öchsli, Quellenbuch, 81. Aus dem Leben Jonas Furrers. „Am 3. März 1805 wurde ich in Winterthur in bescheidenen, bürgerlichen Regionen geboren; denn mein Vater war ein Schlosser von altem Schrot und Korn. Es geschah erst im achten Jahre der Ehe meiner Eltern; auch war und blieb ich der einzige Sohn derselben. Diese Umstände werden es erklären, daß keinerlei Druck, keine Härte und Widerwärtigkeit den heitern Lenz meines Lebens störte. Denn meine Eltern waren äußerst gutmütig und so begreift sich, daß ich so ziemlich ein Freiherr im Hause war; ich konnte fast alles tun und lassen, was mir beliebte und alles wurde mir gewährt, was die ökonomischen Kräfte meiner Eltern nicht überschritt; auch erinnere ich mich nicht, jemals tüchtige Schläge bekommen zu haben. Bei dieser Erziehungsmethode hätte ich freilich der größte Schlingel werden können. Allein meine Eltern führten einen exemplarischen Lebenswandel. Redlichkeit, Eintracht, Häuslichkeit und ein wahrer religiöser Sinn, ferne von jeder gleißnerischen Frömmigkeit, waren da zu Hause, und weil die Schule auch das ihrige tat, so blieb ich stets auf dem rechten Wege.“ Der wolkenlos heitere Himmel des Elternhauses begleitete den Knaben auch durch seine Schulzeit. Furrer sagt von den Schulen seiner Vaterstadt: „Winterthur hat von jeher im Verhältnis der Bestrebungen der Zeit sehr viel für die Schulen getan.“ Er verdankte ihnen seine ganze Laufbahn. Mit grosser Verehrung spricht Furrer von seinem Hauptlehrer, Rektor Konrad Troll, einem Schüler Pestalozzis. 189 In der Philologie trieb er ihn tüchtig herum, und er lernte viel von ihm; denn „Troll vereinigte mit tiefer Sachkenntnis ein großes Lehrtalent und handhabte ohne „Holz“ eine treffliche Disziplin.“ Jonas war ein blasser, schmächtiger Knabe mit schwarzem Haar und dunkelblitzenden Augen. Seine zarte Konstitution verursachte der liebenden Mutter viel Sorge und Kummer; denn sie fühlte gleichsam die Zukunft voraus, und ihr Gefühl war richtig. Ihr Sohn war in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens meist krank, und doch hat er in dieser Zeit ein großes, schönes Werk verrichtet: den staatlichen Aufbau der verjüngten Eidgenossenschaft. — Jonas hatte nicht nur das Glück, vorzügliche Eltern, sondern auch einen Lehrer zu besitzen, der ihm ein zweiter Vater war. Rektor Troll sah mit Freude d